Paul Naredi-Rainer (Hg.): Imitatio. Von der Produktivität künstlerischer Anspielungen und Mißverständnisse (= Kunstgeschichtliche Studien - Innsbruck. Neue Folge; Bd. 2), 2001, 245 S., 156 s/w-, 24 Farbtafeln, ISBN 978-3-496-01242-9, EUR 76,00
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Auf den ersten Blick eine faszinierende Idee und ein reizvolles Konzept: Einmal nicht, wie sonst in der Kunstgeschichte üblich, nur jene Rezeptionen in den Blick zu nehmen, die ein adäquates Verständnis der übernommenen Vorlage dokumentieren, sondern stattdessen auch sozusagen "hermeneutische Unfälle" (mit gleichwohl produktivem Ausgang) zum Gegenstand zu machen. Das Thema wird zwar in einzelnen Publikationen immer wieder einmal angesprochen (Francis Haskells "History and Its Images" versammelt einige solcher Vorgänge) [1], und bereits im September 1980 hatte der Hamburger Kunsthistoriker Christian Beutler auf dem Kunsthistorikertag in Mainz zum Beispiel auch einen Vortrag über "Kunsthistorische Mißverständnisse" gehalten, doch eine eingehendere Bearbeitung hat dieses Phänomen bislang noch nicht gefunden - dies sogar dem Gewicht zum Trotz, das ihm bereits Rudolf Wittkower in seiner kollektiven Erscheinungsform zuwies: "Kollektive Fehlinterpretation ist von einer kaum zu überschätzenden Wichtigkeit. Wir verdanken ihr (...) auch entscheidende Anreize für die Erfindung neuer Symbole"[2].
Die bislang gehegte Zurückhaltung vor einer solchen Bearbeitung des Themas rührt vielleicht auch daher, dass ihm noch zu sehr die negative Aura des peinlichen Irrtums und der blamablen Fehlleistung anhaftet (und dem Versuch, diese von vorneherein zu tilgen, ist möglicherweise auch der Akzent geschuldet, der im Untertitel der vorliegenden Publikation auf "Produktivität" gelegt wurde). Dabei vermag gerade die Untersuchung solcher Missverständnisse (ganz gleich, ob sie nun "produktiv" ausgehen oder nicht) über die Geburt des Neuen hinaus, das aus der falsch verstandenen Vorlage entsteht, sowohl einen signifikanten Einblick in die Denkweise des Missverstehenden zu geben, als auch Fassetten an dem rezipierten Werk zu erschließen, die bei dessen herkömmlichen Verständnis vielleicht bislang verborgen geblieben waren. Und können sich solche hermeneutischen Pannen schon bei der Interpretation beziehungsweise Nachbildung von Kunstwerken ereignen, so erhöht sich das Unfallrisiko umso mehr, wenn Kunstwerke interpretiert oder bearbeitet werden sollen, die selbst bereits als Rezeptionsleistungen fungieren, indem sie etwas aufgreifen, auf etwas anspielen, es imitieren, zitieren oder ämulieren wollen, das möglicherweise dann nicht mehr verstanden wird.
Insofern erweist sich auch die für den Schutzumschlag des Bandes gewählte Illustration als der Themenstellung kongenial: Pieter Bruegels d.Ä. "Turmbau zu Babel" (Rotterdam, Museum Boijmans van Beuningen), mit seiner Spiralrampe selbst schon vielleicht dem Missverständnis aufsitzend, dass das biblische Bauwerk mit der von Herodot (zusätzlich falsch!) beschriebenen, babylonischen Zikkurat gleichzusetzen sei, wird einem Ausschnitt aus der "Turm" betitelten Architekturfantasie Annette von der Beys von 1990 gegenübergestellt, womit zugleich die von Antje Senarclens de Grancy in ihrem Beitrag (228 - 245) analysierte Beobachtung sinnfällig dokumentiert wird, "daß Spiraltürme bis und vor allem heute im allgemeinen spontan mit dem Babelturm in Verbindung gebracht werden - und umgekehrt" (230).
