Rezension über:

Gertrud Pickhan: Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund "Bund" in Polen 1918-1939 (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 1), München: DVA 2001, 448 S., 1 Karte, 1 Tabelle, ISBN 978-3-421-05477-7, EUR 68,00
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Rezension von:
Heiko Haumann
Historisches Seminar, Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension von: Gertrud Pickhan: Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund "Bund" in Polen 1918-1939, München: DVA 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3249.html


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Gertrud Pickhan: Gegen den Strom

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Mit dieser 1999 von der Universität Hamburg angenommenen Habilitationsschrift untersucht Gertrud Pickhan, jetzt Professorin für polnische Landes- und Kulturstudien an der Technischen Universität Dresden, eine bislang kaum erforschte Periode in der Geschichte des 1897 gegründeten "Bundes". Die Quellenlage erwies sich als äußerst schwierig, da das zentrale Parteiarchiv im Warschauer Getto verbrannt ist. Pickhan hat dies dadurch ausgeglichen, dass sie auf weit verstreute Materialien zurückgriff sowie Periodika, Erinnerungen und sonstige gedruckte Quellen nutzte. Für ihre Studie wählte sie einen sozial- und organisationsgeschichtlichen Zugang, ergänzt durch einen lebensweltlich-kulturwissenschaftlichen Ansatz, der von der Sichtweise der Akteure sowie dem Alltag und soziokulturellen Milieu der Menschen ausgeht.

Nach einem Überblick über die Geschichte des "Bundes" beschreibt Pickhan Sozialstruktur sowie Lebenswelt der Spitzenpolitiker und charakterisiert die Mitgliedschaft. Dabei geht sie auch auf die Rolle der Traditionen, Feste und Symbole ein. Sie zeichnet dann das Milieu der jüdischen Arbeiterschaft nach, in dem sich der "Bund" bewegte und an dem er bei seiner intensiven Kulturarbeit - über Gewerkschaften, Schulen und Medien - anknüpfte. In einem weiteren Abschnitt behandelt Pickhan die bundische Forderung nach national-kultureller Autonomie der Juden, die Abgrenzung von zionistischen Gruppierungen und die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Abschließend beschäftigt sie sich mit dem "Bund" im polnischen Umfeld, namentlich im Parteienspektrum und in der Kommunalpolitik, sowie mit der Stellung innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung: Der "Bund" gehörte zur linkssozialistischen Minderheit in der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen. Sympathien für den Kommunismus, wie sie ein aktiver Teil der Partei äußerte, gingen einher mit scharfer Kritik an der Politik der sowjetischen Führung, insbesondere am Stalinismus.

Pickhan kann die bisherige Forschung in wesentlichen Punkten korrigieren. Dabei handelt es sich nicht nur um Einzelaspekte, sondern insbesondere um die Gesamteinschätzung der bundischen Politik. So galt bisher Johnpolls Urteil, der "Bund" sei in Polen auf der ganzen Linie gescheitert. Überzeugend argumentiert hingegen Pickhan, dass der "Bund" eine gar nicht hoch genug zu bewertende Wirkung hatte. So konnte etwa die lange bestehende Mauer zu den polnischen Sozialisten durchbrochen werden, die 1937 sogar die Forderung nach national-kultureller Autonomie vom "Bund" übernahmen. Noch stärker fällt der innere Zusammenhalt, die "Wir-Identität", ins Auge, der es dem "Bund" erlaubte, "gegen den Strom" zu schwimmen, sich nicht Mehrheitsmeinungen anzupassen, selbstbewusst jüdisch, linkssozialistisch sowie anti-nationalistisch zu sein und dennoch in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre zur stärksten politischen Kraft im polnischen Judentum zu werden. Dieser Zusammenhalt war gekennzeichnet durch yidishkeyt, das Bekenntnis zur jiddischen Sprache und jüdischen Kultur - das trotz des Atheismus vieler Sozialisten die Religiosität zahlreicher Juden einschloss -, durch doikeyt, das Hier-Sein, die Loyalität zur polnischen Heimat, und durch meshpokhendikeyt, die familiäre Verbundenheit, die Konflikte nicht umging, aber doch für Gemeinsamkeit sorgte. Dieser Umgang miteinander war ein Beitrag zur politischen Kultur, an den es sich auch heute zu erinnern lohnt.

Ebenso ist die Konzeption der national-kulturellen Autonomie nach wie vor eine ernst zu nehmende Alternative zur vorherrschenden nationalistischen Territorialpolitik, die bislang immer wieder zu Gewalt und Vertreibung geführt hat. Der "Bund" hat sich nachdrücklich dagegen gewandt, dass die Juden in Polen als "Fremde" behandelt würden (vergleiche etwa 78, 310), und darauf bestanden, dass diese auch im bewussten "Anderssein" in ihrem Land leben konnten. Auch eine derartige Perspektive interkultureller Akzeptanz ist keineswegs überholt. Einer der Parteiführer, Wiktor Alter (1890-1943), hat dafür 1938 einfache Worte gefunden: "Ja, Juden sind 'anders'. Na und? Müssen denn alle Leute gleich sein? Ist denn Paweł nicht auch anders als Gaweł? Und macht nicht gerade diese 'Andersartigkeit' der Menschen eine der zauberhaften Schönheiten des Lebens aus?" (270).

Vielleicht wäre die Aussagekraft der Studie noch verstärkt worden, wenn Pickhan ihr Konzept, namentlich die kulturwissenschaftlichen Ansätze, theoretisch vertieft und vor dem Hintergrund ihrer Ergebnisse erörtert hätte. Insgesamt erweitert aber die Arbeit unsere Kenntnis der Geschichte Polens wie der Juden in der Zwischenkriegszeit wesentlich, sie wird die zukünftige Forschung zur jüdischen Geschichte und Kultur wie zu den polnisch-jüdischen Beziehungen maßgeblich beeinflussen.

Anmerkung:

[1] Bernard K. Johnpoll: The Politics of Futility. The General Jewish Workers Bund of Poland, 1917-1943. Ithaca, New York


Heiko Haumann