Helmut J. Schneider / Ralf Simon / Thomas Wirtz (Hgg.): Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2001, 335 S., ISBN 978-3-89528-269-0, EUR 34,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Die Formel "Um 1800" ist für die germanistische Literaturwissenschaft zu einem wichtigen heuristischen Begriff geworden, der die schematischen Epocheneinteilungen unterläuft und zu einer neuen Modernediagnose gelangt. Das Interesse gilt der problematischen Genese einer als Makroepoche gefassten Moderne, deren Logik von krisenhafter Problemstellung und reflexiver Aufarbeitung in den diskursiven Konstellationen jener Umbruchszeit zwischen Spätaufklärung und Romantik hervortritt. Lässt sich diese Doppelbewegung von krisenhaftem Abbruch und reflexivem Neuansatz gerade auch an medialen und semiotischen Fragen ausmachen, so hat sich die jüngere Forschung dabei vor allem dem Verhältnis von Sprache und Bild zugewendet. Der vorliegende Sammelband, der die Ergebnisse einer von der Thyssen-Stiftung geförderten Bonner germanistischen Tagung dokumentiert, ist für diesen Forschungskontext ein wichtiger Beitrag.
Der nur scheinbar paradoxe Doppeltitel modifiziert die unter anderem von Gottfried Boehm geäußerte Diagnose einer modernespezifischen "ikonischen Wende". Er vertritt die These einer dialektischen Verschränkung von substanzieller Bildkrise und ästhetischer Wiedergewinnung der Bilder am Ursprung der kulturellen Moderne. Nur als historischer Hintergrund interessiert dabei der reale Bildersturm auf die Ikonen politischer und religiöser Macht im Kontext von Säkularisierung und Französischer Revolution. Nicht auf das historische Ereignis, sondern auf die Ebene der theoretischen (ästhetischen) Konzepte und der literarischen Produktion zielen die metaphorisch verwendeten komplementären Begriffe "Bildersturm" und "Bilderflut". Zur Herausforderung für Kunst und Literatur - so die These dieses Doppeltitels - wird eine radikalisierte Aufklärung, der ihr eigenes im Zuge eines Rationalisierungs- und Abstraktionsprozesses durchgesetztes Bildverbot zum Problem geworden ist. Ein anthropologisches Bildbedürfnis mache sich demgegenüber gerade in der Literatur (und der poetologischen Reflexion auf sie) geltend, deren besondere Herausforderung zur Ausbildung "neuer, sprachlich konstituierter Bildkonzepte" (9) darin liege, dass ihr eigenes, sprachliches Medium das Leitmedium für die aufgeklärte Austreibung der Bilder dargestellt hatte und nun einer Selbstkorrektur von innen bedurfte.
Welcher Bildbegriff der sich zu Recht als "innermedial" (12), das heißt texthermeneutisch verstehenden Perspektive des Bandes zu Grunde gelegt wird, wird aus den theoretischen Rahmenvorgaben des Bandes zunächst nicht klar ersichtlich. Die fehlende Definition dessen, was ein "Bild" innerhalb eines literarischen Textes sein kann, ist Indikator für die argumentativen Schwierigkeiten, in die das intermediale Interesse der Literaturwissenschaft zwangsläufig gerät. Möchte es doch die Präsenz eines anderen Mediums im eigenen, das Bild als Anderes der Sprache in derselben beschreiben. Dennoch handelt es sich dabei um eine produktive Verunsicherung, wird mit dem Suchbegriff "Bild" ein Spektrum von literarischen und diskursiven Strategien eröffnet, das die herkömmliche Verengung literarischer Bildlichkeit auf rhetorische Tropen übersteigt. Das zeigen die thematisch breit gefächerten Beiträge.
