Rezension über:

Hilmar Tilgner: Lesegesellschaften an Mosel und Mittelrhein im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Aufklärung im Kurfürstentum Trier (= Geschichtliche Landeskunde; Bd. 52), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 546 S., 19 Tab., ISBN 978-3-515-06945-8, DM 144,73
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Rezension von:
Robert Seidel
Germanistisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Robert Seidel: Rezension von: Hilmar Tilgner: Lesegesellschaften an Mosel und Mittelrhein im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Aufklärung im Kurfürstentum Trier, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 1 [15.01.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/01/2927.html


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Hilmar Tilgner: Lesegesellschaften an Mosel und Mittelrhein im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus

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Von dem gegenwärtigen Interesse der historischen Wissenschaften am Sozietätswesen der Aufklärungszeit profitiert insbesondere die Erforschung der Lesegesellschaften, einerseits deswegen, weil hier bereits die sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft wichtige Beiträge geliefert hat (zu denken ist vor allem an die grundlegende Monographie von Marlies Prüsener aus dem Jahre 1972 und die daran anschließenden Studien), zum anderen wegen der auf diesem Felde zu erwartenden Aufschlüsse über das 'Funktionieren' des Aufklärungsprozesses, der ja durch das Zusammenwirken von Lektüre und Kommunikation maßgeblich gesteuert wurde. Die Frage ist nun freilich, wozu die monographische Aufarbeitung eines sehr beschränkten Untersuchungsfeldes, der beiden im Kurfürstentum Trier zwischen 1782 und 1793 existierenden Lesegesellschaften nämlich, auf mehr als 500 eng bedruckten Seiten gut sein soll, zumal es nicht nur typologische Studien, sondern auch Einzelanalysen vergleichbarer Unternehmen in anderen Territorien bereits in größerer Anzahl gibt (3-5). Zur Rechtfertigung ließe sich ein gewisser Nachholbedarf im Bereich der - inzwischen allerdings auch schon näher erforschten - katholischen Aufklärung anführen oder, wie der Verfasser es tut, auf die außergewöhnlich günstige Quellenlage im Fall der Trierer Lesegesellschaft hinweisen (8). Entscheidend ist indessen für Tilgner das Bemühen, gegenüber "lese- und leserhistorischen" und "emanzipationstheoretischen" Ansätzen "einen positionsanalytischen Ansatz [zu verfolgen], der sich mit der Lesegesellschaft als Institution des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinandersetzt und sie als Bewegungszentrum und Kristallisationspunkt der Aufklärung 'vor Ort' zu fassen sucht" (5).

Es soll hier nicht gefragt werden, ob der Autor mit der eigenwilligen Wortprägung auch eine originelle Methode gewählt hat, was eher nicht der Fall zu sein scheint, da die neueren Forschungen zu Formen und Funktionen der Geselligkeit im 18. Jahrhundert zunehmend auf empirischer Grundlage die funktionalen Aspekte von 'Aufklärung', mithin die Motive und Strategien der miteinander kommunizierenden und konkurrierenden Eliten im spätabsolutistischen Territorialstaat, unter die Lupe nehmen. Eine die Brauchbarkeit der imposant erscheinenden Arbeit untersuchende Kritik hat vielmehr zu klären, ob es dem Verfasser gelingt, die Mechanismen aufklärerischer (beziehungsweise gegenaufklärerischer) Prozesse im Zusammenspiel der beteiligten Interessengruppen exemplarisch und in den Details plausibel herauszuarbeiten, ob die Aufarbeitung des Materials auch anderen Zwecken dienstbar gemacht werden, die Studie somit (6) als regionalhistorisches Kompendium genutzt werden kann und ob die Form der Darstellung zu einer kursorischen, allgemeine Orientierung wie spezielle Recherche ermöglichenden Lektüre einlädt.

Die Anlage der Studie, die sich nach einer kurzen Einleitung (1-11) weitgehend auf die Analyse der Trierer Lesegesellschaft konzentriert (12-325 und Dokumentenanhang 398-448) und das weniger gut dokumentierte Koblenzer Parallelunternehmen nur zur "Abrundung des Gesamtbildes" (9) heranzieht (326-382, 449-456), zielt auf eine problemorientierte, dabei zugleich nach Möglichkeit chronologisch vorgehende Untersuchung des Hauptgegenstandes in 10 Einzelkapiteln. Nach einleitenden Bemerkungen zur Etablierung und Zielsetzung der Gesellschaft werden Mitgliederstruktur und Zuwahlverfahren analysiert, wobei sich im Grunde bereits der entscheidende Befund der gesamten Untersuchung abzeichnet, dass nämlich die regionalen Funktionseliten die Lesegesellschaft als Diskussions- und (inoffizielles) Entscheidungsgremium in zentralen Fragen der Kulturpolitik nutzten. So erklärt es sich etwa, dass einerseits hohe Mitgliedsbeiträge die soziale Abgrenzung "nach unten" gewährleisten sollten, andererseits jedoch die Lehrer der höheren Schulen, obgleich sie über relativ spärliche finanzielle Mittel verfügten, in die Gesellschaft hineingezogen wurden, weil man sie für die Umsetzung der bildungspolitischen Reformansätze benötigte, die von Gesellschaftsmitgliedern, die der Schulkommission und anderen Entscheidungsgremien angehörten, ausgearbeitet wurden (96).