Mit Paul Naredi-Rainer, der sich in seinem Buch "Salomos Tempel und das Abendland - Monumentale Folgen historischer Irrtümer" (Köln 1994) schon einmal mit missverstandenen Architekturüberlieferungen und der daraus erwachsenden Bauikonologie beschäftigte, hat schließlich auch ein Sachverständiger auf diesem Gebiet die Herausgabe des Bandes übernommen. Da "Imitatio" (verstanden hier im Sinne einer Nachahmung der Natur, klassischer Vorbilder sowie des in der künstlerischen Schau entworfenen inneren Idealbildes eines Kunstwerks) sozusagen als grundlegende Voraussetzung künstlerischer Anspielungen und daraus eventuell resultierender Missverständnisse angenommen wurde, schaltet Naredi-Reiner folgerichtig Götz Pochats begriffsgeschichtliche Untersuchung "Imitatio und Superatio" als Grundlagentext den nachfolgenden Beiträgen vor, die sodann die unterschiedlichen Fassetten des Phänomens "Imitatio" beleuchten sollen.
Doch Pochats Aufsatz gerät problematisch, da er chronologisch angelegt ist und damit immer wieder der großen Gefahr erliegt, in eine bloße Nacherzählung abzudriften, anstatt diachron erhellenden Bezügen und Strukturen nachzuspüren; nicht einmal das Nachzeichnen von Entwicklungen will mithilfe des parataktischen Reihenprinzips so recht gelingen, da sich die Geschichte der "Imitatio" keineswegs als ein stringent verlaufender Prozess erweist - mithin wäre es wahrscheinlich hilfreicher gewesen, dieser Komplexität Rechnung zu tragen, indem man einzelne Aspekte des "Imitatio"- Begriffes isoliert und je für sich durch die Zeiten hindurch verfolgt hätte.
Erste Zweifel daran, ob mit "Imitatio" wirklich ein die Beiträge verbindender, adäquater Nenner gefunden wurde, nährt dann bereits der (sehr sparsam illustrierte) Artikel Johann Konrad Eberleins, dessen der Siegburger Madonna (Köln, Schnütgen-Museum) gewidmete Ausführungen eigentlich kaum des Phänomens und des Begriffes der "Imitatio" bedürfen, da er sich darauf konzentriert, formale Bezüge zu Vorläuferwerken zu analysieren, wobei zu fragen wäre, ob man in diesem Fall - wie (64) und (70) nahe gelegt - zu recht davon sprechen kann, dass ein solcher künstlerischer Ahne "imitiert" wird. Immerhin macht dies deutlich, dass man bei einer Erörterung solcher Vorgänge im Kontext der "Imitatio"- Problematik stets auch nach den Beweggründen für solche Übernahmen fragen muss, denn - und dies gezeigt und dafür sensibel gemacht zu haben, ist zweifellos eines der Verdienste des materialreichen Beitrages von Pochat - "Imitatio" besitzt viele Fassetten, und bei einer bewussten Anwendung des Begriffes müsste jeweils auch vorher geklärt werden, in welchem Sinne man den Terminus verwendet, da man ansonsten die mit ihm bereitstellten Möglichkeiten zu erkenntnisfördernder Trennschärfe wieder verschleift.
Auch bei der Lektüre von Lukas Madersbachers spannender Recherche zu den Darstellungen von Landschaften in Glaskugeln fragt man sich, ob er im Kontext des "Imitatio"- Begriffes angemessen präsentiert ist, verzichtet der Autor doch nicht nur auf eine explizite Verwendung des Wortes, sondern weist er sogar (75) ausdrücklich die von Otto Pächt formulierte These zurück, erst Jan van Eycks technische wie künstlerische Fertigkeit, Transparenz nun auch im Medium der Malerei zu imitieren, habe solche Darstellungen von Landschaftskugeln ermöglicht.
Doch selbst in einem Beitrag wie demjenigen von Geerd Westrum über "Farbentzug und neue Spiritualität im Mittelalter" (konsequent, wenn auch etwas überraschend nur von Abbildungen in Schwarzweiß begleitet), wo die "Imitatio"- Problematik greifbar nahe liegt, wird das Phänomen dann eher mit beschwörenden Worten umkreist als wirklich durchdrungen. Nur an zwei Stellen wird dann jeweils eine Fassette der "Imitatio" näher beleuchtet, wenn einmal darauf hingewiesen wird (99f.), dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts versucht würde, die "Imitatio" des Heiligen (und das heißt: des Heiligen sowohl als Person wie auch als Numinosum) mithilfe der Monochromie zu leisten, wo diesbezüglich zuvor Farbigkeit zur Anwendung kam (was eine gewisse Abstraktion nahe legt, der Westrum jedoch nicht weiter nachgeht), zum anderen (103) die "Imitatio" im Paragone-Kontext erörtert wird und daraus als etwas hervorgeht, das (nicht unbedingt überraschend) die Aspekte von Virtuosität und Wettbewerb einschließt. Freilich missversteht Westrum (103) einen zitierten Passus Vasaris: dieser gesteht Veit Stoss gerade nicht "die Fähigkeit zum florentinischen Disegno" zu, sondern Vasari argumentiert vielmehr, dass der nordalpine Bildhauer seinen Mangel an Disegno eben dadurch wettzumachen verstehe, dass er das verwendete Material bis hin zur äußersten Feinheit reduziere.
