Barbara Stollberg-Rilinger: Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches (= Historische Forschungen; 64), Berlin: Duncker & Humblot 1999, VIII + 370 S., ISBN 978-3-428-09470-7, DM 158,00
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Dieses Buch verfolgt eine aufklärende Mission im besten Sinne, indem es "Vorurteile" zu überwinden sucht. Einleitend beschreibt es verschiedene Interpretationen landständischer Repräsentation, die zunächst von politischen Akteuren und dann auch von den historischen Wissenschaften in den vergangenen zweihundert Jahren formuliert wurden. Dieses Interesse an den Landständen in den Territorien des Alten Reichs war seit der Epochenschwelle von 1789/1815 überwiegend politisch motiviert. Liberale, Konservative, mit dem nötigen zeitlichen Abstand schließlich auch Demokraten, bedienten sich auf der Suche nach den Wurzeln der eigenen Position der alten Landstände. Historiker - so steht zu vermuten - reihten sich zumeist bereitwillig in die Schar der Stifter von Kontinuität ein, verschaffte dies ihrer Arbeit doch eine öffentliche Aufmerksamkeit, die sie sonst oft missen müssen. Barbara Stollberg-Rilinger zeigt nun, dass solche Traditionsstiftung zwar ihr Ziel verfehlt, gleichwohl durch den überaus schillernden Repräsentations-Begriff erleichtert wird.
Die Autorin stellt den überwiegend von jeweils zeitgebundenen Legitimations-Interessen geleiteten Interpretamenten des 19. und 20. Jahrhunderts die Rekonstruktion zeitgenössischer Konzepte vornehmlich des 18. Jahrhunderts gegenüber und gewinnt daraus eine neue Perspektive, einen "Sehepunkt", von dem aus die lange überfällige Historisierung dieser wichtigen Thematik geleistet wird. Das Vorgehen der Arbeit besteht in der Rekonstruktion des Begriffs von "Repräsentation", wie er sich dem Leser in den maßgeblichen Textgattungen aus der Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Alten Reichs erschließt. Sie folgt dabei Hasso Hofmann, der bereits vor etwa dreißig Jahren die unterschiedlichen Bedeutungsschichten von "Repräsentation" herausgearbeitet hat.
Da es keine zeitgenössische wissenschaftliche Disziplin gab, die sich der landständischen Verfassung exklusiv und erschöpfend gewidmet hätte, sah sich die Autorin genötigt, eine Vielzahl von unterschiedlichen Diskursfeldern daraufhin zu überprüfen, welche Aussagen sie zur Thematik bereithalten. Fündig wurde sie sowohl im Bereich der politischen als auch der juristischen Diskurse. Dass sie die ältere, die Wissensbestände des Aristotelismus verwaltende Politica-Tradition nur am Rande berührt, begründet die Verfasserin damit, dass diese im späten 17. Jahrhundert angesichts der Herausforderung durch die Entwicklungsdynamik des Fürstenstaates abbrach. Dagegen blieben bis ans Ende des Alten Reichs Regimentstraktate von praktischer Bedeutung und wurden deshalb auf das darin aufscheinende Verständnis von "landständischer Repräsentation" hin untersucht.
Die wichtigsten Quellengattungen für die Analyse des zeitgenössischen Repräsentations-Verständnisses entstammen jedoch der Jurisprudenz, namentlich der Reichspublizistik und den Naturrechtstheorien. Die Studie lässt erkennen, wie die Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts einer Tendenz zur Partikularisierung und historischen Positivierung des Staatsrechts Vorschub leistete. Dieser prinzipielle Zug zur Historisierung stützte tendenziell den politischen Status quo und stand damit - angesichts der Dynamik fürstlicher Macht - eher auf Seiten der Stände, ohne jedoch die fürstlichen Prärogativen wirklich einschränken zu wollen. Dagegen wird erkennbar, dass das von den normativen Vorgaben der Lehre vom Naturzustand und vom Gesellschaftsvertrag ausgehende Naturrecht eher geeignet war, staatsrechtlichen Rationalisierungsbemühungen zuzuarbeiten. Zwar bestand auch im Rahmen des Ius publicum universale die Möglichkeit, den Landständen einen theoretisch fundierten Ort zuzugestehen, gleichwohl privilegierte die systematisierende, vom Einzelfall abstrahierende Herangehensweise der Naturrechtslehre die auf Vereinheitlichung des Untertanenverbandes zielenden Bestrebungen der absoluten Fürstengewalt.
