Wolfgang Reinhard (Hg.): Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte Band 9: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806. Reichsreform und Reformation 1495-1555, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2001, 382 S., ISBN 978-3-608-60009-4, EUR 40,00
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Ein Vierteljahrhundert nach dem Abschluss des Erscheinens der 9. Auflage des Gebhardt wird das Handbuchunternehmen nunmehr mit dessen 10., konzeptionell grundlegend veränderter Auflage fortgesetzt. Der vorliegende neunte Band bildet den Auftakt der insgesamt vier für die Frühe Neuzeit (1495-1806) vorgesehenen Bände und wurde von dem für die frühneuzeitliche Geschichte insgemein verantwortlichen Herausgeber und Freiburger Ordinarius Wolfgang Reinhard verfasst. Eine der Neuerungen der 10. gegenüber der 9. Auflage gibt schon die im Titel zutage tretende Zweiteilung des Bandes zu erkennen: Das Bestreben, den seit der letzten Auflage zu verzeichnenden Zuwachs an methodisch-theoretischer Reflexion des Faches zum konstitutiven Bestandteil des "neuen" Gebhardt zu machen. Und so dient der erste, zirka 100-seitige Teil der Reinhard'schen Darstellung dazu, die Epoche der Frühen Neuzeit als eigenständigen Abschnitt der deutschen Geschichte vorzustellen, zu der sie sich im deutschen historiographischen Diskurs wie auch in institutioneller Hinsicht immer mehr entwickelt hat. Dass die Frühe Neuzeit trotz dieses Befundes in der neuen, auf 24 Bände angelegten Gesamtkonzeption des Werkes zumindest quantitativ gegenüber der 9. Auflage an Bedeutung verloren hat, ist zu bedauern.
Ambitioniert, wie das Vorwort zur 10. Auflage zu erkennen gibt, ist das Unterfangen und muss es sein, will sich der Gebhardt gegenüber anderen Handbuchdarstellungen zur deutschen Geschichte behaupten. War "der Gebhardt" in den 1970er Jahren nämlich noch das zentrale Referenzwerk zur deutschen Geschichte, das jeder Studierende schon in seinem ersten Semester kennenlernte, so ist er mit seiner politikgeschichtlichen Schwerpunktsetzung und positivistischen Darstellungsweise inzwischen gegenüber den anderen Handbuchunternehmen aus den Häusern Oldenbourg ("Grundriss der Geschichte"), Beck ("Deutsche Geschichte"), Siedler ("Deutsche Geschichte") oder Suhrkamp ("Neue historische Bibliothek") hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Hierauf reagieren die Reihenherausgeber Alfred Haverkamp, Wolfgang Reinhard, Jürgen Kocka und Wolfgang Benz, indem sie für die Neuauflage ein anspruchsvolles Programm formulieren, an dem die einzelnen Bände zu messen sein werden. Der "neue" Gebhardt strebt danach, die deutsche Geschichte in ihren politik-, sozial, kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten, in ihrer regionalen Vielfalt und ihrem europäischen Kontext erzählend einem breiteren Publikum vorzustellen. Und zwar auf eine Art und Weise, wie sie dem neuesten Forschungsstand entspricht und zugleich unter permanenter kritischer Reflexion auf diesen Stand der Forschung, der in zwei umfänglichen Literaturzusammenstellungen am Beginn der beiden Abschnitte dokumentiert ist. Lücken wie offene Probleme sollen im Gebhardt benannt, Kontroversen sollen vorgestellt und das Fragwürdige identifiziert werden (X).
