Rezension über:

Martin Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 6), Marburg: Herder-Institut 2000, IX + 518 S., ISBN 978-3-87969-284-2, EUR 50,00
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Rezension von:
Stefan Bollinger
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Bollinger: Rezension von: Martin Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Marburg: Herder-Institut 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 3 [15.03.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/03/3226.html


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Martin Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?

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Angesichts der nach dem Zusammenbruch des Ostblocks aufgebrochenen nationalen Konflikte in Europa drängt es, nach deren historischen Wurzeln zu fragen und nach jenen Mechanismen, die früher solche Konflikte begleiteten und eventuell politisch zu bändigen versuchten. Martin Scheuermann hat eine umfängliche Monografie zur Minderheitenpolitik des Völkerbundes der 1920er-Jahren vorgelegt, die in vielen Fällen mit erstaunlicher Prägnanz jene Vorgeschichten aufzeigt. Akribisch hat er Akten des Völkerbunds und besonders ihrer Minderheitensektion und der mit konkreten Problemen befassten Dreierkommissionen (aus Völkerbundratspräsident und jeweils zwei Ratsmitgliedern) aufgearbeitet.

Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile. Im ersten wird Entstehung und Anwendung des Minderheitenschutzes durch den Völkerbund dargestellt und die Forschungs- und Archivlage erläutert. Der umfangreichste zweite Teil untersucht Minderheitenbeschwerden aus den einzelnen Ländern (Lettland, Estland, Litauen, Polen, Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Albanien, Bulgarien, Griechenland, Türkei). Im dritten werden die Ergebnisse dieser Minderheitenpolitik herausgearbeitet und die Reformversuche von Madrid 1929 angesprochen, bei denen auch Deutschland ein größeres Mitspracherecht einforderte. Schließlich werden Ergebnisse vorgestellt und Zusammenfassungen geboten. Dazu gehört die tabellarische Aufstellung aller zugelassenen und nicht zugelassenen Beschwerden sowie die Charakterisierung der Mitarbeiter der Minderheitensektion.

Scheuermann verweist auf die Schwierigkeiten der genauen Bestimmung des Begriffs von Nation und nationaler Minderheit. Er zeigt, dass der französisch-revolutionäre und der herdersche Nationsbegriff jeweils unterschiedlich den Interessen der Seiten dienen. Das Herausstellen der Staatsbürgerschaft begünstigt die dominierende Nation, während der herdersche Begriff mit Bezug auf eine Sprach-, Wesens- und Kulturgemeinschaft eher nationalen Minderheiten gerecht wird.

In Ostmitteleuropa waren im Ergebnis der Gebietsveränderungen, des Staatenzerfalls und des forcierten Bevölkerungsaustausches nach dem Ersten Weltkrieg neue Staaten entstanden, die dem Selbstbestimmungsrecht genügen wollten, das US-Präsident Woodrow Wilson ihnen versprochen hatte. Letzterer hatte allerdings weniger auf nationale, denn auf die demokratische Selbstbestimmung abgehoben. Insgesamt 80 Millionen Menschen mussten ihre Staatsbürgerschaft ändern. Den Staaten der Region wurden Minderheitenschutzverträge aufgezwungen, um die durch die neuen Grenzen erwarteten beziehungsweise bereits bekannten Konflikte unter Kontrolle zu bringen. Eine besondere Situation hatten die nun zur Minderheit gewordenen Angehörigen einst herrschender Nationen, die oft in Grenzregionen als Risikofaktor und auf Grund ihrer ökonomischen Vormacht als soziale Bedrohung angesehen und von den neuen Staaten oft benachteiligt wurden. Bezeichnenderweise wurde das Minderheitenschutzrecht nur auf den genannten Bereich bezogen, später allein noch der Irak einbezogen. Die Großmächte blieben aus gutem Grund (eigene Minderheiten und Kolonien) ebenso außen vor wie Deutschland und die Sowjetunion, die bis 1934 kein Völkerbundmitglied war. Eine solche Konstellation musste die zum Schutz ihrer Minderheiten genötigten Staaten besonders ärgern, da praktischer Minderheitenschutz interessengeleitet und von politischem Kalkül gekennzeichnet war.

Die Minderheitenschutzverträge sicherten die Gleichbehandlung der Minderheiten und kulturelle Möglichkeiten, aber deutlich unterhalb von Autonomie. Benachteiligte Minderheitenangehörige konnten mittels Petitionen Benachteiligungen anzeigen. Den betreffenden Regierungen wurde ein großzügiges Stellungnahmerecht eingeräumt, und es wurden mit ihnen einvernehmlich Lösungen bei geringen kulturellen oder fiskalischen Zugeständnissen gesucht. Repressionen konnten nicht verhindert werden, sodass aus der Türkei beispielsweise keine Petition der armenischen Minderheit vorliegt.

Die Praxis zeigte die Grenze eines Minderheitenschutzes mit ungleicher Behandlung der einzelnen Subjekte und einer selbstbeschränkten praktischen Schutzpolitik - Erfahrungen, die nach wie vor aktuell sind.

Stefan Bollinger