Als wichtigstes Ergebnis der Analyse von Reichspublizistik und Naturrechtslehre hält die Verfasserin fest, dass deren Repräsentationsverständis der traditionellen Korporationslehre entlehnt war - mit weitreichenden politischen Implikationen. Es bedeutete nämlich, dass es den Zeitgenossen vor Mitte des 18. Jahrhunderts nicht darum ging, das Verhältnis zwischen Volk und Landständen im Sinne eines politischen Mandats der Repräsentierten an ihre Repräsentanten zu definieren. Dann hätte sich unweigerlich die Frage erhoben, auf welche Art diese Beauftragung zu Stande kam. Stattdessen ging es in erster Linie um das Problem, wie die Entscheidungen von Korporationen, die als immer schon gegeben gedacht wurden, über den Kreis der Anwesenden hinaus Verbindlichkeit erlangten. Bei diesem älteren Repräsentationsbegriff handelte es sich demnach "um ein formales Prinzip, eine Rechtsfiktion, die es erlaubte, die in bestimmten Rechtsformen vollzogenen Handlungen der Stände allen Untertanen rechtlich zuzurechnen" (83). Zu diesem Zweck entwickelte man ein Verständnis von Repräsentation, das die Forschung mit dem Begriff "Identitätsrepräsentation" belegt hat und das von den Zeitgenossen auf die berühmte Formel "Die Stände sind das Land" gebracht wurde. Wenn so verstandene "Repräsentation" in erster Linie dazu diente, Entscheidungen für die Gesamtheit der Untertanen verbindlich zu machen, dann mussten die Landesherren ein mindestens so großes Interesse an ihr haben wie die Angehörigen der Landstände.
In dem Maße, wie im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Erinnerung an die Schrecken der konfessionellen Bürgerkriege verblasste, sich unter dem aufgeklärten Kampfbegriff der "Despotie" ein Gefährdungsbewusstsein gegenüber der unumschränkten Monarchie entwickelte und die an Montesquieu angelehnte Rezeption des englischen Parlamentarismus auch in Deutschland Anhänger fand, wurde der politische Stellenwert der Landstände neu bewertet. Im Rahmen dieses Prozesses gewannen Ständevertretungen zwar theoretisch als politisches Gegengewicht gegenüber potenzieller Fürstenwillkür an Legitimität, gemessen an diesem Anspruch stellte sich aufmerksamen Beobachtern die Realität ständischer Politik in den Territorien des Reiches umso enttäuschender dar. Stollberg-Rilinger besteht darauf, dass diese veränderte Debatte um die landständische Repräsentation bis 1789 beschränkt blieb auf den kleinen Kreis juristisch geschulter Gelehrter, ständischer Syndici und Staatsbeamter. Erst mit der Französischen Revolution sei demgegenüber ein fundamentaler Wandel eingetreten, denn seither erst seien diese Fragen zu einem Gegenstand des öffentlichen Räsonnements in Zeitungen und Zeitschriften geworden, nun auch vorgebracht von politisch interessierten 'Laien'.
Die zweite Hälfte der Studie rekonstruiert diesen fundamentalen Wandel im Repräsentationsverständnis, das nunmehr in den traditionellen Landständen den "natürlichen" Ansatzpunkt für Reformen sah, die dem Ziel dienen sollten, "Nationalrepräsentationen" der gesamten Bevölkerung in den einzelnen Territorien zu schaffen. Am Beispiel der Landtagsreformen in Lüttich, Württemberg, Bayern, Kursachsen, Kurhannover, Hildesheim und in den habsburgischen Erblanden, die allesamt im Revolutionsjahrzehnt stattfanden, weist die Verfasserin jedoch die systeminhärenten Widerstände auf, die einer solchen fundamentalen Veränderung des politischen Systems im Rahmen des Reichsverbandes entgegen standen. Sie kommt zu einem wesentlich skeptischeren Urteil über das Reformpotenzial in den Territorien und über die Reformierbarkeit des Alten Reiches insgesamt, als es in den letzten Jahren von vielen Historikern formuliert worden ist.
