Rezension über:

Detlev Schwennicke: Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Band XX: Brandenburg und Preußen 1, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2002, 228 S., ISBN 978-3-465-03166-6, EUR 125,00
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Detlev Schwennicke: Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Band XXI: Brandenburg und Preußen 2, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2002, 232 S., 167 Tafeln, ISBN 978-3-465-03167-3, EUR 125,00
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Rezension von:
Peter Bahl
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Peter Bahl: Detlev Schwennicke: Europäische Stammtafeln (Rezension), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 1 [15.01.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/01/2594.html


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Detlev Schwennicke: Europäische Stammtafeln

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Zu den seit Jahrzehnten unverzichtbaren hilfswissenschaftlichen Nachschlagewerken gehört das genealogische Sammelwerk "Europäische Stammtafeln". Sein ursprünglicher Untertitel "Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten" verwies anfangs deutlicher darauf, dass man hier in erster Linie die regierenden oder doch die fürstlichen Familien aus ganz Europa finden konnte. Das Gesamtwerk hat sich jedoch seit seiner Gründung durch Wilhelm Karl Prinz zu Isenburg und Fortführung durch Frank Baron Freytag von Loringhoven vor allem durch das stete Engagement des nimmermüden Bearbeiters der Neuen Folge, Pfarrer im Ruhestand Detlev Schwennicke (Hungen), zu einer offeneren Grenzziehung entwickelt. Gleichsam parallel zum Rückgang der Fokussierung der Geschichtswissenschaft auf die Taten der Dynasten begann Schwennicke allmählich auch de facto bedeutsame Familien außerhalb der Regentenwelt zu bearbeiten. So erschien 1987 ein Band "Familien des Früh- und Hochkapitalismus" (IX). Auch die Berücksichtigung gefürsteter Linien von niederadligen Häusern brachte bereits seit längerem eine gewisse Auflockerung. Der 2000 erschienene Band XIX ("Zwischen Weser und Oder") schließlich enthielt bereits eine Fülle von einflussreichen niederadligen Familien, die für die ausgewählte Region prägend gewesen waren.

Diese Erweiterung des Spektrums kann aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, zumal der Sozialgeschichte nur begrüßt werden. Denn bei personengeschichtlichen Fragen hat man es zumeist mit älteren Darstellungen zu tun und kann sich nur selten selbst der Erarbeitung von Stammtafeln als Grundlage für eigene weitergehende Forschungen widmen. Umso mehr durfte man gespannt sein, nach dem Band "Zwischen Weser und Oder" nun die seit längerem angekündigten Bände zu "Brandenburg und Preußen" zur Hand nehmen zu können.

Schwennicke hat versucht, eine Auswahl der zahlreichen mit "Preußen" verbundenen Familien zu treffen. Dabei ist er sichtlich nach deren Einfluss über den lokalen und provinzialen Rahmen hinaus, ihrer Nähe zur Macht und ihrer Herrschernähe vorgegangen. Doch hat er hier und da wohl auch beispielhaft ausgewählt ("politische, militärische und kulturelle Bedeutung", Vorwort zu Band XX). Manche subjektive Gewichtung, zumal in der Bevorzugung Ostpreußens, geht wohl auch auf die eigene Biografie und die Herkunft des Bearbeiters zurück. Doch darf man ihm attestieren, dass er insgesamt aus allen Epochen Preußens wesentliche genealogische Verwandtschaftskreise der Machteliten erfasst hat, sowohl für die Frühe Neuzeit als auch für das 19. Jahrhundert.

Das seit langem bekannte Layout spiegelt nicht gerade den neuesten Stand der Technik wider (gescannte Tafeln, die mit einer alten Schreibmaschine geschrieben wurden), ist aber vertretbar. Erfreulich ist, dass die Quellenangaben, wenn auch teilweise nur summarisch, immerhin pro Tafel gegeben werden, wodurch einem früheren Missstand zunehmend abgeholfen wird.