Dem tiefgreifenden Wandel des Bildbegriffs im Bereich der anthropologischen und ästhetischen Theoriekonzepte gehen die Beiträge von Ulrich Gaier (Konstanz) und Ursula Geitner (Bonn) in geistesgeschichtlicher, beziehungsweise diskursanalytischer Perspektive nach. Entsprechend der für das achtzehnte Jahrhundert symptomatischen aisthetischen, das heißt auf Wahrnehmung und sinnliche Erkenntnis ausgerichteten Auffassung von Ästhetik, ist Bildtheorie immer zugleich anthropologische und erkenntniskritische Theorie der Vorstellungsbilder und ihrer intellektuellen Verarbeitung. Gaiers weitgefasste Perspektive zeigt, wie zwischen der Repräsentationslehre der rationalistischen Vermögenspsychologie Christian Wolffs (mit ihrer Vorstellung einer adaequatio zwischen Vorstellung und Gegenstand) und der transzendentalen Subjektphilosophie am Ende des Jahrhunderts die Kategorie des Vorstellungsbilds mit dem einheitlichen Vernunftgrund auch den Gegenstandsbezug verliert und zur "Vorstellungsart" subjektiviert wird. Damit verbunden ist eine "Rhetorisierung des Denkens" (27), welche lange vor Nietzsche die abstrakte Transparenz des Denkens in Frage stellt und das "Denken als Bildprozess" (19) ohne festen Referenzpunkt fasst. Für die Poetologie wichtigstes Ergebnis dieser Veränderung ist das Bewusstsein für den Eigensinn des Bildes, welches sich aus seiner intellektualistischen Repräsentationsfunktion löst und als konfiguratives "Gebild" eine eigenständige poietische Leistung darstellt.
Dass dieser Paradigmenwandel von der reproduktiven zur produktiven Einbildungskraft geschlechtsspezifisch konnotiert wird, zeigt Ursula Geitner. Die metaphorischen Bestimmungen dieses für die Genieästhetik so folgenreiche bilderproduzierenden Vermögens pathologisieren in der weiblichen Autorschaft (die monströsen Einbildungen eines "furor uterinus", 323) dasjenige, was als Phantasma der Selbstzeugung ohne Bindung an die "Amme Gelehrsamkeit" (310) die männliche Autorschaft legitimiert. Damit werden ästhetische Chancen und pathogene Gefährdungen jener Entbindung der produktiven Einbildungskraft auf geschlechtsspezifische Pole verteilt.
Wie sich diese erkenntnistheoretische und vermögenspsychologische Gegenüberstellung von "Bild" und "Begriff" in der poetologischen Reflexion zur spannungsvollen Opposition verdichtet und einen verdeckten paragone zwischen literarischem Werk und seiner Hermeneutik inszeniert, stellt Thomas Wirtz (Frankfurt) am Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller dar. Dessen Angebot an Goethe, sein "aufmerksamster Leser" (57) zu sein, gerät zum Bemächtigungsversuch der definierenden philosophischen Begriffssprache über das in seiner Unausdeutbarkeit störende literarische Werk - ein Versuch philosophischer Einverleibung, gegen den Goethe seinerseits Strategien der Verrätselung einsetzt.
Die übrigen Beiträge fragen nach der Funktion von Bildern in literarischen Texten um 1800, wobei eine erstaunliche Spannbreite von literarischen Verfahrensweisen zu Tage tritt, welche bildliche Konfigurationen textuell erschaffen oder im Rückgriff auf kulturelle Ikonen kombinatorisch refigurieren. Immer aber sind es diskursive, sprachlich vermittelte Strategien, welche die Bilder in den literarischen Text einholen, wobei deren Funktionen nicht nur unterschiedlich, sondern sogar gegensätzlich sein können. Wie kulturell geprägte, aber zur "Natur" sublimierte Gedächtnisbilder (in diesem Fall Landschaftsbilder) als vermeintlich sanftere Ordnungsstrukturen in mnemotechnischer Einübung die Einschreibungen der Gesellschaft heilen sollen, zeigt Christian Moser (Bonn) an pädagogischer Literatur von Rousseau über Goethe bis Wordsworth. Einen ähnlich weitgefassten Bildbegriff im Sinne ästhetischer Organisationsleistung wendet Markus Winkler (Genf) auf Goethes "Italienische Reise" an. Weil die symbolische Ordnung anders als bei der Darstellung von Kunst und Natur im Bereich der als kontingent erfahrenen sozialen Verhältnisse zu versagen scheint, stiftet der ästhetisch inszenierende Blick des Reisenden von außen Ordnung, indem er die bedrohliche Volksmasse mit kulturellen Bildformeln (zum Beispiel der aristophanischen Komödie oder Merians Bilderbibel) überblendet.
