Peter Gay: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll, Rolf Schubert, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002, 384 S., ISBN 978-3-10-025910-3, EUR 24,90
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Peter Gay ist seit Jahren eine Größe in der internationalen Geschichtswissenschaft. Frühe Anerkennung erzielte der Amerikaner in den 1960er-Jahren mit einer zweibändigen Untersuchung zur Aufklärung; in jüngster Zeit erfuhr er Ehrungen wie den Geschwister-Scholl-Preis (1999) als Reaktion auf seine Autobiografie "My German Question" (1998): In dieser schildert der als Peter Fröhlich 1923 Geborene seine Verfolgung als Jude und seine Vertreibung aus Deutschland. Sein wissenschaftliches Hauptwerk entstand in den 1970er und 1980er-Jahren: Gay war es maßgeblich mitzuverdanken, dass Historiker sich mit Freud und der Geschichte der Psychoanalyse als Objekt der Historiografie beschäftigten, und zugleich mit psychoanalytischem Blick neue Interessengegenstände - vor allem die Sexualwelt - in Betracht zogen. Diese Anregungen verfolgte Gay selbst in seiner Pentalogie "The Bourgeois Experience" (1984-98) weiter, die große Beachtung fand.
Der hier angezeigte Band versteht sich als weitere Differenzierung früherer Ergebnisse. Trotz der Behandlung neuen Materials und neuer Themen wie "Arbeit" und "Religion" vertritt Gay auch darin die These, dass eine "wichtige grundlegende Neubewertung der gängigen Ansichten über das viktorianische Bürgertum und insbesondere über die Einstellungen der Bürger zu Sexualität, Aggression, Kunstgeschmack und Privatsphäre" vorgenommen werden müsse (18). Diese vier Bereiche strukturieren zusammen mit "Arbeit" und "Religion" den Aufbau des Bands, wobei Gays Blick dem Sexuellen besonderes Gewicht beimisst, indem er es in freudscher Weise als maßgeblichen Antrieb auch der anderen Bereiche betont. Für seinen auf Annotationen weitgehend verzichtenden Großessay wählte Gay die Person des Arztes und Schriftstellers Arthur Schnitzler als Leitmotiv. Jedes seiner Kapitel beginnt der Autor mit kurzen Anekdoten aus dessen Leben, um dann auf das bürgerliche Leben im 19. Jahrhundert schlechthin überzugehen.
Die belletristische Note, die der Band hierdurch erhält, ist im Bund mit Gays plastischer Erzählkraft beeindruckend. Ebenfalls imposant ist der Wissensfundus, aus dem der Autor schöpft und der sich aus einer ungeheueren Quellenvielfalt speist, deren Schwerpunkt auf zahlreichen autobiografischen Dokumenten liegt. Konsequent ist auch die Einlösung des Anspruchs auf Internationalität, den der Autor sich gestellt hat. Gays Fokus liegt auf Deutschland, Österreich, Frankreich und England, stellenweise werden Entwicklungen in den USA, seltener in Skandinavien, Russland, Benelux und Italien mit betrachtet. Mit diesem breiten Blick auf die gesamte Dauer des 'langen 19. Jahrhunderts' - worunter Gay den Zeitraum zwischen 1815 und 1914 versteht - erfasst der Band Bereiche, die in den traditionellen Darstellungen unter der Decke der Verschwiegenheit geblieben sind. Mit Darstellungen der Diskussionen über Verhütungsmittel und Geschlechtskrankheiten, Homosexualität und Jungfräulichkeit, sexuelle Unempfindsamkeit der Frau, Masturbation und romantische Liebe charakterisiert der Autor den Eros des Bürgertums im 19. Jahrhundert; mit Untersuchungen zur starken Ängstlichkeit und Nervosität, zum Schulprügeln und zum Antisemitismus umschreibt er dessen Thanatos. Das Mäzenatentum und die Demokratisierung der Hochkultur werden ebenso ausführlich als typisch bürgerlich charakterisiert wie das spezifische Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, das besondere Ausprägungen im Tagebuchschreiben und Wohnungsbau gefunden habe. Deutlich blasser als diese Kapitel bleiben hingegen die als neu angekündigten: "Religion" reduziert Gay auf Säkularisierung zum einen, Spiritualismus und Sektengründungen zum anderen; seine Beschäftigung mit "Arbeit" beschränkt sich auf Auslassungen zur Arbeitsethik und zur Frauenarbeit.
