John Roger Paas (Hg.): Augsburg, die Bilderfabrik Europas. Essays zur Augsburger Druckgraphik der Frühen Neuzeit (= Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen; Bd. 21), Augsburg: Wißner 2001, 272 S., 155 s/w-Abb., 8 Farbtafeln, ISBN 978-3-89639-280-0, EUR 25,00
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Es ist in deutschen Landen keine Selbstverständlichkeit, dass die lokale Kunstgeschichte fast automatisch internationale Relevanz hat. Doch für ein Buch über den Augsburger Bilddruck gilt die europäische Perspektive. Augsburg hatte als Handels- und Produktionszentrum von Luxuswaren vom 15. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert - in Verbindung mit dem Status als freie Reichsstadt - Standortvorteile, über die in Nordeuropa sonst nur wenige andere Metropolen wie Antwerpen, Frankfurt oder Nürnberg verfügten. Augsburg war in der genannten Epoche immer auch Kommunikationszentrum, was sich in der bedeutenden Rolle sowohl der örtlichen Typografie als auch des Bilddrucks erweist. Während die Aktivitäten der Augsburger Buchdrucker vergleichsweise gut aufgearbeitet sind, ist die Geschichte des grafischen Gewerbes der Stadt nur in Fall- und Einzelstudien oder hinsichtlich der Verbindung von Buch- und Bilddruck studiert, weil die meisten Holz- und Kupferstecher auch Illustrationen für gebundene Werke lieferten. Ein größeres Überblickswerk zum Augsburger Bilddruck fehlt also. Dies ist um so bedauerlicher, als die archivarische Situation verhältnismäßig günstig ist, also die Dokumentation der Künstler und Verleger sowie der durch örtliche Institutionen über die Bilder ausgeübten Kontrolle weitaus fundierter als etwa an den meisten italienischen Druckstandorten geleistet werden könnte.
Das von Paas herausgegebene und dem Grafikspezialisten Wolfgang Seitz gewidmete Sammelwerk erhebt nicht den Anspruch, als ein solch 'endgültiges' Handbuch zum Augsburger Bilddruck zu fungieren. Vielmehr ist ihm der Charakter eines (wie der Herausgeber sagt) "Hors d'oeuvre" eigen, das die ganze Bandbreite der örtlichen Grafikproduktion andeuten und Appetit auf neue Forschungen machen soll. Die Beiträge des Bandes entsprechen Schlaglichtern auf wesentliche Protagonisten oder Gattungen, wobei sich ihre Anordnung weitgehend an die kunsthistorische Chronologie hält. Im Folgenden seien einige charakteristische Beiträge herausgegriffen.
Anette Michels widmet sich dem Verhältnis von Zeichnung und Druck im Werk des Augsburger Kupferstechers Lucas Kilian (41-54). Sie arbeitet anhand einiger Beispiele aus seinem Werk das Spezifische von barocken Stecherzeichnungen (im Gegensatz zu Blättern von zeitgenössischen Malern) heraus, die wegen ihrer Funktion im druckgrafischen Prozess bestimmte Stilmittel aufweisen. Kilian bereitete sowohl eigene Inventionen für die Umsetzung in den Kupfer vor, als er auch entsprechende Zeichnungen anderer Künstler wie Matthäus Gundelach verwertete, die ausdrücklich für den Druck geschaffen wurden. Die markanten Schraffuren in den von ihr diskutierten Zeichnungen hält Michels für eigenes Gut Gundelachs, das im Hinblick auf die grafische Übersetzung angebracht worden sei, nicht aber für hinzugefügte 'Hilfslinien' Kilians. Denn auch dessen eigene Vorzeichnungen für Stiche seien keineswegs schraffurbetont, also eng auf die Technik der Gravur bezogen. Michels belegt dies anhand einer Kopie Kilians nach einem verschollenen Gemälde des Palma Giovane, die in Kreide und Rötel gehalten ist. Diese weichen Zeichenmittel seien besonders gut geeignet gewesen, die malerischen Qualitäten der großformatigen Vorlage in die für den Stecher unverzichtbare Zwischenstufe der Vorlagenzeichnung zu bringen. Ausdrückliche Festlegungen des anzuwendenden Schraffursystems sind demnach im Oeuvre Kilians selten.
Helmut Gier (55-70) diskutiert eine andere Problemstellung des 17. Jahrhunderts, die ebenfalls Lucas Kilian einschließt. Sein Ansatz ergibt sich aus seiner Beschäftigung mit dem Augsburger Buchwesen, das seit dem frühen 16. Jahrhundert von einem konfessionellen Mit- und Gegeneinander geprägt war. Am Beispiel der Aktivitäten des Verlegers Stephan Michelspacher und seines Gönners, des Kunsthändlers und Sammlungsagenten Philipp Hainhofer, besichtigt Gier das Sortiment eines evangelischen Verlags des Frühbarock. Michelspacher, der unter anderem alchemistische, mathematische und anatomische Titel im Programm hatte (letztere mit Illustrationen von Kilian), habe in seinen Publikationen, darunter auch ein Einblattdruck mit Porträts von Luther und seiner Frau zum hundertjährigen Jubiläum des Thesenanschlags, vielfach die Interessen Hainhofers gespiegelt. Die Bildpublizistik Michelspachers könne sogar als Versuch gewertet werden, im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts ein konfessionelles Gegengewicht zu entsprechender 'Öffentlichkeitsarbeit' der Jesuiten und Bettelorden zu bilden: Augsburger Kupferstecher wie der Protestant Kilian sollten nicht ausschließlich auf katholische Aufträge angewiesen sein.