Der erste, der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte in den Jahren 1495-1806 gewidmete Abschnitt steckt den Rahmen für diesen und die folgenden drei Frühneuzeitbände ab. Nach einem historiographiegeschichtlichen Abriss werden die zeitliche und geografische Dimension der Geschichte Deutschlands in der Frühen Neuzeit problematisiert sowie bestimmenden Strukturen und Prozesse knapp skizziert. Aufbau wie Ausgestaltung des ersten Abschnitts offenbaren den methodischen Zugriff: Geboten wird "eine zur Mikrohistorie geöffnete makrohistorische Zusammenfassung von Wissen über die deutsche Geschichte" (46). Die von Reinhard gewählte Konzeptualisierung steht für einen Zugang, der kulturgeschichtliche Ansätze nicht ausgrenzt, aber doch in den Dienst einer Gesamtdeutung stellt, die sich von den in den 1970er Jahren entwickelten gesellschaftsgeschichtlichen Paradigmen (Modernisierung, Konfessionalisierung, Sozialdisziplinierung) leiten lässt. Nach makrohistorischen, staatlich-politischen Gesichtspunkten - dies geben schon die Jahreszahlen 1495 und 1806 zu erkennen - wird demnach in diesem wie auch in den folgenden Bänden der Gang der deutschen Geschichte strukturiert. Diese interpretatorischen Setzungen werden nun freilich nicht mehr, wie noch in der 9. Auflage, als Folge nicht hinterfragter Prämissen der eigenen Geschichtsdeutung vorgenommen, sondern vor der Folie von Erörterungen, die sich über den eigenen Standort Rechnung ablegen und zu den Glanzstücken des Buches zählen.
Vollkommen unverständlich freilich bleibt, vor allem wenn das Handbuch den Anspruch verfolgt den neuesten Forschungsstand zu repräsentieren und Kontroversen offenzulegen, warum sich Reinhard nur implizit, aber nicht explizit mit der jüngsten deutschsprachigen Gesamtdeutung zur deutschen Geschichte in den Jahren 1495 bis 1806 auseinandersetzt [1]. Nicht einmal in der (leider sehr unübersichtlich gestalteten) Literaturzusammenstellung findet die Arbeit Erwähnung. Inhaltlich grenzt sich Reinhard zwar dezidiert von Schmidt ab -nicht als komplementärer Reichs-Staat, so Schmidt, sondern als "lose und uneindeutig strukturiertes System" (70) wird zum Beispiel der politische Organisationsrahmen Deutschlands vorgestellt -, doch nur Kennern der Materie dürfte sich diese Seite der Reinhard'schen Darstellung erschließen. Und so gekonnt es Reinhard ansonsten versteht, methodische und inhaltliche Divergenzen auf ihren Kern zu reduzieren und anschaulich zu schildern - hier liegt meines Erachtens die größte Stärke des gesamten Bandes -, so erstaunt ist man nicht nur über diesen Sachverhalt, sondern auch über Sätze wie "seit 1648 besaßen die Reichsstände das auswärtige Bündnisrecht" (71), die nicht für den Forschungsstand von gestern, sondern für den von vorgestern stehen. Vor dem Hintergrund solcher (Fehl-)Einschätzungen verwundert es nicht, wenn Reinhard allen Bestrebungen, den Reichsverband im Prozess der europäischen Staatsbildung als ein "alternatives Politikmodell" (51) zu betrachten, eine Absage erteilt. Gerade aber wenn die frühneuzeitliche Geschichte Deutschlands als "Zeit des Alten Reiches" (XIII) verstanden wird, dann verschließt eine Gesamtdeutung, welche die politische Geschichte Deutschlands als "Sonderweg" versteht, den Blick für die spezifischen Entwicklungschancen und -risiken deutscher Geschichte. Dass die neuere verfassungsgeschichtliche Forschung im übrigen, so wiederum Reinhard, die Geschichte des frühneuzeitlichen Reichsverbandes (allzu einseitig) als Erfolgsgeschichte geschildert habe, wird man gerade den von Reinhard angeführten Forschern (Angermeier, Dickmann, F. Schubert, Press) nicht zum Vorwurf machen dürfen. Es ist ihr zentrales Verdienst, die Eigenart der frühneuzeitlichen staatlichen Entwicklung Deutschlands differenziert herausgearbeitet und nachdrücklich gerade auf deren Ambivalenzen hingewiesen zu haben.
