Barbara Duden / Jürgen Schlumbohm / Patrice Veit (Hgg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17. - 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 170), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 328 S., 19 Abb., ISBN 978-3-525-35365-3, EUR 36,00
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"Krank, als schwanger verdächtigt, wurde sie aufgenommen; gesund, nicht schwanger, entlassen" (139). So vermerkt der akademisch gebildete Göttinger Arzt Friedrich Benjamin Osiander die Krankengeschichte einer angeblich schwangeren Frau in seinen Hospitaltagebüchern. Ort der Evidenzschaffung war das Spital, Untersuchungs- und Verhandlungsgegenstand der unsichtbare, von der Frau gespürte, von der "Wissenschaft" aber nicht diagnostizierte Embryo. Das Spannungsfeld zwischen dem Spüren der Leibesfrucht durch die Schwangeren und dem Wissen beziehungsweise der Diagnose der zunehmend professionalisierten Gebär-Wissenschaft wird mit diesem interdisziplinär orientierten, vielschichtigen Sammelband in insgesamt zehn Beiträgen ausgelotet. Eine "Erfahrungsgeschichte des Schwangergehens" wird "mit einer Wissens- und Technikgeschichte des Ungeborenen verknüpft" (8).
Einleitend betont Barbara Duden ("Zwischen 'wahrem Wissen' und Prophetie: Konzeptionen des Ungeborenen", 11-48) den Unterschied zwischen der Schwangerschaftswahrnehmung (dem "Schwangergehen", der "Hoffnung") der Frauen und dem Wissen über diese Schwangerschaft in der Vormoderne. Männerdominierte gelehrte Diskurse verdrängten den durch die Schwangerschaft veränderten Erfahrungsgrund der Frauen. Der Deutung der somatischen Veränderung der Frauen standen anatomische "Embleme" gegenüber, verdeutlicht am Beispiel des als kleiner Mensch dargestellten, mit "Windeln" umgebenen Kindes im geöffneten Uterus bei Leonardo da Vinci oder bei Andreas Vesalius. Aufgrund von "Blickhemmungen" ermöglichte auch die Erfindung des Mikroskopes den Wissenschaftlern paradoxerweise kein Erkennen embroyonaler Entwicklungsstufen bei der Darstellung des Ungeborenen, sondern führte zu Konstruktionen wie Molen, Muttergewächsen oder Mondkindern. "Die Schwangerschaft wie das Ungeborene sind nie 'natürliche' Gegenstände des Denkens - sie sind eminent historische Objektivierungen" (46).
Konfessionellen Einflüssen bei der Konzeption des Ungeborenen gehen Patrice Veit ("Ich bin sehr schwach, doch drückst du nach ...": Evangelisches Kirchenlied und seelsorgerische Begleitung von Schwangeren im 17. und 18. Jahrhundert, 49-74) und Ulrike Gleixner ("Todesangst und Gottergebenheit. Die Spiritualisierung von Schwangerschaft und Geburt im lutherischen Pietismus", 75-98) nach. Die von Männern verfassten Kirchenlieder und Gebete, in denen das Leiden als Ausdruck göttlichen Willens begriffen wurde, begleiteten die Gebärenden als "geistliche Mittel". Die positiv gegenüber Schwangerschaft eingestellten protestantischen Trostbücher und die Gebetsliteratur interpretierten die Schwangerschaft im 17. Jahrhundert als Trost und Buße, der Pietismus betonte das Kinderkreuz als den im Sinne Max Webers eigentlichen Beruf, ja die "Berufspflicht" der Ehefrau. Am Beispiel pietistischer Bürgerinnen aus Württemberg verdeutlicht Ulrike Gleixner die Übernahme der in den Erbauungstexten vorformulierten Argumentationsstereotypen in die Lebenspraxis der Frauen; die vollständige Ergebenheit in die Vorsehung Gottes wurde in Tagebüchern immer wieder dokumentiert. Die pietistische Haltung und Sprache prägten das physische Erleben der Frauen ganz wesentlich. Gleichzeitig bot diese Spiritualisierung von Leid und Angst auch Entlastung für die Gebärenden. Kindestod diente auch als Druckmittel der Männer gegenüber ihren Frauen, deren Ungehorsam provozierte diese Gottesstrafe.
Der Fötus als Bürger und seine Stellung zur Mutter und zur Gesellschaft (am Beispiel des Kaiserschnittes und der künstlichen Frühgeburt) im Schnittpunkt der Diskurse von Medizin, Religion, Philosophie und Politik stellt Nadia Maria Filippini in ihrem Beitrag heraus ("Die 'erste Geburt': Eine neue Vorstellung vom Fötus und vom Mutterleib", 99-127). Die Stichserie des Turiner Arztes Giovanni Battista Bianchi visualisierte 1741 embryonale Wachstumsphasen - der Fötus trat dem Betrachter nunmehr aufrecht entgegen - und beeinflusste etwa den sizilianischen Jesuiten Emanuele Cangiamila, der entgegen der herrschenden Lehrmeinung für eine Beseelung der Leibesfrucht bei der Befruchtung, für eine "erste Geburt" vor der eigentlichen, "zweiten" Geburt eintrat. Der Embryo erlangte eigene Rechte, der Vorrang des Lebens der Mutter gegenüber dem Kind wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Diskussion gestellt.