Mit Hubertus Günthers Aufsatz scheint sich der Leser hingegen wieder auf dem Terrain einer klassischen Fragestellung von Nachahmung, Anspielungen und Missverständnissen zu befinden, geht der Autor doch der Frage nach, wie das generell eher unantike Erscheinungsbild von italienischer Renaissancearchitektur mit deren Anspruch in Einklang gebracht werden kann, antike Vorbilder wieder zu beleben. Um die hier angeblich angestrebte Nachahmung würdigen zu können, muss man mithin erst einmal nachvollziehen, welches Verständnis man in der Renaissance von der Antike hatte. Folgerichtig untersucht Günther, welche Bauten man (zum Teil irrigerweise) für antik hielt und welche Formen man als Antikenrezeption auffasste, doch bei seiner das Phänomen der Kreuzkuppelkirche in Venedig in den Fokus nehmenden, materialreichen und breiten Studie zeichnet sich zuletzt ein hermeneutischer Zirkelschluss als Lösung ab: man hielt für antik und mithin für vorbildlich, was man aus der eigenen Tradition kannte und daher irrtümlich für antik hielt. Auch Günthers Beitrag erweist sich dabei weniger als eine spezifische, die Begriffspole "Imitatio" und "produktive Mißverständnisse" berücksichtigende Analyse denn vielmehr als eine in sich geschlossene Fallstudie, welche die genannten Begriffe mehr streift als reflektiert.
Wie schon zuvor Geerd Westrum (95) und später Piotr Scholz (177, schon im Untertitel) betont auch Gregor Martin Lechner OSB gegen Ende seines den Vorlagen barocker Heiligenkalender gewidmeten Beitrages (160) das Skizzenhafte der eigenen Darstellung: während dieses Verfahren bei Lechner jedoch noch immer klare Züge zeitigt, vermag Scholz angesichts des immensen, von ihm in den Blick genommenen Stoffgebietes (Illustrationen zu den Erzählungen aus "1001 Nacht", vom 18. Jahrhundert an bis in die Gegenwart) nur "multa", aber nicht "multum" aufzuzeigen: Zwar spricht der Autor in seiner Eingangsanmerkung davon, dass er die philologisch-textkritische Methodik zur Erfassung narrativer Bildkunst anwenden wolle, doch seine Untersuchungen zur "Imitatio des Orients" (192) und zur "Imitation des Imaginären" (199) vermag angesichts der Breite der Darstellung nur vage und fragmentarische Entwicklungslinien aufzuzeigen. Eine thematische Einzeluntersuchung, ob, wann, wie und wo ein bestimmter Moment aus einer Erzählung im Verlauf seiner Illustrationsgeschichte bildlich umgesetzt worden ist, hätte hier sicherlich mehr zu Tage gefördert.
Als produktiv weist sich das von Norberto Gramaccini schon zuvor an zwei, Josef Anton Koch beziehungsweise seinem Schüler Johann Michael Wittmer zuzuschreibenden Fassungen der "Landschaft mit Raub des Ganymed" aufgezeigte Missverständnis insofern aus, als es dazu beitragen kann, die Lehrer- von der Schülerarbeit zu unterscheiden. Tatsächlich aber stellen sich die Bezugsverhältnisse zwischen zwei Vorzeichnungen und zwei Gemäldefassungen komplexer dar als vom Autor nahe gelegt, scheint es sich bei dem von Wittmers Hand stammenden Zeichnungsblatt (Wien, Akademie der Bildenden Künste) doch keineswegs um eine reine Kopie nach dem Originalentwurf Kochs (Wien, Albertina) zu handeln, denn die vor dem Gebüsch (anstatt hindurch) laufenden Schafe rechts folgen doch eindeutig dem 1838 von Koch und Wittmer gemeinsam ausgeführten Gemälde (Bern, Privatbesitz) ebenso wie die im Bildhintergrund zu sehende Hütte und die Pose des ganz rechts stehenden Satyrs, während das mit dieser (Teil)Kopie vorbereitete Gemälde Wittmers von 1838/39 (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum) dann tatsächlich wieder in einzelnen Motiven dem Ursprungsentwurf Kochs folgt (die Schafe laufen nun durch das Gebüsch, die Position des Satyrs rechts wird stark reduziert).