Mit dem zweiten Abschnitt ("Reichsreform und Reformation 1495-1555") beginnt der einzelnen Zeitabschnitten der frühneuzeitlichen Geschichte gewidmete Teil des neuen Gebhardt. In inzwischen wohlbewährter, da auch in allen anderen aktuellen Handbüchern praktizierter Manier, steht ein die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen skizzierendes Kapitel am Beginn. Die in anderen Handbüchern ebenfalls in das Grundlagenkapitel integrierte Darstellung der großen kulturellen Strömungen der Zeit, insbesondere des Humanismus, fügt Reinhard in das erste der vier großen Kapitel ein, in die seine chronologische Geschichtserzählung deutscher Geschichte in den Jahren 1493 (Regierungsantritt Kaiser Maximilian I.) bis 1555 gegliedert ist. Erscheint für die Jahre 1493/95 bis 1521 und 1541 bis 1555 die kaiserliche Politik als Motor der zentralen Veränderungsprozesse der Zeit, so in der ersten Hälfte der 1520er Jahre die "evangelische Bewegung", die (auch als) Volksbewegung verstanden wird, wohingegen Reinhard die Jahre 1526 bis 1541, das heißt (mit Ausnahme der Jahre 1530/32) die Jahre der kaiserlichen Abwesenheit vom Reich, als Zeit der Fürsten präsentiert. Breit dargestellt findet sich das in den vergangenen Dezennien von der Forschung erarbeitete neue Verständnis der Reformationszeit. Die Reformation als komplexer Kommunikationsprozess findet ebenso Berücksichtigung wie die Erkenntnis von der Vielfalt der Ausprägungen des Reformatorischen, die dazu geführt hat, dass heute nicht mehr von der Reformation, sondern von den Reformationen gesprochen wird. Bilanzierend wird festgehalten, was in Kreisen der Reformationsgeschichtsschreibung inzwischen common sense ist, was aber eine breitere Öffentlichkeit noch nicht zur Kenntnis genommen hat: Dass die Gleichung von Reformation und Beginn der Neuzeit, von Reformation als Aufbruch in die Moderne eine Gleichung ist, die nicht aufgeht.
Insgesamt gesehen, liefert Reinhard in diesem Abschnitt eine lebendig geschriebene, umsichtig einordnende Darstellung, die (meist) dem aktuellen Forschungsstand entspricht. Dass die (im Sinne der oben beschriebenen Programmatik des Gebhardt) integrativere Schilderung der Geschehenszusammenhänge für die 1520er Jahre gelingt, in der Erzählung der 1530er und 1540er Jahre aber wie eh und je die Schilderung der politischen Ereignisabläufe dominiert, ist, ohne dass Reinhard diesen Zusammenhang expliziert, ein direkter Reflex auf die Forschungssituation. Die Erforschung der "frühen Reformation" (bis 1530) steht nach wie vor im Zentrum des historiographischen Interesses. Ist dieses Defizit also nicht dem Verfasser anzulasten, allemal nicht in einem Handbuch, so steht zu hoffen, dass offenkundige Fehler in einer neuen Auflage korrigiert werden. So datiert etwa der Übergang der Stadt Hannover zur Reformation nicht auf das Jahr 1530 (319), sondern auf die Jahre 1533 bis 1536, hatte die Verfassungsgebung des Schmalkaldischen Bundes nicht 1533 (330), sondern im Dezember 1535 statt, und auch die Stadt Bremen findet sich nicht erst nach 1532 im Bund (331), sondern sie zählt zu den Bündnisteilnehmern, die schon im Dezember 1530 verbindlich ihren Beitritt zum Bund erklärten. Ebenso greift eine Deutung zu kurz, die den Übergang Landgraf Philipps von Hessen zu einer Ausgleichspolitik mit Kaiser Karl V. in den Jahren seit 1540 in tradierter historiographischer Sicht allein mit dessen Doppelehe begründet (333), wie jüngst herausgearbeitet wurde [2].
Beschlossen wird der Band von einem Anhang (Münzen, Maße und Gewichte; die Reichskirche und die deutschen Bistümer; Regenten des Reiches und größerer Territorien) sowie einem differenzierten Orts-, Sach- und Personenregister. Vergleicht man abschließend den "neuen" Gebhardt mit den anderen Handbuchdarstellungen zur Reformationszeit bzw. zum "langen 16. Jahrhundert", so wird man demjenigen zu seiner Lektüre raten können, der an einer knappen, gut geschriebenen, stets die großen historiographischen Linien reflektierenden Darstellung der Zeit interessiert ist.
Anmerkungen:
[1] Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999.
[2] Georg Schmidt: Gefangen vor der Gefangenschaft? Landgraf Philipp und der Regensburger Geheimvertrag von 1541, in: Walter Heinemeyer (Hg.): Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897-1997, Teil 1, Marburg 1997, 463-480
Gabriele Haug-Moritz