Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München: C.H.Beck 2001, 253 S., ISBN 978-3-406-45956-6, DM 24,90
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Geht es um "Vergangenheitsbewältigung", scheiden sich die Geister, treffen doch in der öffentlichen Diskussion schnell zwei kontroverse Deutungen aufeinander. Beklagt die eine die unzureichende Beschäftigung mit dem Erbe des Nationalsozialismus und spricht bisweilen sogar, wie etwa Ralph Giordano in seiner 1981 erschienenen gleichnamigen Streitschrift, von einer "zweiten Schuld", weist die andere darauf hin, dass die Bundesrepublik sich mit dem Erbe des Dritten Reiches im Großen und Ganzen kritisch auseinandergesetzt habe. Angesichts dieser unübersichtlichen, mitunter heftig geführten gesellschaftlichen Debatte über Verdrängung und Erinnerung, die immer auch eine Debatte über den Zustand der Republik ist und sich in einer Fülle von Streitschriften, Erfahrungsberichten, Essays, Reden und anderem mehr niedergeschlagen hat, tut sich die auf Distanz und abwägende Reflexion bedachte wissenschaftliche Beschäftigung schwer, ist sie selbst oft nicht frei von politischen Vorurteilen.
Überraschend ist, dass die Erforschung dieses Aspektes der deutschen Nachkriegsgeschichte bislang noch nicht sehr weit gediehen ist, auch wenn eine Reihe von neueren Monografien sich um eine gründlichere Bearbeitung der Thematik bemühen. So kommt - um nur diese Beispiele zu nennen - Norbert Frei in seiner Studie "Vergangenheitspolitik" (1996) zu einer sehr kritischen Einschätzung der bundesrepublikanischen Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus, während Manfred Kittel in seiner Darstellung "Die Legende von der 'Zweiten Schuld'" (1993) vehement Ralph Giordanos Verdikt zu entkräften sucht. Peter Reichels Buch "Vergangenheitsbewältigung in Deutschland", das eben diese "zweite Geschichte des Nationalsozialismus" im Überblick darstellen will, weckt angesichts dieser Situation Neugier und Interesse.
Zunächst wird man allerdings enttäuscht, handelt es hierbei nicht, wie der Titel nahe legt, um eine Gesamtdarstellung, sondern es geht lediglich um die "politisch-justitielle Auseinandersetzung mit den Folgen der Hitler-Diktatur", während die "Erinnerungs- oder Memorialkultur", die "ästhetische Kultur" und die "wissenschaftliche Auseinandersetzung" ausdrücklich nicht thematisiert werden (9). Abgesehen davon, ob diese vier "Handlungsfelder" den Gesamtbereich der so genannten "Vergangenheitsbewältigung" adäquat zu erfassen in der Lage sind, und abgesehen davon, ob dieser Ende der 1950er-Jahre aufkommende Begriff aus der publizistischen Auseinandersetzung als wissenschaftliche Bezeichnung tauglich ist, ist eine solche Selbstbeschränkung angesichts des begrenzten Umfangs fast unumgänglich.
Im ersten von insgesamt zehn Kapiteln unterscheidet Reichel, über die deutsche Auseinandersetzung nach 1945 hinausgehend, zunächst sieben "Stile des Erbens und der Umgang mit Schuld" nach dem Ende von Diktaturen (23ff.); chronologische und systematische Darstellung verbindend, behandelt er sodann die einzelnen Aspekte von der "Entnazifizierung" (Kapitel 2) bis zu den "Verjährungsdebatten des Bundestages" (Kapitel 9), von den "Nürnberger Prozessen" (Kapitel 3) bis zum "Auschwitz-Prozess" (Kapitel 8), von der "Wiedergutmachung" und der aktuellen Zwangsarbeiterentschädigung (Kapitel 4) bis zum skandalträchtigen "Antisemitismus" (Kapitel 7) und vom "Remer-Prozess" (Kapitel 5) bis zur "Bewältigung der Vergangenheitsbewältigung" in Form von Amnestiebestrebungen (Kapitel 6), um in einem "Schlusswort" über "Erinnern und Gedenken" (Kapitel 10) in der Gegenwart zu reflektieren. Die flüssig geschriebene Darstellung zeugt von Sachkenntnis und Problembewusstsein und vermittelt einen klaren Überblick über diesen diffizilen Aspekt der so genannten "Vergangenheitsbewältigung". Auch wenn die bundesrepublikanischen Verhältnisse im Mittelpunkt stehen, bemüht sich Reichel dabei unter Einbeziehung der Entwicklung in der DDR um eine gesamtdeutsche Perspektive (13ff.).