Eine genau entgegengesetzte, nämlich die Einheit der Erzählung dekonstruierende Funktion weist Helmut Pfotenhauer (Würzburg) den Bildern in Goethes Romanen zu. Die Titelformulierung "Bild versus Geschichte" (91) sieht ein Strukturmerkmal der goetheschen Romane in der Spannung zwischen dem auf lineare Abfolge und Entwicklung verpflichteten Erzählfluss und den eingelagerten "tableaux" (92), bildhaften Konfigurationen, in denen die Erzählung durch Rätselbilder unterbrochen und konterkariert und ein Widerstand des Kontingenten und Partikularen gegen die Zumutungen von Ganzheit und Reifung inszeniert wird. Pfotenhauer erkennt darin ein mediales und semiotisches Bewusstsein von der Eigenwertigkeit der Zeichenwelten gegenüber der Illusion einer erzählten Welt und darüber hinaus eine poetologische Reflexion auf die erzähltechnischen Alternativen zwischen Entwicklungsroman und novellistischem Augenblick.
Besonders ein Roman Goethes lädt zu mediologisch und semiotisch argumentierenden Interpretationen im Spannungsfeld von Sprache und Bild ein, wie zwei weitere Beiträge zeigen. Nils Reschke (Bonn) und Rita Lennartz (Bonn) untersuchen die "Lebenden Bilder" in den "Wahlverwandtschaften". Beide gehen in ihrer Interpretation der im Roman erzählten Inszenierungen der "Tableaux vivants" über die inhaltliche Betrachtung einer gesellschaftlichen Bildpraxis hinaus. Sie sehen darin eine in den Roman eingelagerte poetologische Selbstthematisierung der Darstellungstechniken des Romans. Lennartz zeigt, wie die Augenblicksdarstellungen der nach Gemälden gestellten "Lebenden Bilder" schon durch ihre ikonographischen Motive (zum Beispiel der geblendete Belisar) eine raffinierte Kontrafaktur zur Tableau-Konzeption des bürgerlichen Trauerspiels und des empfindsamen Romans inszenieren. An Stelle der transparenten Durchblicke auf die Anschaulichkeit des Bildgegenstands führen sie die Opazität der Schrift vor, welche die Einheit des Bildes in eine Vielzahl divergenter Lektüren auflöst.
Auch Günter Oesterle (Gießen) sieht in seiner Interpretation von Goethes Rätseltext "Das Märchen" aus den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" darstellungsreflexive Konsequenzen an den Verbildlichungsstrategien. Die Verrätselung folgt nur scheinbar einem allegorischen Modell, ihre Bedeutungserheischung wird durch poetische Ornamentik gebrochen und so vor eindeutigen Sinnzuweisungen verwahrt. Zwischen dem schlichten Erzählmodell einer pragmatischen Geschichte und dem formalistischen, arabesken Modell einer gegenstandsfernen Einbildungskraft suche der Text im Aufrufen zahlreicher Bildreminiszenzen aus dem kulturellen Gedächtnisarchiv einen dritten Weg. Im Gesellschaftsrahmen der "Unterhaltungen" stelle er zugleich ein liberales Modell geselligen Rätselratens vor, das den Blick für die Vielheit hermeneutischer Möglichkeiten schärfen soll.
Infragegestellt und herausgefordert wird das Medium der Sprache aber um 1800 nicht nur durch die Bilder, sondern seit der Frühromantik verstärkt vor allem auch durch die als vorsprachlich vorgestellte Musik. Die Beiträge von Andreas Käuser (Siegen) und Winfried Eckel (Bochum) zeigen an romantischen Texten von Wackenroder und Tieck über Jean Paul bis zu E.T.A. Hoffmann einen Zusammenhang zwischen "Bilderzertrümmerung" (224, Ablösung des visuellen Paradigmas durch das akustische) und einer Re-Visualisierung. Erzeugt werde über das romantische Konzept der Synästhesie eine Art "akustischer Anschaulichkeit" (242) als affektive Stimulation von beschleunigten inneren Bilderfolgen. In diesem Zusammenhang zwischen Zerstörung von Anschaulichkeit und stimulierter "Überbildlichkeit" sehen beide Autoren ein Signum von Moderne, das über die Schopenhauer und Nietzsche bis zum bilderstürmerischen futuristischen Manifest Marinettis wirksam blieb.
