Corinna Höper / Jeanette Stoschek / Elisabeth Kieven (Hgg.): Giovanni Battista Piranesi - Die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Akten des internationalen Symposiums Staatsgalerie Stuttgart 25. bis 26. Juni 1999, Marburg: Jonas Verlag 2002, 124 S., ISBN 978-3-89445-301-5, EUR 20,00
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Genialität, durchaus im modernen psychologischen Wortverständnis genommen, schien von jeher die angemessene Beschreibungskategorie für Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) und sein Werk. Schon die erste, ein Jahr nach seinem Tod, also 1779 erschienene Biografie von Giovanni Ludovico Bianconi folgte dieser Maxime. Im 19. Jahrhundert war es vor allem der Exzentriker Piranesi, der Halluzinator der "Carceri", jener scheinbar aus Opiumräuschen geborenen Kerkerinterieurs, der das Denken der "Schwarzen Romantik" beschäftigte. Mittlerweile hält es die Forschung jedoch eher mit dem ebenso fantasievoll wie penibel rekonstruierenden Bauarchäologen Piranesi, dem Architekturutopisten, der in der papierenen Welt seiner Grafik avantgardistisch die Schwelle zur Moderne überschritt. Wie vielversprechend klingt es da, wenn ein Buch "Die Wahrnehmung von Raum und Zeit" seitens dieses Künstlers zu seinem Titel macht (als Motto eines die Piranesi-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart 1999 begleitenden Symposiums, dessen Beiträge nun erschienen sind).
Um es vorwegzunehmen: Die Erwartung des Lesers wird hinsichtlich einer vom Buchtitel angekündigten neuen Dimension im Schaffen des großen Grafikers ziemlich enttäuscht. Sabine Poeschel etwa behandelt die venezianische Tradition des Capriccio. Gewiss, das ist ein wichtiger Kontext, in dem Piranesi heranwächst. Wirklich Neues, über die ältere Literatur Hinausgehendes erfährt man allerdings kaum. Und wenn die Autorin von "gesteigerter Wirklichkeit" bei Piranesi spricht, geht das eben über die allbekannte Rolle der "Magnificenza", der ins Grandiose ausgreifenden rekonstruierenden Fantasie Piranesis nicht hinaus, erläutert keine innovativen Raum-Zeit-Erkenntnisse.
Während in diesem Aufsatz aber immerhin ein Bezug zu Piranesi hergestellt bleibt, so findet sich in dem Beitrag von Jörg Garms über zeitgenössische Architekturfantasien eine derartige Referenz allenfalls am Rande. Es bleibt dem Vorwissen des Lesers überlassen, Piranesi irgendwie in diesen Kurzüberblick über eine vielfach bereits dargestellte Materie einzuordnen.
Ein Stück Wirkungsgeschichte hingegen legt Hans-Christoph Dittscheids Beitrag "Ein französisches Bauprojekt in Piranesis Manier" dar: Dass Piranesi besonders über die französischen Akademie-Stipendiaten in Rom bis auf die sogenannte Revolutionsarchitektur von Ledoux und Boullée weitergewirkt hat, ist freilich wieder nichts Neues. Doch wie dies bei Charles De Waillys bislang noch nicht wissenschaftlich publiziertem Projekt für einen Pavillon des Sciences et des Arts für Zarin Katharina II. zum Tragen kam, ist interessant und wichtig zu sehen.
Mit einigen Fragezeichen möchte ich den Aufsatz von Klaus Jan Philipp versehen, der sich der "Macht des Bildes. Architektur und Natur um 1800" widmet. Zwar geht seine Diskussion von einem Blatt Piranesis in den Antichità di Cora (1764) aus, auf dem zyklopisches Mauerwerk aus einem Fundus aus Naturgestein herauswächst. Doch war es wirklich nötig, den angesprochenen Konnex zwischen Architektur und Natur - ein für diese Zeit geradezu topisches Theoriemodell - so ausführlich anhand einer, wie der Autor selbst anmerkt, auf "der Nachtseite der Aufklärung" angesiedelten Schrift zu erörtern? Nämlich anhand Simon Samuel Wittes 1789 erschienener Abhandlung, die nichts Abstruseres beweisen wollte, als dass die ägyptischen Pyramiden und die Ruinen von Persepolis nicht "Werke menschlicher Kunst", sondern "ein Werk der Natur" seien? Soll man Piranesi hier wirklich zuordnen, als eine Art Katalysator? Versteht man sein Blatt nicht besser aus einer zu seiner Zeit in Italien stattfindenden systematischen Umwertung von Vitruvs drei Zielen, der "firmitas", "utilitas" und "venustas" eines Bauwerks"? Eine Umwertung, die nicht zuletzt ein Theoretiker vornahm, dessen Ansatz Piranesi sicher vor Augen hatte: der venezianische Franziskanerpater Carlo Lodoli (1690-1761).
