Johannes Burkhardt / Birger P. Priddat (Hgg.): Geschichte der Ökonomie. Vierhundert Jahre deutscher Wirtschaftstheorie in 21 klassischen Texten - aus den Quellen herausgegeben und kommentiert (= Bibliothek der Geschichte und Politik; Bd. 21), Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 2000, 975 S., ISBN 978-3-618-66810-7, EUR 76,00
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Von Martin Luthers "Bedenken von Kaufshandlungen" (1524) bis zum "Methodenstreit" zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller, vom 16. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, reicht diese vorzügliche Sammlung klassischer deutschsprachiger Texte zur ökonomischen Theorie. Den 21 ausgewählten Texten (fast 640 Seiten) folgt ein 300-seitiger Textkommentar der beiden Herausgeber, der jeweils eine kurze Biografie des Autors, eine Einführung in sein Werk und den ausgewählten Text, einen Stellenkommentar sowie Hinweise auf Schriften umfasst; der Schluss des Bandes führt weiterführende wissenschaftliche Literatur auf. Dem Textkommentar ist, gleichsam als Einleitung in das Buch, ein sehr räsonabler Abriss über die Entwicklung des ökonomischen Denkens zwischen 1500 und 1900 vorangestellt, dazu Überlegungen zur Auswahl der Texte (643-672). Diese, die Einzeltexte wissenschaftstheoretisch verbindende 'Einleitung' sollte vor der Lektüre der theoretischen Texte rezipiert werden, sofern sich nicht das besondere Interesse auf einzelne Texte richtet.
Die beiden Herausgeber, der Frühneuzeithistoriker Johannes Burkhardt und der Wirtschaftswissenschaftler Birger P. Priddat, sind arbeitsteilig jeweils für den halben Umfang des Bandes verantwortlich. Burkhardt übernahm die Edition und Kommentierung der Schriften von Martin Luther (16. Jahrhundert), Johannes Coler, Johann Joachim Becher und Wolf Helmhard von Hohberg (17. Jahrhundert) sowie dreier Texte aus dem 18. Jahrhundert von Johann Peter von Ludewig, Johann Heinrich Gottlob Justi und dem Autoren-Duo Heinrich Zincke und August Friedrich Müller. Priddat bearbeitete die Mehrzahl der im Band versammelten Texte, die aus dem von der kapitalistischen und industriellen Entwicklung stärker durchdrungenen 19. Jahrhundert stammen. Seine Auswahl beginnt mit Johann August Schlettwein, einem Repräsentanten des 18. Jahrhunderts, dem 13 Autoren des 19. Jahrhunderts folgen: Albrecht Thaer, Adam Müller, Karl Heinrich Rau, Friedrich Benedict Wilhelm Hermann, Friedrich List, Carl Wilhelm Christian Schütz, Wilhelm Georg Friedrich Roscher, Karl Marx, Bruno Hildebrand, Gustav Schmoller, Carl Menger und Adolph Wagner.
Den Herausgebern ist eine Textsammlung gelungen, die neben 'Klassikern' des ökonomischen Denkens auch weniger häufig gedruckte oder zitierte Texte umfasst, die geeignet sind, das Denkgebäude der jeweiligen Autoren erkennen zu lassen. Die Lektüre der Texte vermittelt eindrücklich, dass, so die beiden Herausgeber, sich der "Begriff des Ökonomischen [...] erst im Laufe der Geschichte herausgebildet und entfaltet" (645) hat. Im Zusammenhang mit der 'Einleitung' und den Kommentaren wird erkennbar, dass und wie sich der Begriff der Ökonomie mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen, den Möglichkeiten der Technik und den zu bewältigenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen veränderte. Die gelegentlichen Hinweise auf die parallelen und abweichenden Interpretationen in der klassischen britischen 'Political Economy' schärfen zusätzlich die Aufmerksamkeit für die historische (raum-zeitliche) Bedingtheit und Relativität ökonomischen Denkens - ein für die Geschichtswissenschaften evidenter Zusammenhang, der in den ökonomischen Wissenschaften keineswegs immer hinreichend reflektiert wird und in den historischen wohl auch nicht.
Eine Auswahl von 21 Texten kann natürlich nicht allumfassend sein. Doch die Herausgeber begründen ihre konsistente Auswahl gut und präsentieren die Texte in einem stimmigen Konzept.