Neben Goethe und den Frühromantikern ist Kleist ein Autor mit ausgeprägter Bildobsession. Helmut J. Schneider (Bonn) führt das Kleistsche Erzählprinzip der Stellvertretung am Beispiel der Adoptionsgeschichten vor. Sie folgen einer Logik bildlicher Substitutionen, welche den immer schon vorgängigen, selbst undarstellbaren blinden Zeugungsaugenblick durch Rückgriff auf Ikonen aus dem kollektiven Gedächtnis kulturell einzuholen versuchen. Die Aporie dieser Darstellung und zugleich Verdeckung des sich als uneinholbar erweisenden blinden Flecks kruder, ausgesetzter Körperlichkeit führt die tödliche Konsequenz solcher Idolatrie vor. Die den Bildern verfallenen Kleistschen Figuren müssen für ihren Bilderdienst mit dem Leben bezahlen, wie die Adoptionen und damit Ersetzungen des natürlichen durch den kulturell beglaubigten Sohn katastrophisch enden. Auch hier ergreift der Schwindel, der von dieser Dekomposition der Bilder ausgeht, den Text selbst, der sich als kulturell sinnstiftender "Adoptionstext" (300) dem bemäntelten Schrecken ausgesetzt sieht.
Auch Ralf Simon (Basel) geht es in seiner Interpretation von Hölderlins "Mnemosyne"-Hymne um das Problem der Darstellung des Undarstellbaren, hier aber im Kontext der philosophisch-poetologischen Konzeption des Erhabenen. Simon sieht in der Alpenlandschaft von Hölderlins später Hymne eine Inversion von Kants "aufklärerischem Bildersturm" (271), insofern sie eine Verbildlichung jener intellegiblen Sphäre darstelle, welche in Kants Erhabenheitskonzept als Bruch mit der im Sinnlichen kapitulierenden Einbildungskraft vorgestellt und somit der Darstellung entzogen wird. Wenn Simon von der "poietischen Übertragung der Erhabenheit in die Landschaft" (274) spricht, und dabei "Poiesis, als notwendige Über-Setzung des Gedankens in Zeichen" (274f.) fasst, so fragt sich, ob damit nicht vielmehr eine allegorische Lesart angestrengt wird. Sie liest die "Tektonik der Hölderlinschen Landschaften [...] als Zeichensprache, die der Intelligibilität Signifikanten leiht" (275) und fasst den literarischen Text als "Theoriebild" (272) für eine philosophische Theorieformation.
Das Spektrum von Bild und Bildlichkeit in literarischen und philosophischen Texten, das die dreizehn Beiträge in Einzelinterpretationen vorgestellt haben, ist kaum auf einen theoretischen Nenner zu bringen. Doch hat sich das für die hermeneutische Arbeit am literarischen Text nicht als Nachteil erwiesen. Als heuristische Suchbewegung hat sich die Frage nach den Bildern im Text in diesem Band produktiv gezeigt. Und gerade in seiner methodischen Zurückhaltung gegenüber intermedialen und kulturwissenschaftlichen Modeformeln, die oft einer Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners folgen, liegt eine Stärke dieses Bandes. Er ist ein Beitrag der Literaturwissenschaft zu der im Moment so heiß diskutierten Frage: "Was ist ein Bild?" (Gottfried Boehm). Als wichtige Ergebnisse sind festzuhalten: Bilder in literarischen Texten sind mehr sind als rhetorische Tropen. Als textuelle Konfigurationen verdanken sie sich beschreibbaren literarischen Strategien. Bildlichkeit im literarischen Text ist nicht mit Anschaulichkeit gleichzusetzen. Vielmehr fasziniert in der Moderne die poietische Leistung der Bilder, ihr semiotischer Eigenwert. Sie transponieren mediale Reflexivität in den Text und stellen oft die Darstellungsproblematik selbst mit dar.
Sabine M. Schneider