Günter Bernhardt / Jürgen Scheffler (Hgg.): Reisen - Entdecken - Sammeln. Völkerkundliche Sammlungen in Westfalen-Lippe. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung des Westfälischen Museumsamtes, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Museum Hexenbürgermeisterhaus, Lemgo, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, 224 S., 169 Abb., ISBN 978-3-89534-421-3, EUR 19,00
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Das von Günter Bernhardt und Jürgen Scheffler herausgegebene Buch ist als Begleitbuch zur gleichnamigen, in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Museum Hexenbürgermeisterhaus in Lemgo konzipierten Wanderausstellung des Westfälischen Museumsamtes (Landschaftsverband Westfalen-Lippe) gedacht, die noch bis Januar 2003 in verschiedenen Museen zu sehen sein wird. Die Beiträge lenken den Blick auf die Sammlungstätigkeit jener sammlungsfreudigen Reisenden, Entdecker, Forscher und Missionare der Jahrhundertwende, die "zum Retter ethnographischen Materials", "das durch die rasch fortschreitende Europäisierung vom Untergang bedroht ist" (Richard Robert Heinrich Parkinson) werden wollten, indem sie so viele Ethnografica sammelten wie irgend möglich. Reisen - Entdecken - Sammeln, die klassischen Komponenten der Annäherung europäischer an außereuropäische Kulturen, müssen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit deutscher Missions- und Kolonialgeschichte, aber auch mit den sich etablierenden Wissenschaften Ethnologie und Anthropologie betrachtet werden. Die frühe Phase völkerkundlicher Forschung war durch die Wahrnehmung fremden Kulturguts anhand gesammelter Gegenstände geprägt, der Kolonialismus lieferte die Rahmenbedingungen, die das Sammeln erst möglich machten, und die weitverzweigten Missionierungsunternehmungen trugen ihren Teil zu den Sammlungen bei, so einleitend die Herausgeber.
Die Geschichte des Sammelns ethnografischer Gegenstände ist für Deutschland noch nicht geschrieben. Regionale Studien wie beispielsweise das von Claudius C. Müller redigierte "Wittelsbach und Bayern. 400 Jahre Sammeln und Reisen" (1980), das sich auf die Sammlungstätigkeit der Wittelsbacher konzentriert, sind willkommene Bausteine für ein solches Werk. In diesen Kontext ist auch der vorliegende Sammelband einzuordnen, der eben nicht die Sammlungen der großen und bekannten Museen in Berlin oder München thematisiert, sondern die eines kleinen, regional begrenzten Gebiets, nämlich die Bestände in Westfalen-Lippe.
Von der Bedeutung für die heutigen Besucher der hier verhandelten Sammlungen einmal abgesehen, die durch die Hintergrundinformationen die einzelnen Sammlungen und Gegenstände sicher mit ganz anderen Augen betrachten werden, sind an diesem Buch zwei von den Verfassern eingenommene Perspektiven von besonderem Interesse: zum einen der Bezug zur Gegenwart, beispielsweise durch einen Vergleich zwischen Reisen, wie sie um 1900 und solchen, die um 2000 stattfanden (Christiane Cantauw); zum anderen die Einordnung der ethnografischen Gegenstände in die Geschichte unserer Vorfahren und nicht jener Kulturen, aus denen die Gegenstände ursprünglich stammen.
In den hier erwähnten Museen wurde nicht nach systematischen Gesichtspunkten gesammelt; gezielte Sammelreisen wurden von den Museumsverantwortlichen nicht unternommen oder angeregt, gesammelt wurde vielmehr das, was die Anstalten von verdienten Bürgern der Region oder von Missionaren, die sich lange in Übersee aufgehalten hatten, geschenkt bekamen. Erst im Laufe der Zeit entwickelten sich die heterogenen Sammlungsbestände zu Trägern kulturgeschichtlicher Informationen.
Diese Sammlungsgeschichte nun steht im Zentrum des Buches, in dem die biografisch fassbare Entstehungsgeschichte der Sammlungen, die verantwortlichen Personen und Institutionen in den Vordergrund gerückt werden sollen. Wer waren die Sammler? Welche Absichten verfolgten sie mit ihren Reisen und mit ihren Sammlungen? Wie waren sie durch ihr gesellschaftliches Umfeld geprägt? Was wussten sie von den Völkern, die sie besuchten? Wie haben sie ihre Sammlungen nach ihrer Heimkehr der Öffentlichkeit präsentiert? Mit welchem Erkenntnisgewinn kehrten sie in ihre Heimat zurück? Es sind die hinter den Sammlungsobjekten verborgenen Geschichten, die das Buch erzählen möchte, denn die Sammlungsgeschichte konstituiert den Hintergrund, von dem sich die Gegenstände schärfer abheben als ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium kurioser Andenken vergangener Zeiten.
So erfährt der Leser in diesem ansprechend gestalteten und mit zahlreichen Abbildungen versehenen Buch von Reisenden und ihren Souvenirs, von europäischen Pflanzern und Administratoren in den Kolonien und ihren Sammlungen, von Missionaren, Diplomaten und Kolonialbeamten und von dem, was sie in die Heimat mitgebracht haben. Zugleich wird er jedoch darüber informiert, wie in Briefen, auf Fotografien und Postkarten den Daheimgebliebenen Bilder der fremden Welten vermittelt wurden. Früher Tourismus im Batak-Gebiet in Nordsumatra (Beitrag von Achim Sibeth) und die Brüder Neubourg und ihre Batak-Sammlung (Beitrag von Jürgen Scheffler) werden genauso thematisiert wie die Missionssammlungen der Gesellschaft der reisenden Brüder Christus (Beitrag von Gudrun Wilms-Reinking), die des Missionsmuseums Sankt Xaver in Driburg (Beitrag von Brigitte Wiesenbauer) und die der Bethel-Mission (Beitrag von Heidie Koch) oder die Sammlungen Friedrich Rosen und August Kirchhof (Beitrag von Kerstin Eckstein). Günter Bernhardt schlägt in seinem Beitrag "Kulturgut oder Strandgut der Geschichte?" auch für weitere Sammlungskonvolute in Westfalen-Lippe, die außerhalb der fünf vorgestellten Sammlungen stehen, die Objektgeschichte als Instrument vor, um sie über zweifelhafte Exotik im heimatlichen Umfeld hinaus nutzbar zu machen. Zwei Interviews, eines mit Professor Platenkamp, Direktor des Instituts für Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, und ein weiteres mit dem leidenschaftlichen Sammler Steffmann runden den Band ab. Die beiden Interviews geben Aufschluss über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von wissenschaftlichem und privatem Sammeln und zeigen außerdem, was Sammeln heute bedeuten kann.
Das Buch ist ein willkommener Beitrag zur Geschichte von ethnografischen Museen und ethnografischem Sammeln, dem hoffentlich weitere, ebenso detailreiche lokalgeschichtliche Studien folgen mögen.
Anne Dreesbach