Die beiden Teile der Sammlung, dies betrifft Texte wie Kommentare, sind fast auf die Seite genau gleich lang. Daher sind die sieben von Burkhardt ausgewählten Texte länger - Justis "Kurzer Systematischer Grundriss aller Ökonomischen und Kameralwissenschaften" umfasst 109 (!) Seiten (216-324) -, und Entsprechendes gilt für die Kommentare zu Autor und Text, die Stellenkommentare und Literaturverzeichnisse. Damit stehen recht umfassende, eingehende und detaillierte Informationen und Hilfsmittel für das weitere Studium zur Verfügung.
Priddat hatte für das 19. Jahrhundert die Qual der Wahl zwischen sehr vielen ökonomischen Denkern und noch viel mehr Texten, anscheinend ohne dass ihm mehr Raum zur Verfügung gestanden hätte. Dies resultiert natürlich in entsprechend kürzeren Texten beziehungsweise Textauszügen und auch in kürzeren Kommentaren, die entsprechend pointiert angelegt sind (mit sieben Autoren hätte man die Entwicklung im 19. Jahrhundert kaum angemessen abbilden können). Es ist Priddat dennoch gelungen, auf wenigen Druckseiten die Grundzüge treffend zu charakterisieren und einzuordnen. Freilich ist die Informationstiefe zu den Autoren, ihrem Werk sowie weiterführender Literatur deutlich geringer als für die Autoren des 16. bis 18. Jahrhunderts.
Als Brosamen für den Kritiker, aber zum Nachteil des Bandes gibt es leider einen unrühmlichen 'Ausreißer', den Beitrag zu Karl Marx. Dieser ist mit einem stichwortartigen Manuskript aus den Vorarbeiten zum 'Kapital' vertreten ("Mystifikation des Kapitals etc.", 554-568), dessen kryptische Sprachakrobatik selbst Kenner seines Werks vor einige Probleme stellen dürfte, die indes mit dem knappen Stellenkommentar kaum zu bewältigen sind. Es scheint, als spielten hier weltanschauliche Präferenzen eine Rolle, denn den Kommentar leitet die Frage ein, ob Marx überhaupt in die Reihe der Ökonomen gehöre (911) - eine natürlich berechtigte Frage, wenn sie auch für die anderen Autoren gestellt würde. Der Kommentar lässt die insgesamt diskutable Zusammenfassung Marx'schen Denkens zudem 'en passant' mit unangemessenen Simplifizierungen enden, die, weder belegt noch begründet, Marx als Zusammenbruchstheoretiker und Moralökonomen erscheinen lassen. [1] Dass die vier (!) weiterführenden Literaturhinweise (969) sich zum Teil nicht einmal mit dem ökonomischen Werk von Marx beschäftigen, verbessert den Eindruck dieses Artikels nicht.
Der Einwand betrifft einen von insgesamt 21 Texten und Kommentaren. Daher sei der gelungene Band allen an der Geschichte des ökonomischen Denkens und an der Geschichte Interessierten zur Lektüre empfohlen, denn die Herausgeber haben durchaus Recht mit ihrer These, dass das ökonomische Denken "in unserer Kultur unübersehbar eine Zentralstellung" einnimmt (645). Ökonomen werden die Zeitreisen in die scheinbar vorwissenschaftliche Ökonomie des 16. bis 18. Jahrhunderts und zur lange Jahre geschmähten Historischen Schule vielleicht von Vorurteilen befreien; die gleichen Zeitreisen werden Historikern vielleicht einen besseren Zugang zu einem Kernbestand der Kulturgeschichte eröffnen.
Der besprochene Band erscheint in der von Reinhart Koselleck herausgegebenen, mittlerweile wohletablierten Reihe "Bibliothek der Geschichte und Politik" des Deutschen Klassiker Verlags, dessen sorgfältige Bearbeitung und Gestaltung sowie eine gute Ausstattung die Fühlbarkeit des hohen Preises reduzieren.
Anmerkung:
[1] Marx wird in indirekter Rede ohne Stellennachweis mit den Worten wiedergegeben: "Entweder breche das kapitalistische System in einer finalen Krise zusammen oder aber die gepressten Arbeiter würden revoltieren [...]" (916), einer Konzeption, unter der die deutsche Sozialdemokratie erst später, seit Kautsky, litt. Und es wird behauptet, er brachte "die Moral des gerechten Lebens in die Nähe zur Herrschaft einer Klasse über die anderen, die der Moral fremd ist" (917). - Beide Thesen verlangen zumindest nach einer Begründung oder einem Beleg.
Alfred Reckendrees