Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 8), Marburg: Herder-Institut 2001, X + 434 S., 6 Karten, ISBN 978-3-87969-288-0, EUR 36,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Zweifellos hat der "polnische Westgedanke" fundamental zur politischen Reorientierung der polnischen Nation seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beigetragen, und ebenso unbestritten ist sein Einfluss auf die Aneignung des ehemals preußischen Ostens durch die polnische Nation nach 1945. Insofern kann eine Untersuchung zu seiner Genese und zu seinen zentralen Argumentationslinien einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des polnischen Nationalismus leisten. Der Verfasser hat dazu für seine Hamburger Dissertation zahlreiche publizistische wie wissenschaftliche Quellen herangezogen, allerdings keine archivalischen Materialien. Seine Darstellung gliedert sich in drei große Themenblöcke: Im ersten beschreibt er die historischen Voraussetzungen und die Entwicklungslinien des Westgedankens im 19. Jahrhundert; anschließend behandelt er die ideologische Grundlage sowie die publizistische und politische Materialisierung. Der dritte Block konzentriert sich auf polnische Territorialforderungen im Umfeld des Ersten Weltkriegs.
Im einzelnen gibt Roland Gehrke einen soliden Überblick über die Entdeckung der Westgebiete in polnischen Reiseberichten Anfang des 19. Jahrhunderts und die zunehmende Bedeutung ethnischer Aspekte im polnischen Nationalismus nach 1863. Auch informiert er ausführlich über den Westdiskurs in Historiographie, Geografie, Ethnografie, Demographie et cetera, der sich in dem Konzept des ethnografischen, "piastischen" Polen manifestierte. Deutlich wird schließlich auch die Politisierung des Westgebiete-Konzepts zunächst bei Jan Ludwik Popławski und Bolesław Wysłouch und dann vor allem bei Roman Dmowski. Gehrke geht den allpolnischen wie sozialistischen Spuren des Westkonzepts nach und gibt dadurch einen Hinweis darauf, dass sich der Westgedanke nicht nur auf die Nationaldemokratie beschränkte. Schließlich bietet seine Darstellung der polnischen Territorialprogramme während des Ersten Weltkriegs und der Pariser Friedenskonferenz eine nützliche Übersicht.
So verdienstvoll es ist, die Genese des polnischen Westgedankens für die deutsche wissenschaftliche Öffentlichkeit darzustellen, so müssen doch einige gravierende Mängel benannt werden, die eine tiefere Durchdringung des Stoffes verhindert haben. Zunächst fällt auf, dass Gehrke die Nationalismusforschung (von John Breuilly abgesehen) seit den 1970er-Jahren nicht zur Kenntnis genommen hat. Wenn er Eric Hobsbawm gelesen hätte, dann hätte ihm auffallen müssen, dass Nationalismen und damit auch nationale Gebietsansprüche Ergebnisse von Konstruktionen oder "Erfindungen" sind. Gerade die Entstehung und Funktion solcher Konstruktionen beleuchtet Gehrke aber nicht. Stattdessen versucht er, den Wahrheitsgehalt von Gebietsansprüchen - oder genauer: der These von der slawischen Autochthonie in den Westgebieten - zu widerlegen, was freilich eine müßige, weil längst bekannte Angelegenheit ist. Das normative Konzept von Gebietsansprüchen, mit dem der Verfasser operiert, umfasst einerseits historische Zugehörigkeit, nationales Bewusstsein und Bevölkerungsmehrheit (20), an anderer Stelle beruft er sich auf die Gültigkeit zwischenstaatlicher Verträge, zu denen er auch die Erste Teilung Polens zählt, in der Polen auf das Königlich-polnische Preußen verzichtet habe (43). Nicht nur für die historische Analyse ist es jedoch sehr fragwürdig, ob solche Überlegungen ein tragkräftiges Fundament abgeben und zur Lösung von Territorialkonflikten beitragen können. Aus diesem Grund bleibt auch sein Ansatz zur Typologie von nationalistischen Territorialforderungen in der Schlussbetrachtung weitgehend konturenlos.
Nicht nur in der Frage der Konstruktion von Gebietsansprüchen wäre der Verfasser in seiner Analyse wesentlich weiter gekommen, hätte er nicht die beziehungsgeschichtliche Dimension des Territorialkonflikts völlig ausgeblendet. Dass der preußisch-polnische Gegensatz den Hintergrund bildet, vor dem sich der polnische Westgedanke entwickelt, und dass die publizistische Ausformung von deutschen Herrschaftsansprüchen und polnischen Gebietsansprüchen gewissermaßen in engem Clinch ineinander verkeilt waren, nimmt der Verfasser zwar in Umrissen wahr. Er vermag es aber nicht, diesen Sachverhalt in seine Interpretation einzubeziehen, und beschränkt sich stattdessen darauf, Thesen des rein defensiven Charakters des polnischen Westgedankens zurückzuweisen. Die einschlägige Literatur zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte hat Gehrke praktisch nicht rezipiert.
Ein weiteres, konzeptionelles Problem kommt hinzu: Indem der Verfasser die Berechtigung der Gebietsansprüche vor allem an der Frage eines ethnischen Substrats festmacht und die vormoderne Genese der polnischen Nation in der Adelsrepublik ausblendet, bleibt ihm das Spezifische des polnischen Westdiskurses in der Kombination von politisch-historischen, geopolitischen und ethnografischen Argumenten - wie es dann vor allem bei Zygmunt Wojciechowski hervortritt - verborgen. Es wäre gewiss sinnvoller gewesen, auf die für die Argumentationskette der Studie überflüssigen Abschnitte zur politischen Entwicklung in den Westgebieten im Spiegel ausgewählter Quellen zu verzichten und stattdessen einen konzisen Ausblick auf die Entwicklung des Westgedankens in der Zweiten Republik zu geben.
Bei einer sorgfältigeren Benutzung nicht nur der neueren Forschungsliteratur (etwa zu Wojciech Kętrzyński) und bei genaueren Textanalysen hätte der Verfasser mit seinem Material zu weitaus besseren Ergebnissen kommen können, als er sie hier präsentiert hat. Zeitlich-konzeptionelle Verortungen der behandelten Texte in Aussagen vom Typ: Dmowski war "ein Kind seiner Zeit" (261) zeugen davon, dass Gehrkes Studie zu sehr an der Oberfläche verharrt.
Jörg Hackmann