Die Göttinger Hospitaltagebücher des bereits eingangs erwähnten Arztes Friedrich Benjamin Osiander verdeutlichen, wie sehr die Ärzte bei der Diagnose gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch auf die Worte der Schwangeren angewiesen waren. Verhandlungen zwischen dem Arzt und der Schwangeren über deren Zustand werden darin dokumentiert; Aussagen über Konzeption, Befinden während der Schwangerschaft oder der erwarteten Schwangerschaftsdauer protokolliert und von Jürgen Schlumbohm in qualitativen und quantitativen Analysen aufbereitet ("Grenzen des Wissens: Verhandlungen zwischen Arzt und Schwangeren im Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800", 129-165). Um die Verwissenschaftlichung des Alltages im Kreißsaal angesichts der Auseinandersetzung von Hebamme und Oberarzt am Beispiel des Pariser Entbindungshospitals und der Person des Oberarztes Paul Dubois dreht sich der Beitrag von Paule Herschkorn-Barnu ("Wie der Fötus einen klinischen Status erhielt: Bedingungen und Verfahren der Produktion eines medizinischen Fachwissens, Paris 1832-1848", 167-203). Der Begriff des "Risikos" wurde nach langen quantitativen Untersuchungsreihen von Dubois ebenso wie der systematische Einsatz der geburtshilflichen Auskultation in die Geburtsdiagnose erstmals eingeführt. Eine Produktion rationalen Wissens abseits der Aussagen der Schwangeren setzte ein, die pränatale Medizin entstand - das Konzept des "fötalen Gefahrenzustandes" generierte den Fötus als klinischen Status, dessen Erhaltung auch Eingriffe mittels Zange erforderte.
Der bildlichen Umsetzung der Embryonen widmen sich zwei Beiträge (Ulrike Enke: "Von der Schönheit der Embryonen. Samuel Thomas Soemmerrings Werk 'Icones embroyonum humanorum', 1799", 205-235; Nick Hopwood: "Embryonen 'auf dem Altar der Wissenschaft zu opfern': Entwicklungsreihen im späten neunzehnten Jahrhundert", 237-272). Die theoretisch gegensätzlich zwischen Epigenese und Präformation angesiedelten Vorstellungen des Ungeborenen erlebten durch Soemmerrings hervorragend bebildertes, 1799 erschienenes Tafelwerk, das vor allem auch eine zeitliche Zuordnung der gezeigten Entwicklungsstadien des Ungeborenen vornahm, eine Wandlung. Soemmerring führte, diesem Dilemma entkommend, den kurzlebigen Begriff der Metamorphis ein, um die Veränderungen des Fötus zu kennzeichnen. Sein bleibendes Verdienst besteht aber in einer Ästhetisierung des Ungeborenen und in der Genauigkeit der visuellen Darstellung. Die Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte der Normentafel beziehungsweise die dreidimensionalen Modelle des Anatomen Wilhelm His machen deutlich, wie offen beziehungsweise konfliktbehaftet die Embyrologie noch um 1880 war. Seiner Auseinandersetzung mit den darwinistischen Ansätzen von Ernst Haeckel konnte His schließlich seine überaus wirkungsmächtige, ab 1880 in Fortsetzungen erschienene "Anatomie menschlicher Embryonen" entgegensetzen, die Generationen von Medizinern als Visualisierungsobjekte während ihrer Ausbildung vorgelegt bekamen.
Vorwiegend auf Gerichtsakten stützen sich Claudia Töngi ("Gewalt gegen Schwangere vor dem urnerischen Strafgericht des 19. Jahrhunderts: Zur sozialen Bedeutung von Gewalt und Aggression", 273-291) und Cornelie Usborne ("Gestocktes Blut oder 'verfallen'? Widersprüchliche Redeweisen über unerwünschte Schwangerschaften und deren Abbruch zur Zeit der Weimarer Republik", 293-326) in ihren Beiträgen. Gewaltanwendung gegen die von einer hoch entwickelten Schutzkultur umgebenen Schwangeren in Uri zwischen 1803 und 1885 kam eher selten vor. Männliche Gewalt wurde häufig durch den als Bedrohung empfundenen Zustand der Schwangerschaft, der das häusliche Machtgefüge veränderte, evoziert. Diese reproduktiven Phasen einer Beziehung (Schwangerschaft, Kindbett) erwiesen sich als "Verdichtungsmomente, in welchen sich das Zusammenspiel von materiellen Konflikten, realen Veränderungen im Machtgefüge einer Ehe und Fantasien in besonderer Weise zuspitzen konnte" (291). Der Beginn der Schwangerschaft, das Aussetzen des "Monatsflusses" oder die "Blutstörung" war für die Frauen bis ins 20. Jahrhundert ein ungewisser, nur schwer zu definierender Körperzustand. Zwar benutzten die Frauen vor Gericht in der Weimarer Republik überraschend häufig medizinisch-juristische Begriffe des öffentlichen Diskurses (Kirche, Sittlichkeitsvereine, Juristen, Ärzte) über Schwangerschaft, doch lassen sich in den widersprüchlichen Reden vor Gericht auch traditionelle, übrigens auch in Zeitungsannoncen für Abortiva nachweisbare Begriffe wie "Blutstockung" nachweisen.
Dieser außerordentlich facettenreiche Sammelband, der verschiedene Diskurse miteinander verbindet oder auch gegeneinander stellt, macht die historische Konstruktion des "klinischen Zustandes" des Embryos greifbar und verknüpft verschiedene Disziplinen miteinander. Die zehn Beiträge werfen, jeweils ausgehend von unterschiedlichem Quellenmaterial beziehungsweise verschiedenen Ansätzen, ein spannend zu lesendes Schlaglicht auf eine Wissenschaftsgeschichte des visualisierten Verborgenen und die Kontroversen darum. Der gut lesbare Band macht auch für "Fachfremde" gut nachvollziehbar "Unsichtbares" sichtbar und wird sich als anregend für mehrere wissenschaftliche Disziplinen erweisen; er besticht auch dadurch, dass hier Interdisziplinarität ernst genommen wird.
Martin Scheutz