Insgesamt überrascht es nicht, dass die führenden Köpfe der Lesegesellschaft zumindest in den Anfangsjahren die hochadligen Domkapitulare waren, die aufgrund ihrer Nähe zum Kurfürsten (156), ihrer Kontakte innerhalb der geistlichen Territorien (102), ihrer führenden Positionen im Kirchen- und Schulwesen (48 zu Johann Friedrich Hugo von Dalberg) sowie ihrer materiellen Unabhängigkeit (Pfründen, 43) eine selbstverständliche Autorität auch im Rahmen der - im Prinzip - egalitären Strukturen des Gesellschaftslebens besaßen. Etwas problematisch erscheint hingegen die schnelle Kategorisierung von bestimmten Individuen als "Aufklärer", wenn es beispielsweise heißt, in der Lesegesellschaft seien "unter den 19 Universitätsprofessoren und Lehrenden des Priesterseminars mindestens 16 Personen, die teils als dezidierte, teils als gemäßigte Aufklärer anzusprechen sind" (79). Tatsächlich versucht Tilgner in der prosopographisch angelegten Analyse dieser Personengruppe (58-79) jeweils die 'aufklärerischen' Elemente aus den biographischen Daten herauszufiltern, wobei so heterogene Kriterien wie ein Studium in Göttingen, Sympathie für die Französische Revolution, die Auseinandersetzung mit den Schriften Kants, das Unterrichten in deutscher Sprache, das experimentelle Verfahren in den Naturwissenschaften, ein rationalistischer Ansatz in der Theologie und so weiter angeführt werden. Zwar ergibt sich hieraus ein recht plastisches Bild von der intellektuellen Regsamkeit der Gesellschaftsmitglieder, ein wissenschaftlich exakter Maßstab für die 'Qualität' aufklärerischer Bestrebungen wird jedoch nicht geboten. Es wäre vielleicht nicht ungeschickt gewesen, anhand des vorliegenden Materials eine modifizierte Typologie 'des Aufklärers' zu erarbeiten, die etwa zwischen wie auch immer bezeugten 'Positionen' und tatsächlichem öffentlichen Handeln unterschieden hätte.

Die zentralen Kapitel der Studie untersuchen die Außenkontakte der Gesellschaftsmitglieder etwa zu den Illuminaten (hier ist das von Holger Zaunstöck entwickelte Kriterium der 'Mehrfachmitgliedschaft' zum Ausweis kommunikativer Autorität anzuwenden, 108f.), die Dichotomie von "demokratische[r] Selbstverwaltung" (123) mit "herrschaftsfreie[r] Kommunikation" (132) auf der einen Seite und dem Amt des Direktors als "Institution der Selbstzensur" (155) auf der anderen Seite, die Funktion der Lesegesellschaft als "politisches Informationszentrum" (235) sowie die Integration von auswärtigen Gästen. Den Anschluss an literatur- und buchwissenschaftliche Forschungstraditionen stellt das große Kapitel "Bibliothek und Ausleihe" (162-234) dar, in dem aufgrund des - neben anderen Dokumenten - überlieferten Ausleihbuches der gesellschaftseigenen Bibliothek ("Für keine andere deutsche Lesegesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist - soweit ich sehe - ein solches Dokument erhalten", 208) dokumentiert werden kann, "welche Texte wirklich rezipiert wurden". Die präzise Analyse von Beständen einerseits (gegliedert nach sachlichen und textsortenspezifischen Kriterien) und Ausleihverhalten (gegliedert zusätzlich nach sozialer Stellung der Ausleiher) andererseits führt zu einigen wichtigen Befunden, die das 'Funktionieren' aufklärerischer Kommunikation in der Region näher beleuchten. So wurden etwa die in die Gesellschaft aufgenommenen Lehrer von der Schulkommission (deren Mitglieder gleichfalls der Gesellschaft angehörten) dazu angehalten, bestimmte Werke aus der Bibliothek für ihre Unterrichtsvorbereitung zu nutzen (196f.) - ein Musterbeispiel für eine 'Dialektik der Aufklärung', die mit der Bereitstellung von Wissen zugleich Normen setzt.