Verschiedene Beiträge zu den auch nach dem Dreißigjährigen Krieg bedeutenden Außenbeziehungen Augsburger Kupferstecher und Bildverleger schließen sich an, etwa der Aufsatz von John Roger Paas (79-92) zu einer Folge von Porträts Breslauer Honoratioren, die Philipp Kilian, der Sohn von Lucas, als Illustrationen für die Prachtpublikation GERMANVS VRATISLAVIAE DECOR des Georg von Schöbel (1667) schuf. Kilians Platten wurden von Schöbel offenbar deswegen bei einem Augsburger Stecher bestellt, weil der lokale Bilddruck in Breslau dem Autoren keine genügend prestigeträchtige Ausstattung des ansonsten in Schlesien produzierten Buches versprach.
Von Josef H. Biller werden im Anschluss die europaweiten Aktivitäten des Augsburger Stechers und Bildverlegers Gabriel Bodenehr diskutiert (109-22), dessen in verschiedenen Auflagen und Zusammenstellungen verbreitete Sammlungen europäischer Veduten und Pläne allerdings deutlich die im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmende Bereitschaft der Augsburger zum Plagiat und ein insgesamt abnehmendes Qualitätsbewusstsein bezeugen.
Dennoch verband sich der Augsburger Bilddruck auch im 18. Jahrhundert mit den besten Leistungen örtlicher Maler und Zeichner. Ein kurioses Zeugnis der Nutzung von Kupferstichen in der akademisch geprägten Lehre und Praxis der Kunst des Rokoko diskutiert Sibylle Appuhn-Radtke (163-72). Der gezeichnete Frontispiz des Stammbuches von Johann Esaias Nilson, dem 'Augsburger Watteau', zeigt zwei zu einer Amicitia-Allegorie arrangierte Figuren inmitten einer Kartusche, die nicht nur aus Rocailleformen, sondern auch aus wie zufällig in das Ornament gruppierten Bildern, Zeichnungen und - vor allem - aus Druckgrafiken besteht. Appuhn-Radtke kann die Mehrzahl dieser Drucke als Stiche und Mezzotinti aus Augsburger Produktion identifizieren, darunter Blätter nach Vorlagen Ridingers und Piazzettas. Innerhalb dieser Bilder im Bild will die Autorin am oberen Rand Beispiele aus dem Oeuvre der Lehrergeneration und Vorbilder Nilsons sehen, während Vertreter anderer künstlerischen Genres rechts und links das Bild komplettierten. Die Ubiquität gedruckter Bilder in der visuellen Kultur der Zeit belegt diese Zeichnung aus Nilsons Stammbuch allemal.
Das stellenweise noch immer außerordentliche Niveau des Augsburger Kupferstichs im 18. Jahrhundert scheint im Beitrag von Werner Telesko auf (189-97), der zwei eucharistische Thesenblätter der Gebrüder Klauber aus der Zeit um 1730 diskutiert. Zwar ist dieser Beitrag auf die komplexe Ikonographie der beiden Stiche konzentriert, deren Vorläufer der Autor bis ins 15. Jahrhundert verfolgt; jedoch wird deutlich, wie sehr das Veranschaulichen theologischer Glaubensgrundsätze aus dem akademischen Lehrwesen der Jesuiten auch im Rokoko mit dem Bemühen um eine attraktive äußere Form einherging. Vor allem in Marktsegmenten, die offenbar keine solchen ästhetischen Anstrengungen erforderten, weil sie den Hunger der Zeit nach anspruchsloseren 'Reportagebildern' und visuellen Dokumentationen aller Bereiche des Wissens bedienten, waren Augsburger Bildverleger bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts in Europa führend. Alberto Milano stellt dar (227-34), wie diese Position allmählich verloren ging: Wesentlich war die andernorts im Handel mit gedruckten Bildern ohne Rücksicht auf Urheberrechte gewährte staatliche Unterstützung ausgewählter Großunternehmen, etwa die vom venezianischen Senat vollzogene Privilegierung des kontinuierlich wachsenden Verlags der Remondini in Bassano. Als die Augsburger schließlich die Gefahr dieser Konkurrenz erkannten, war es fast schon zu spät. Der politische Abstieg der Stadt seit dem napoleonischen Zeitalter tat ein Übriges, um die goldene Zeit des örtlichen Bilddrucks zu beenden.
Das von Paas herausgegebene Sammelwerk bietet eine Vielzahl interessanter Beiträge zur Geschichte der Augsburger Druckgrafik, von denen viele gerade durch ihre unterschiedlichen Ansätze (ikonographisch, stilgeschichtlich, publikations- und wirtschaftshistorisch) für Abwechselung bei der Lektüre sorgen. Als ermüdend erweisen sich allerdings einige katalogartige Anhänge, die wegen ihrer Dokumentation ganzer Verlegersortimente zwar verdienstvoll sind, aber in einem solchen Einführungs- und Überblickswerk zu weit vom allgemeinen Interesse abführen. Für die noch zu schreibende Geschichte des Augsburger Bilddrucks ist die vorliegende Publikation jedoch eine wichtige Wegmarke.
Eckhard Leuschner