Bekanntlich hat Piranesi stets, um die Überlegenheit der römischen und etruskischen Architektur über die griechische zu beweisen, die "Fermezza" (die zeitüberdauernde, naturgleiche Festigkeit) römischer Kolossal- und Nutzbauten als Ausdruck von Macht und Größe betont. Darin vergleicht sich sein zyklopisches, megalomanes Mauerwerk mit der "ewigen" Natur, und nicht über die Schiene irgendeines abstrusen Entstehungsmodells architekturgleicher Naturprodukte, das ein Herzoglich Mecklenburgischer Hofrat und Professor des Natur- und Völkerrechts ein paar Jahre nach dem Tod Piranesis an der Universität Rostock vorgelegt hat. Vergleichbare Abstrusitäten geisterten freilich auch zu Lebzeiten Piranesis herum, Philipp verweist auf die schottische Fingalshöhle, deren Tektonik mit Architektur verglichen wurde - doch war ein derartiges Vexierspiel für Piranesi ausschlaggebend? Wohl nicht. Mir scheint hier durch die Hintertür aus Andeutungen wieder der "Protosurrealist" Piranesi auf die Bühne gebracht.
Zwei Beiträge zweier ausgewiesener Piranesi-Kenner widmen sich uneingeschränkt diesem Künstler. Der eine, der dem Spezialisten besonders wichtige, von Andrew Robinson bearbeitet die späten gezeichneten Architekturfantasien, stellt, gestützt auf die Entwicklung von Piranesis Verhältnis zu Raum und Fläche, neue Ergebnisse vor und revidiert bisherige Datierungen. Der zweite, von John Wilton-Ely, bringt ein jederzeit nützliches Resümee der bisherigen Forschungen des Autors (der dabei freilich einige ältere Literaturtitel nicht zur Kenntnis nimmt; insbesondere einen Hinweis auf das wichtige Buch von Bruno Reudenbach hätte man sich hier wie in so manchem anderen Symposiumsbeitrag auch erwartet [1]).
Abschließend sei der Aufsatz von Corinna Höper herausgegriffen, der sich mit dem Verhältnis von Schrift und Darstellung in den Radierungen Piranesis beschäftigt. Er nimmt das Motto des Buches ernst und sucht wirklich nach Wegen, die neuartige Wahrnehmung und bildnerische Umsetzung von Raum und Zeit im Schaffen dieses Künstlers, den die Autorin zu Recht auch als Buchkünstler sieht, vorzustellen. Das Trompe-l'œil-Verfahren wird Piranesi zu einem Mittel, Arbeitsvorgänge als "work in progress" darzustellen und dabei Prinzipien späterer Montage-Technik vorwegzunehmen. Bemerkenswert, wie Piranesi auch auf die Tradition der Initialen-Kunst zurückgreift und mit deren Hilfe eine höhere Wirklichkeit, einen, wie die Autorin schreibt, "neuen Welten-Raum" konstituiert. Schade, dass Höper nicht den wichtigen Aufsatz von Werner Oechslin, "Architektur und Alphabet" [2] (hierin auch Hinweise zu Piranesi) diskutiert, der die Variationsfähigkeit von Buchstaben und ihre geometrische Konstruierbarkeit mit den analogen Elementarien des Architektursystems zusammensieht - erneut ein Weg, die Vergleichbarkeit von Kunst und Natur ins Spiel zu bringen, in diesem Fall auf der Ebene einer archetypischen und universalen "Sprache" und Sprachfähigkeit.
Das vorliegende Buch, so das abschließende Urteil, ist durchaus nützlich, aber ein wirklich neues oder zumindest entscheidend modifiziertes Piranesi-Bild entwirft es meines Erachtens nicht.
Anmerkungen:
[1] Bruno Reudenbach, G. P. Piranesi. Architektur als Bild. Der Wandel in der Architekturauffassung des achtzehnten Jahrhunderts. München 1979
[2] Werner Oechslin, "Architektur und Alphabet", in: Carlpeter Braegger (Hg.), Architektur und Sprache, München 1982, S. 216-254
Norbert Wolf