Die Schlusskapitel des Hauptteils knüpfen an die zuvor gesammelten Beobachtungen zum Verhältnis von Lesegesellschaft und Staatsmacht an und dokumentieren die allmähliche Wandlung des "herrschaftsstabilisierende[n]" (385) Instituts zur oppositionellen Gruppierung. Während bis zum Jahr 1789 "sich die Lesegesellschaft in voller Übereinstimmung mit dem absolutistischen Staat befand und keine unmittelbar politischen, gesellschaftsverändernden Ziele verfolgte" (295), gab es seit der Französischen Revolution zunehmend Spannungen im Zusammenhang mit dem Bezug angeblich revolutionärer Schriften und der so genannten 'Emigrantenfrage'. Dabei ist bemerkenswert, dass nur vereinzelt aus den Kreisen der Gesellschaft dezidiert Sympathie mit den Revolutionären bezeugt wurde, vielmehr entstanden die Konflikte aufgrund elementarer Eigeninteressen (Kriegsfurcht aufgrund der Unterstützung des Kurfürsten für die Emigranten, 304) und des postulierten Rechtes mündiger Bürger auf unbeschränkte Information ("Dass wir in Trier nicht erfahren, was in der Welt vorgeht", 406, Reaktion eines Mitgliedes auf die Aufhebungsverfügung) und gesellige Kommunikation ("durch die nuzlichste, ehrbarste und angenehmste [Weise] Erholung sich zu verschaffen",406). Doch bereits die Diskussionen innerhalb der Gesellschaft galten in der angespannten Situation als Risiko für die öffentliche Sicherheit, und die ursprünglich vom Kurfürsten als "der Aufklärung beförderlich" (398) qualifizierte Institution wurde in dem Augenblick als "kleine[r] Club verwegener Staatsdiener" (390) verfolgt und schließlich verboten, da der genuine Anspruch der Aufklärung, die Bürger zu selbständigem Urteil zu erziehen, als destabilisierend für die staatliche Ordnung eingestuft wurde.

Tilgner gelingt es im Ganzen sehr gut, die Realisation 'aufklärerischer' Ansprüche auf Seiten der kurtrierischen Funktionseliten zu dokumentieren und dabei einige Vorurteile im konkreten Fall zu widerlegen. Selbstverständlich war 'die Aufklärung' mit ihren Institutionen keine ausschließlich bürgerliche Bewegung (397), vielmehr arbeiteten ständischer Adel, Amtsadel, bürgerliche Staatsdiener und städtische Honoratioren an der Gestaltung, vielfach auch an der Reform des absolutistischen Staates mit. Nachdem das 16. und 17. Jahrhundert die akademisch gestützte Professionalisierung der fürstenstaatlichen Verwaltung gebracht hatte, ging es jetzt darum, die 'arcana status' einer öffentlichen Diskussion (wenn auch durch Kautelen wie die Ausgrenzung der Mittel- und Unterschichten begrenzt) zugänglich zu machen und auf der Grundlage diskursiver Auseinandersetzungen die Effizienz der staatlichen Organe, ganz grundsätzlich also die "Herrschaftsrationalität" (385) zu steigern. Dass dabei freilich auch Gruppen- und Einzelinteressen eine Rolle spielten und beispielsweise der Eintritt in eine Lesegesellschaft auch als karrierefördernde Maßnahme gesehen werden kann, wird in der Untersuchung Tilgners nicht systematisch belegt, lässt sich aber zwischen den Zeilen herauslesen.

Die Studie ist durch ein Orts- und Personenregister erschlossen und gibt in dem Abschnitt "Analyse der Einzelmitglieder" (43-94) sowie im vollständigen Mitgliederverzeichnis (413-448; jeweils nur für die Trierer Gesellschaft) aufschlussreiche Kurzporträts der wichtigsten handelnden Figuren. Dadurch und durch das untersuchungsbedingte Aufgreifen regionaler Ereignisse - etwa im Zusammenhang mit dem Verbot der Gesellschaft - gewinnt sie den Charakter eines territorialgeschichtlichen Kompendiums für die Jahre vor und nach der Französischen Revolution.

Eine kursorische Lektüre des Bandes ist aufgrund der oftmals zwischengeschalteten Teilergebnisse, der Ausgliederung zahlreicher Details in Fußnoten und Tabellen sowie der ausgezeichneten Zusammenfassung am Schluss (383-397) gut möglich, der Stil ist unprätentiös, die Sprache klar und verständlich. Druckfehler und sonstige Nachlässigkeiten sind kaum zu beanstanden, der Rezensent störte sich einzig an der mehrfachen Verwendung der unschönen (zeitgenössischen?) Bezeichnung "Lese" für "Lesegesellschaft" und des anachronistischen Begriffs der "Seilschaft" - zumal in Fällen, wo von einem abgesprochenen Zusammenwirken der Funktionsträger zum unbestreitbaren Besten des Gemeinwesens die Rede ist! Für seine geschichtswissenschaftliche Dissertation (Mainz 1995) hat Hilmar Tilgner den Preis der Universität erhalten. Diese Auszeichnung ist durchaus verdient.

Robert Seidel