Die Stärken des Werks führten dazu, dass das ebenfalls 2002 erschienene amerikanische Original "Schnitzler's Century" vom Verlag als "Peter Gay's Greatest Hits" vermarktet und im englischen Sprachraum als großes Alterswerk aufgenommen wurde. Diesem Urteil wird sich aber nur der anschließen, der die Einschränkungen Gays mitmacht. Das 19. Jahrhundert ist für ihn durch eine bürgerliche Kultur geprägt, die der Autor als "Viktorianismus" bezeichnet und mit der er sich voll identifiziert: "[...] kann ich nur wiederholen, dass die viktorianische Ära ein bewundernswertes Jahrhundert war und dass das Bürgertum sich ein Gutteil dessen als Verdienst anrechnen kann" (336). Das gängige Bild vom Viktorianer sei falsch; er sei nicht prüde, sondern auf dem Wege der sexuellen Befreiung gewesen; Viktorianer seien Männer gewesen, die "die Geheimnisse der Wissenschaft lösten, mit der Geißel der Epidemien fertig wurden und durchgreifende Reformen im Bildungssystem veranlassten. Diese waren in der Regel eher friedliebend als kriegerisch, eher maßvoll als berauscht, weder vom Alkohol noch von den Ideen" (335).
Das "haltlose Stereotyp des Kapitalisten" (269) weicht bei Gay dem Bild des philanthropischen Mäzens und Förderers eines Bildungssystems für die Unterschichten. Dass ex post oft negativ besetzte Bild des Bürgertums hat für Gay mehrere Gründe: Zum einen berufe es sich auf die "Bourgeoisophoben", jene Nestbeschmutzer der eigenen Schicht im 19. Jahrhundert, zum anderen habe es - so Gay - den Anschein, "als hätten die viktorianischen Bürger das Beste, was ihnen eigen war, den undankbaren Generationen hinterlassen, die auf sie folgten, und dass die Übel unserer Zeit unsere ureigensten Schöpfungen sind" (330).
Dass der Verfasser die Französische Revolution und den Ersten Weltkrieg aus 'seinem' langen 19. Jahrhundert ausklammert, erweist sich somit als Kunstgriff. Zwar habe das 20. Jahrhundert "alle fortschrittlichen Themen" des vorherigen Säkulums fortsetzen können. Seine Übel aber scheinen keine Wurzeln zu haben. In Hinblick auf den Ersten Weltkrieg fordert Gay: "Die Geschichte sollte die Bürger von der Verantwortung für diese Katastrophe freisprechen" (338). Dass der von ihm festgesetzte Beginn des 19. Jahrhunderts weniger gravierende Auswirkungen auf seine Thesenführung hat, liegt daran, dass Gay selten Quellen aus der Zeit vor 1837, dem Geburtsjahr Königin Viktorias, zurate gezogen hat. Die Romantik existiert für ihn kaum, geistige Richtungen wie der Idealismus oder das Biedermeier existieren überhaupt nicht. Kunst: das sind für Gay die Impressionisten, das sind Mahler und Schönberg oder sozialkritische Schriftsteller wie Zola und Flaubert.
So schrumpft das 19. Jahrhundert bei ihm zum Fin de Siècle. Sein Versprechen, dieses Zeitalter nicht zu idealisieren (329), erweist sich als Floskel. Gays Buch ist in hohem Maße affirmativ - und warum wird ausgerechnet Schnitzler für sein Werk bemüht? Vielleicht, weil sich Gay scheute, ein weiteres Mal Freud in den Titel einer seiner Veröffentlichungen zu setzen. Denn eigentlich ist es nicht Schnitzler, der ihn interessiert. Vielmehr ist es Freud, für dessen Denken Schnitzler den Strohmann - und als Dichter und Bohémien auch die attraktivere Figur gegenüber dem Psychoanalytiker - abgibt.
Stefan Jordan