Zu Recht wendet er sich gegen den zählebigen Mythos, die 1950er-Jahre seien eine Phase des Verschweigens und Verdrängens gewesen; vielmehr zeigt er etwa am Beispiel des Remer-Prozesses, der Diskussion um eine Amnestierung der Kriegsverbrecher und der Debatte um anstehende Entschädigungsregelungen, dass diese Jahre "sehr viel widersprüchlicher, ereignis- und ergebnisreicher waren" als gemeinhin behauptet (10; 138f.). Gleichwohl weist Reichel auf das schon im Nürnberger Prozess angelegte Problem hin, die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen als Begleiterscheinung einer kriminellen Kriegsführung zu betrachten, was deren juristische Ahndung behinderte, da sich die Bundesrepublik nicht dazu durchringen konnte, den traditionellen Bahnen des Strafrechts mit dem Rückgriff auf überkommene Delikte wie Mord und Totschlag, mit der individuellen Zurechenbarkeit von einzelnen Taten und mit dem Rückwirkungsverbot neue hinzuzufügen. Allerdings gesteht Reichel gerade den Richtern und Staatsanwälten in den großen Prozessen zu, "zur Aufklärung über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und - juristisch gesprochen - zur Generalprävention Bemerkenswertes geleistet" zu haben (195).
Die damit einhergehende Kritik an Historikern und an Politikern, denen er immerhin bei der Verjährungsdebatte von 1969 eine parlamentarische "Sternstunde" konzediert (188ff.), verdeutlicht den legitimen Wertungshorizont des Autors, macht aber auch die Begrenzung der Darstellung bewusst. Zum einen blendet Reichel bestimmte Politikfelder wie etwa die Bildungspolitik aus, die spätestens nach der Kölner Synagogenschändung in der Weihnachtsnacht 1959 in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle spielte.
Zum anderen weitet er selbst seine Darstellung an manchen Stellen über den engeren Bereich von Politik und Recht aus, wenn er sich etwa auf die von Karl Jaspers wirkungsvoll aufgeworfene "Schuldfrage" bezieht (47), mentalitätsgeschichtliche Fragen der "Schulakzeptanz und Opferbewusstsein" anspricht (66ff.), auf Mediendarstellungen verweist (149f.) oder gerade im Schlussteil einen Blick auf die in seinem Buch "Politik mit der Erinnerung" (1995) ausführlich und erhellend gewürdigte Erinnerungslandschaft wirft. Daran wird erkennbar, wie sehr die "Vergangenheitsbewältigung" ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt. Gerade die noch nicht sehr weit gediehene wissenschaftliche Analyse der vielfältigen Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wie etwa der schulischen, filmischen, journalistischen, rhetorischen, literarischen oder musikalischen könnte dann deutlich machen, in welchem zeitgenössischem Horizont eine Beschäftigung mit dem NS-Erbe jeweils erfolgte.
So kann man Reichels Aussage, dass die Dämonisierung Hitlers schuldentlastende Wirkung hatte und "hinderlich" für eine "nachhaltige Wirkung der Nürnberger Prozesse" gewesen sei, zustimmen; man kann allerdings in Frage stellen, ob darin "die zuvor nach außen gewendete, völkisch-aggressive Wir-Ihr-Unterscheidung" weiterwirkte (67); und man könnte überlegen, ob nicht nur auf eine solche - vielleicht unvollkommene - Weise eine Auseinandersetzung überhaupt möglich war.
Im Rahmen dieser vielfältig verflochtenen Thematik, die noch einer gründlichen detaillierten Erforschung bedarf, bevor eine Gesamtdarstellung möglich erscheint, bietet Peter Reichel einen verlässlichen Überblick über den Teilbereich der politischen und juristischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und leistet, da das Buch sich auch an einen breiteren Leserkreis wendet, einen Beitrag zur Versachlichung der mitunter heftig geführten öffentlichen Debatte um die "Vergangenheitsbewältigung".
Ulrich Baumgärtner