Aus nicht thematisierten Gründen (hätte der Band sonst eine zuvor festgelegte Seitenzahl gesprengt?) sind die letzten beiden Beiträge des Buches in einer kleineren Type gesetzt als die vorangegangenen Artikel: es handelt sich hierbei zum einen um die eingangs bereits angesprochenen Ausführungen von Senarclens de Grancy zur Ikonographie des Babel-Turms, zum anderen jedoch um einen Aufsatz des Herausgebers Naredi-Rainer, der sich mit Max Klingers "Beethoven"-Skulptur unter materialikonographischem Aspekt beschäftigt und dabei einen möglichen Einfluss der Musik Gustav Mahlers wirksam sieht, die sich - ebenso wie Klingers Bildwerk - der offen hervorgekehrten Heterogenität der verwendeten Materialien verpflichte. So inspirierend und spannend diese Hypothese jedoch auch formuliert sein mag, so wenig spürt der Autor selbst ihr nach, sonst hätte er nicht die Chance verschenkt, mit ihrer Hilfe die von ihm bloß beschriebenen Unterschiede zwischen dem 1886 fertig gestellten Gipsmodell (heute: Bonn, Beethovenhaus) und der 1902 vollendeten Skulptur (Leipzig, Neues Gewandhaus) zu erklären: denn während das Modell den Komponisten noch unter Anwendung naturalistischer Verfahren (Porträthaftigkeit, Inkarnat) vorstellt, steigert die Skulptur den Eindruck des Monumentalen, Titanenhaften und zugleich Heterogenen noch dadurch, dass der Musiker nun stark idealisierte Züge trägt und ferner ganz in weißem, sich von der dunklen Bronze des Throns absetzendem Marmor dargestellt wird. Und da Mahlers Erste Sinfonie "Der Titan" 1889 in Budapest uraufgeführt und ab 1892 auch in Deutschland gespielt wurde, gewinnt Naredi-Rainers Verweis auf die verwandten Gestaltungsprinzipien von Bildhauer und Komponist in diesem Licht einiges für sich.
"Imitatio", die Produktivität künstlerischer Anspielungen und Missverständnisse: wie gesehen setzen sich nur die wenigsten Beiträge dieses Bandes dezidiert mit diesen Themen auseinander - dies hat vielleicht mit der Gattung zu tun, der die Publikation angehört. 1994 als Neubeginn einer in der Nachkriegszeit begründeten, aber bald darauf wieder eingestellten Reihe ins Leben gerufen, haben es sich die "Kunstgeschichtlichen Studien - Innsbruck" zum Ziel gesetzt, "als lose Folge von Sammelschriften zur Darstellung bestimmter thematischer Komplexe" zu dienen (so Naredi-Rainer (1) im Vorwort von Band 1 der "Kunstgeschichtlichen Studien - Innsbruck": "Sinnbild und Abbild", Innsbruck 1994). Es wird mithin versucht, verschiedene Beiträge unter einem übergreifenden Thema zu versammeln; ist der als Dachbegriff fungierende Leitgedanke dabei offen und weit genug formuliert, so vermag dies auch zu gelingen - im vorliegenden Fall jedoch wurde ein sehr spezifischer Gegenstand gewählt, der sich unfairerweise geradezu gegen die von ihm überschriebenen Texte wendet. Denn für sich genommen sind sämtliche Beiträge ausgesprochen lesenswert und anregend - problematisch ist nur, dass der durch den Titel umrissene Kontext im Leser Erwartungen weckt, die von den Beiträgen nicht eingelöst werden können. Insofern führt der Band - zumindest teilweise - selbst das zum Thema bestimmte Phänomen des Missverständnisses vor; inwiefern es sich dabei um ein produktives Missverständnis handelt, wird erst die Zukunft zeigen, wenn sich ein Autor oder Herausgeber - eventuell sogar angeregt durch die vorliegende Publikation - wieder mit derartigen hermeneutischen Unfällen auf dem Gebiet der Kunstgeschichte befassen wird.
Anmerkungen:
[1] New Haven 1993, siehe dort die Seiten 21, 95f., 100, 107.
[2] "Die Interpretation visueller Symbole in der bildenden Kunst", hier zitiert nach der Übersetzung von Peter Gerlach und Ekkehard Kaemmerling, in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), "Bildende Kunst als Zeichensystem - Band 1: Ikonographie und Ikonologie", Köln 19874, 251.
Henry Keazor