Gewisse Bedenken müssen angemeldet werden hinsichtlich der Abgrenzung von "Brandenburg und Preußen". Die Einbeziehung des Begriffs Brandenburg suggeriert eine Nähe zu "Brandenburg-Preußen", mithin eine Konzentration auf gesamtstaatliche Fragen (und entsprechende Familienkreise) jenes frühneuzeitlichen Gebildes, das zunächst noch Brandenburg hieß, aber schon über die Mark Brandenburg hinausgewachsen war, sodann Preußen hieß, aber doch noch kein moderner Flächenstaat war. Obgleich Pommern erst seit dem 17. Jahrhundert teilweise an Brandenburg kam, werden die pommerschen Swenzonen, also eine mittelalterliche Familie, ebenso einbezogen wie - um den Kontrast zu verdeutlichen - die demgegenüber geradezu modernen Bleichröder oder die Mendelssohn aus Berlin-Brandenburg. Schlesien wird neben dem dominanten (Ost-)Preußen und dem ebenfalls stark repräsentierten Brandenburg relativ intensiv berücksichtigt, Pommern oder westliche Provinzen hier und da. Über die wirklichen Auswahlkriterien erfährt man aber in den durchaus klugen, lesenswerten, aber allzu knappen Vorworten nichts. Schlesien ohne die Schaffgotsch und die Prittwitz, Pommern ohne die Kleist und die Grumbkow, Brandenburg ohne die Blumenthal, Winterfeldt und Rohr - das wäre immerhin einer Erklärung würdig gewesen.

Wer nun meint, mit diesen beiden Bänden getrost die brandenburg-preußischen Führungsschichten "im Griff zu haben", muss alsbald erkennen, dass für viele weitere wesentliche Familien, die unbedingt hierher gehören, die entsprechenden Tafeln in anderen, früheren Bänden nachgeschlagen werden müssen. So sind die Bismarck, Hatzfeld, Lynar und die Fürsten Putbus in Band VII (1980) zu finden, die Pückler-Muskau unter den Standesherrlichen Häusern in Band IV (1981) und von den illegitimen Hohenzollern-Nachfahren wurden die Ingenheim und die Wildenbruch bereits in Band III,2 (1983) behandelt. In dem erwähnten Band NF XIX (2000) sind nachzuschlagen die Alvensleben, Biberstein, Dohna, Hardenberg, Promnitz und Schulenburg, mithin zum Teil sehr bedeutende Geschlechter aus Brandenburg und Preußen. Allein das Fehlen der dort sehr ausführlich dargestellten Dohna vermindert die eigenständige Bedeutung der Brandenburg-Preußen-Bände doch stark. Hierauf hätte man gleichfalls immerhin im Vorwort hinweisen müssen.

Einige Details sind ferner zu bemängeln. Schwennicke reduziert Preußen auf das Staatsgebilde der monarchischen Zeit, wenn er im Vorwort zu Band XX behauptet, Preußen habe seit 1918 de facto nicht mehr bestanden. Waren - neben vielen anderen - Otto Braun und Johannes Popitz nicht zutiefst preußisch? Die auch personengeschichtlich hochkomplizierte Konfessionsproblematik wird in den Vorworten arg verkürzt. So zählen mehrere der dort genannten Familien mitnichten zu den Lutheranern, woraus der Verfasser jedoch weitreichende Konsequenzen im Verhältnis zum calvinistischen Herrscherhaus ableitet. Die entscheidenden Köpfe der Knesebeck und der höfische Zweig der Rochow (im Gegensatz zum lutherischen auf dem Lande) waren reformiert. Die Konfessionsgrenze geht teilweise durch die Familien und erschwert jeden pauschalen Gliederungsversuch [1]. Sicherlich nicht ohne Grund verzichten die Tafeln grundsätzlich auf diese Angaben. Des Weiteren endet der Hofdienst lutherischer Vertreter des märkischen Adels durchaus nicht "ziemlich genau 1614", sondern eher allmählich während der 1660er Jahre. Katholische Kirchen gibt es in Brandenburg-Preußen nicht erst "nach 1740". Bei den Schmettau werden ältere Beziehungen zum brandenburgischen Herrscherhaus übersehen, wenn erst der Hofprediger Heinrich Schmettau für deren Übersiedlung in die Mark verantwortlich gemacht wird.

