Olaf Asbach / Sven Externbrink / Klaus Malettke (Hgg.): Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert (= Historische Forschungen; Bd. 70), Berlin: Duncker & Humblot 2001, 299 S., ISBN 978-3-428-10090-3, DM 136,00
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Der vorliegende Band dokumentiert ein an der Universität Marburg abgehaltenes Kolloquium des deutsch-französischen Forschungsverbundes "Das französische Deutschlandbild im Europa des 17.-18. Jahrhunderts". Er gliedert sich nach einer zusammenfassenden Einleitung in vier Sektionen: I. Das Alte Reich in der Geschichtsschreibung; II. Zur historischen Semantik; III. und IV. Das Alte Reich in Europa: Französische Diplomaten und Intellektuelle im frühen 18. Jahrhundert beziehungsweise nach 1750.
Zunächst zeichnet Anton Schindling "Das neue Bild vom Alten Reich", das heißt den Gang der (deutschen) Forschung seit dem 19. Jahrhundert. Schindling sieht dabei den von der "revisionistischen Wende" in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 eingeschlagenen Weg der Neubewertung des Alten Reiches noch keineswegs an seinem Zielpunkt angelangt und erkennt weiteren Forschungsbedarf in der Geschichte der Kleinterritorien. Zweifellos, so muss man anmerken, wäre es im Anschluss hieran reizvoll gewesen, kontrastierend die Perspektive der französischen Historiographie nach 1800 einzubeziehen, auch wenn es sich dabei um ein "Nicht-Thema" gehandelt hätte, bei dem vor allem über die Gründe nachzudenken gewesen wäre, warum das Alte Reich in der modernen französischen Geschichtswissenschaft praktisch nicht mehr vorkommt.
Die Sektion "Zur historischen Semantik" stellt Leser wie Rezensenten dann vor einige Probleme. Zunächst ist der Beitrag von Armelle Lefebvre, "Les tournures 'aujourd'huy' et 'estat présent' dans les représentations de l'Allemagne aux 16e et 17e siècles. Sémantique et présupposés des discours politiques modernes" ungewöhnlich - und wohl unnötig - kompliziert aufgebaut und geschrieben. Es wird mit enormem theoretischen Aufwand auf überaus verschlungenen Wegen nachgewiesen, dass sich im 17. Jahrhundert die französischen Historiker und Juristen vom Glauben an das Ende der Zeiten, von der abendländischen Reichsidee (auch in ihrer französischen Variante) sowie von der Vorstellung eines steten Verfalls des römisch-deutschen Reiches lösten.
Der Beitrag von Fred E. Schrader, "Politisch-semantische Strategien vom Ancien Régime zur Restauration. Das Alte Reich als (Con)fédération, Corps, Système in der französischen Publizistik" ist demgegenüber einfach zu fassen: Es werden zunächst in rascher Folge die einschlägigen Größen zitiert - die "Encyclopédie", Rousseau und Saint-Pierre, Leibniz, Pufendorf und Hegel sowie schließlich Grotius, G.A. von Münchhausen ("der Vollständigkeit halber") und Hobbes, der sich, wie es heißt, "hinzugesellt". Im Weiteren stellt Schrader eine Datenbank vor, deren Auswertung auf das Vordringen des Systembegriffs im 18. Jahrhundert hinweist. Das Bild des Reiches als gewachsener, hierarchisch geordneter "Körper" trat hingegen zurück. Inwieweit dabei "le système du corps germanique" in einem "Schnittpunkt" steht - "und zwar in der politischen Logik und Konsequenz der Französischen Revolution" - ist mir nicht klar geworden. Ein weiteres Ergebnis Schraders, "dass es sich [in Deutschland] wie auch in Frankreich um einen Diskurs des Stils Ancien Régime [sic!] handelt", dürfte hingegen kaum überraschen. Es fällt auf, dass weder Schrader noch Lefebvre - bei sehr gründlicher Literaturdiskussion - die einschlägigen Arbeiten von Klaus Malettke nutzen und Schrader auch Bernd Roecks Studie zum Systembegriff nicht heranzieht.
Die Sektionen III und IV zur Perzeption des Reiches durch französische Diplomaten und Intellektuelle machen den Kern des Bandes aus: Etwas aus der Reihe fällt der Beitrag von Peter Schröder, "Reich versus Territorien? Zum Problem der Souveränität im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden", der, notwendigerweise von Bodin ausgehend, im Weiteren die Diskussion der Reichspublizistik untersucht und sich dabei auf Pufendorf und Leibniz konzentriert. Hierzu ist nicht mehr viel Neues zu sagen, doch Schröders Bewertung, in Leibniz den innovativeren Denker zu sehen, der die Reichsverfassung reformieren wollte, während Pufendorf sich auf die Beschreibung des bestehenden beschränkte, ist pointiert; Wolfgang Burgdorf hat allerdings auch auf andere wichtige Stimmen hingewiesen. Schröders Einschätzung, dass das Reich "von dem Spannungsverhältnis [lebte], das durch den Gegensatz von Territorium und Reich entstehen musste", wird wohl gegenwärtig nicht von allen Reichshistorikern geteilt, bleibt aber richtig.