Diese Skepsis wird weiter genährt durch ihre Untersuchung einer Reihe Reformkonzepte, die im späten 18. Jahrhundert von politischen Publizisten, Kameralisten, Juristen und Staatsbeamten formuliert worden sind. Der beeindruckende Überblick über die Schriften so unterschiedlicher Autoren wie C.F. Häberlin, J.H.G. Justi, A.L. Schlözer, E.F. Graf Hertzberg, J. von Sonnenfels, J. Möser, J.L. Ewald, A.F.H. Posse, J.C. Majer, L.T. Spittler, A.W. Rehberg, A.L. Jacobi und W.J. Behr lässt erkennen, dass seit etwa 1750, verstärkt noch seit den 1790er-Jahren in Reaktion auf die Revolution, das Verhältnis zwischen den Ständen und den Bürgern in den Mittelpunkt des politischen Interesses rückte. Wer, wie der österreichische Kameralist Sonnenfels oder der preußische Minister Hertzberg, die Repräsentation des gemeinschaftlichen Willens allein in der Person des Monarchen verkörpert sah und den Ständen lediglich die Funktionen von beratenden Gremien ohne Entscheidungsbefugnis zubilligte, der befand sich bereits auf dem Weg zur napoleonischen beziehungsweise zur restaurativen Ständekonzeption des frühen 19. Jahrhunderts: Angesichts einer unverblümten Politik der Besitzstandswahrung, die diese Autoren den Ständen im Alten Reich attestierten, propagierten sie eine Umformung der alten Herrschaftsstände in bloße Funktions- und Besitzklassen. Ihrer Ansicht nach sollten die hergebrachten Kurien des Adels und der Städte ergänzt werden um eine Körperschaft bäuerlicher Ständevertreter. Das Votum von Abgeordneten solcherart reformierter Stände wurde ausschließlich als Artikulation von partikularen Interessen betrachtet, nützlich als Informationsquelle für den Monarchen und seine Bürokratie, jedoch völlig unverbindlich für den politischen Entscheidungsprozess. Diese Autoren empfingen ihren reformerischen Elan ganz aus dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, den sie mit der Person des aufgeklärten Fürsten verbanden. Demgegenüber sollte die Macht der Stände begrenzt werden, galten sie doch als Bewahrer des Alten. Weil diese Vordenker des Neoabsolutismus offen mit wesentlichen Teilen der alten Verfassung brechen wollten, kamen sie völlig ohne historische Argumente aus.
Entsprachen diese Vorstellungen von landständischer Repräsentation auch der politischen Realität viel eher als die Gegenpositionen, so gehörte doch den historisch argumentierenden Vorstellungen von Repräsentation auf längere Sicht die Zukunft. Auch die übrigen der von Stollberg-Rilinger angeführten Autoren teilten zwar den kritischen Blick auf die aktuelle Rolle der Ständeversammlungen, die sie beim besten Willen nicht als Repräsentanten des gesamten Volkes ansehen konnten, allein: "Je mehr nun in den 1790er-Jahren die naturrechtliche Argumentation gegen die Privilegien der Stände als jakobinisch diskreditiert wurde, desto mehr bot es sich an, naturrechtlich formulierte Maßstäbe in die Frühgeschichte zu projizieren, um sie als historische ausgeben zu können und ihnen den Ruch des Umstürzlerischen zu nehmen" (251). Hierzu bot das seit der Rezeption der "Germania" des Tacitus in der Renaissancezeit unter den Gebildeten verbreitete Bild einer germanischen Urdemokratie die nötige Handhabe. Mochten die aktuellen Ständeversammlungen auch ihrer Rolle als Repräsentanten des Volkes nicht gerecht werden, so galten doch nur solche Reformen als Heilmittel, die als Rückkehr zu den Wurzeln in der germanischen Frühzeit oder im frühen Mittelalter imaginiert wurden, und nicht etwa als ein Neubeginn, der sich der Formen politischer Repräsentation bediente, wie sie die Amerikanische und Französische Revolution hervorgebracht hatten. Die Verfasserin verdeutlicht, dass noch den Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts die Verbindung zwischen historischer Wahrnehmung und politischem Gegenwartsinteresse unauflöslich erschien, denn nahezu kein Reformkonzept entriet der historischen Untermauerung, wie fadenscheinig diese Argumentation auch immer sein mochte. Ihr Fazit lautet, dass von dieser sich lediglich historisch gebenden, letztlich jedoch geschichtlich unbegründeten Aneignung der Ständegeschichte durch die Nachwelt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten bis heute zehren.
Die Studie wird abgerundet durch ein Resümee, in dem die wichtigsten Ergebnisse in knappen Thesen zusammengefasst werden. Künftige Darstellungen zur politischen Geschichte des Alten Reiches in seiner Spätzeit und zum deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert werden diese Resultate zu berücksichtigen haben. "Vormünder des Volkes" vermittelt einen vorzüglichen Einblick in die komplexe Entwicklungsgeschichte eines zentralen politischen Begriffs. Das Buch liefert ein Lehrstück über das Wandlungsvermögen und die Instrumentalisierbarkeit von scheinbar eindeutigen Schlagworten, weshalb ihm eine große, historisch-politisch interessierte Leserschaft zu wünschen ist.
Stefan Brakensiek