Die rein alphabetische Anordnung der Familien in jedem der beiden Bände und die nicht ganz schlüssige Aufteilung auf den einen oder den anderen Band fördert nicht gerade die Übersicht, zumal, wie gezeigt, so viele wesentliche Familien in anderen Bänden zu suchen sind. Eine Gruppierung nach systematischen, geografischen oder chronologischen Kriterien wäre sicherlich praktikabler gewesen. Sie hätte allerdings auch jene Lücken sehr klar aufgezeigt: die Altmark ohne Alvensleben und Schulenburg, Ostpreußen ohne die Dohna. Band 1 enthält: Cocceji, Distelmeyer, Derfflinger, Ephraim, Grafen von Hacke, Swenzonen, Itzenplitz, Königsmarck, Lynar, Maltzan, Quitzow, Redern, Reichenbach, Schmettau, Schwerin (37 Tafeln!), Colonna von Fels, Wartensleben, Creutz, Dönhoff, Eulenburg, Finck von Finckenstein (16 Tafeln), Kalnein, Lehndorff, Polenz. Band 2 bringt die Ahlimb, Arnim (16 Tafeln), Bischofswerder, Bleichröder, Bredow (33 Tafeln), Kraut, Brühl, Daum / Splitgerber / Schickler / Berendes, Gans Edle Herren zu Putlitz, Itzig, von dem Knesebeck, von der Marwitz, Mendelssohn, Rochow, Saldern (15 Tafeln), vom und zum Stein, von der Groeben (23 Tafeln), Kittlitz, Rautter, Schlieben, Tettau, Wallenrodt.

Den Kritikpunkten stehen wichtige positive Seiten und eine Fülle von Neufunden gegenüber, die freilich in den zahllosen Tafeln versteckt sind. Der Wert dieser Kärrnerarbeit wird nur deutlich, wenn man beachtet, dass Schwennicke nicht wie so viele ältere Genealogen überwiegend Literatur kompiliert. Er hat vielmehr Urkunden- und Regestensammlungen erneut selbst befragt und sich in der Regel nicht durch die Aussagen der älteren Literatur beeindrucken lassen. Für die jüngere Zeit hat er in Einzelfällen auch Leichenpredigten und Archivalien kritisch zurate gezogen. Während in manchen Fällen zwar eine größere Abhängigkeit von Vorarbeiten (zum Beispiel Schmettau) festzustellen ist, beschränkt sich dies aber auf die Fälle, in denen wirklich vertrauenswürdige Arbeiten vorlagen. Hingegen ist in vielen anderen Fällen ein neuer Forschungsstand zu verzeichnen, der mit mancher zählebigen Legende ins Gericht geht. Erwähnt sei nur die mittelalterliche Genealogie der Gans Edlen Herren zu Putlitz (Prignitz / Mark Brandenburg). Die meisten bei dieser Familie bislang tradierten frühen Eheverbindungen mit Grafenfamilien hält Schwennicke - im Einklang mit aktuellen Forschungsergebnissen brandenburgischer Mediävisten - für eher auf Wunschdenken basierende Hypothesen und streicht sie. Viele Ergänzungen und Korrekturen der gängigen Literatur bietet Schwennicke auch bei den Genealogien der Bredow, Rochow, Saldern und Arnim für die Mark Brandenburg, der Dönhoff, Eulenburg und Lehndorff (Letztere bisher ganz ohne Familiengeschichte [2]) für Ostpreußen.

Ungeachtet aller Detailkritik wird der Forschung mit den beiden Bänden eine erhebliche Hilfestellung geboten, die viele Untersuchungen wesentlich erleichtern, ja erst ermöglichen dürfte. Die genealogischen Grundlagen sind überprüft und zuverlässig gelegt. Die Forschung kann beginnen.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu: Peter Bahl: Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens, Köln / Weimar / Wien 2001, 196-218 (Kapitel "Konfession").

[2] Vgl. auch den weiterführenden, teilweise bereits das Datenmaterial auswertenden Aufsatz: Detlev Schwennicke: Zur Herkunft, Genealogie und Geschichte der heutigen Grafen von Lehndorff, in: Herold-Jahrbuch NF 3 (1998), 183-196.

Peter Bahl