Im Hinblick auf die französische Reichspolitik zur Zeit der Régence stellt Jörg Ulbert in seinem quellennahen Beitrag "Der Reichstag im Spiegel französischer Gesandtenberichte, 1715-1723" fest, dass es eine solche nur annäherungsweise gegeben hat. Der Grund für die weitgehende Inaktivität lag zunächst in der Konzentration Frankreichs auf den Kontakt zu Wien, der mit einem Verzicht auf die phasenweise auch noch von Ludwig XIV. gepflegte Politik einherging, reichsständische Klientel zu mobilisieren; andererseits aber war diese Klientel durch die Nachwirkungen der Expansionskriege Ludwigs schlechterdings nicht mobilisierbar. Es wird deutlich, dass am Reichstag die Reserve gegen Frankreich auch nach 1714 fortbestand.
Für die Jahrhundertmitte zeichnet Sven Externbrink ein anderes Bild. Nach dem 'renversement des alliances' versuchte Frankreich durch eine aktive, auch die Mindermächtigen erfassende Reichspolitik wieder zur Mobilisierung der Stände beizutragen - diesmal für den Kaiser - und nutzte politisch wie propagandistisch seinen Status als Garant des Westfälischen Friedens. Von seinem Rückzug aus der Reichspolitik kann in diesem Kontext noch keine Rede sein. Externbrink sieht jene französischen Bemühungen als recht erfolgreich an, da sie etliche protestantische Territorien vom Anschluss an Preußen und England-Hannover abgehalten hätten. Inwieweit aber Frankreichs Kriegseintritt tatsächlich von der Befürchtung bestimmt war, dass nun von Friedrich dem Großen "die Umwandlung des Reiches in eine Monarchie" drohte und es das Reich vor dem Preußenkönig schützen wollte, scheint mir ungewiss zu sein. Mehr als an den Schutz der Reichsordnung dürfte man in Versailles wohl an die Auseinandersetzung mit England gedacht haben. Die französische Kriegsteilnahme war so vor allem Folge eines - letztlich wenig vorteilhaften - "Geschäfts" mit Wien. - Die weitere Diskussion hierüber lohnt aber allemal und sollte sich nicht auf die deutsche und französische Forschung beschränken.
Die beiden philosophiegeschichtlichen Beiträge des Bandes von Olaf Asbach und Dieter Hüning nehmen die vielzitierten Urteile von St Pierre/Rousseau (Asbach) und Mably (Hüning) über die Reichsverfassung systematisch in den Blick. Asbach führt dabei aus, wie St Pierre die von ihm konstruierte "föderative" Verfassungstheorie des Reiches der realen Mischverfassung gegenüberstellte. St Pierre war dabei nicht mehr auf die aristotelischen Verfassungskategorien fixiert, dachte jedoch - wie es französischer Tradition entsprach - das Reich von den Ständen her und interpretierte das monarchische Element als Störfaktor. Nur im theoretischen Ideal des planvoll entworfenen föderativen Systems, der freiwilligen Vereinigung der "Souverains d'Allemagne" zur "Union Germanique", galt ihm dieses Reich als Modell für eine europäische Friedensordnung. Darüber hinaus zeigt Asbach, wie St Pierres systematische Perspektive sich in Rousseaus Bearbeitung wandelte und - entgegen den von Schrader dargelegten Tendenzen - einer stärker historisch-empirischen Interpretation des Reiches und seiner Rolle in Europa Platz machte. Er erinnert damit daran, dass St Pierres "Projet" nicht mit Rousseaus Auszug gleichzusetzen ist und dass letzterer den erstgenannten hier nicht einfach rekapitulierte, sondern durchaus reflektierte.
Auch Mablys Blick auf das Reich als Föderation zeigte eine gewisse Fehlperzeption, die diesseits der professionellen französischen Deutschlandexperten aus Diplomatie und Staatsrechtswissenschaft weder ungewöhnlich noch unverständlich war, doch setzte er daneben mit seiner Kritik am System der "deutschen Freiheit" als einer inakzeptablen Privilegierung allein des Reichsadels einen in der französischen Beschäftigung mit dem Reich seltenen Kontrapunkt. Mablys Interesse galt nicht so sehr dem Reich als einer möglichen Keimzelle eines europäischen Sicherheitssystems oder (in offizieller Perspektive) als "Bollwerk Frankreichs", sondern dem anti-absolutistischen Verfassungsentwurf. Er steht damit exemplarisch für ein zwischen Alt und Neu schwankendes reformorientiertes Staatsdenken im Ancien Régime.
Der den Band abschließende Beitrag von Klaus Malettke über die Perzeption des Reiches in der "Encyclopédie" illustriert den hohen Kenntnisstand der Enzyklopädisten auch gegenüber Feinheiten und Widersprüchen der Reichsverfassung, denen sie weder mit aufklärerischem Hochmut begegneten noch, wie Schrader meint, "mit Ratlosigkeit". Dieser Sachverhalt ist allerdings nicht unbekannt, denn der Aufsatz Malettkes war bereits 1987 in der Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte gedruckt und findet sich auch in seinen gesammelten Studien: Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg 1994.
Der Band ist also in seiner Zusammensetzung und im Gewicht seiner Beiträge heterogen und beschränkt sich in der Tat auf verschiedene "Aspekte" des französischen Deutschlandbildes - anderes wäre auch kaum möglich gewesen. Er zeigt in seiner Gesamtheit die besondere Bedeutung, die dem Reich aus Sicht der französischen Politik wie Publizistik zukam und zugleich den vorzüglichen Forschungsstand, der - namentlich durch Malettke und seinen Schülerkreis - im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen im Ancien Régime mittlerweile erreicht ist. Auf die in der Einleitung angekündigten Monografien der Forschergruppe wird man indes gespannt sein.
Martin Wrede