Johannes Fried / Johannes Süßmann (Hgg.): Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne (= Beck'sche Reihe; 1450), München: C.H.Beck 2001, 193 S., ISBN 978-3-406-47576-4, EUR 9,90
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Johannes Fried / Olaf B. Rader (Hgg.): Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München: C.H.Beck 2011
Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012
Johannes Fried: Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, 2. Aufl., Ostfildern: Thorbecke 2002
Der vorliegende Sammelband, entstanden aus einer Vortragsreihe an der Universität Frankfurt im Rahmen des transdisziplinären Forschungskollegs "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel", versammelt ganz unterschiedliche Beiträge von Ethnologen, Altertumswissenschaftlern, Philosophen und Historikern zum Thema der Geschichtlichkeit von Wissensgesellschaften. Untersucht werden Dynamik und Bruch von Wissenskulturen im Zeitraum zwischen Neolithikum und Gegenwart. Die insgesamt acht Beiträge, die den Charakter renommierter Festvorträge haben, umspannen große Zeitläufe und widmen sich dabei grundsätzlichen Fragen wie der Rolle materieller und verschriftlichter Symbole bei der Aufbewahrung des Wissens, der Beziehung zwischen logischem Raum des Wissens und dem Gesetzescharakter der Naturwissenschaft, dem Schicksal der Mysterien des "Hermes Trismegistus" von der Spätantike bis zur Jahrhundertwende oder dem Verhältnis radikaljüdischer Erneuerungsbewegungen der Weimarer Zeit zum klassischen deutschen Bildungsideal, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die ausgesprochen heterogenen Beiträge werden allerdings durch die Grundidee zusammengehalten, dass der Begriff der Wissensgesellschaft seine Anwendung nicht eigentlich erst für die Gegenwart rechtfertigt, sondern so alt ist, wie die menschliche Kultur selbst - ja, dass Kultur, Wissen, Überlieferung und Aneignung unmittelbar zusammengehören und ebenso der Medien der Aufzeichnung, der Archivierung und Transferierung bedürfen, wie ihr Konnex fortwährenden Umstürzen und Verschiebungen unterliegt.
Wie die Herausgeber Johannes Fried und Johannes Süßmann eingangs klar machen, trifft dies schon den Wissensbegriff selbst. Er changiere historisch zwischen religiöser Einsicht, praktischer Klugheit und technischer Problemlösung, die oft oral weitergegeben wurden, bis zu seiner wissenschaftlichen Bestimmung in Relation zu Wahrheit und Geltung. Wissen ist nicht selbst eine definierbare Kategorie; vielmehr wissen wir nicht, "was Wissen ist" (9). Doch biete Wissen als Gegenstand der Geschichtswissenschaft ein "Fenster zur Vergangenheit", das auf gesellschaftliche Selbstverständnisse ebenso verweise, wie es als Fenster "opak" bleibe. Das bedeutet: Es präsentiere sich im Modus von Resultaten, die verbergen, welche Fragen und Problemstellungen sie einst bewegten. So lasse sich die Geschichte nicht eigentlich an den Antworten ablesen, sondern vielmehr an Übergängen, Sprüngen oder "Revolutionen", an deren Diskontinuität sichtbar würde, was unter Wissen verstanden, wie es gerechtfertigt, eingeordnet oder verworfen und mittels welcher Techniken und Institutionen es aufbewahrt und weitergegeben wurde (13).
Die Disparität der Wissensbestände macht der Archäologe Colin Renfew deutlich, indem er gegen deren dominante Semantisierung die Bedeutung "materieller Symbole" rehabilitiert (21ff.). Darunter sind nicht nur Reste, Fundstücke oder Grabbeilagen zu verstehen, sondern jene Einwirkungen und Bearbeitungen materieller Substanzen, denen gegenüber dem bloß Symbolischen im Sinne immaterieller Zeichenwelten ein eigener Status zukommt. Aufgebrochen wird so die alte Dichotomie zwischen Geist und Materie, wonach ein intentionaler Geist die materielle Welt bearbeite; vielmehr wird der Eigensinn des Stofflichen und seiner Verkörperungen betont und als "konstitutive Symbole" gefasst (28). Sie besitzen ihre Realität in der Substanz, die nicht als kontingent ausgestrichen werden kann, sondern ihre jeweilige symbolische Funktion erst ermögliche. Insbesondere spielen sie in Opfergegenständen und Werten wie Gold und Edelsteine für die nichtschriftliche Kultur eine ausgezeichnete Rolle (29, 35f.), indem sie eine "nichtverbale Kommunikation" induzierten - deren Insignien Renfew noch heute in den Werbebildern und Prestigeobjekten ausmacht (38).
Dass Wissen selbst eine Kategorie ist, die nicht nur ein begriffliches Konstrukt darstellt, das einen Kontrast zur Natur einschließt, weist der englische Philosoph John McDowell auf: Keineswegs stünden Mentalismus und Naturalismus unverbunden gegenüber, sondern der Raum der Begriffe sei insoweit mit dem Raum der natürlichen Gegenstände verbunden, als dieser jene im "Reich der Notwendigkeit" der Gesetze verortete (120). McDowell plädiert vor allem gegen Wilfrid Sellers für einen "liberalen Naturalismus", wonach unsere Begriffe nicht nur einen formalen Rahmen bilden, sondern "Begriffe von Vorkommnissen und Zuständen in unserem Leben" sind (121). So wird auch hier eine untergegangene Kategorie restauriert, die zwar nicht die unmittelbare Gegebenheit "materieller Substanzen" aufruft, wohl aber die Unverzichtbarkeit von Existenz reklamiert und klarstellt, dass deren Verlust sich selbst einem bestimmten Wissenschaftsideal verdanke, das sich mit dem Cartesianismus zu allererst neuzeitlich etabliert habe (124ff.).
Als Beispiel der Umwertung von Traditionsbeständen verfolgt der Ägyptologe Jan Assmann das Schicksal der altägyptischen Kosmographien und ihrer Ausstrahlung auf die philosophischen und religiösen Lehren der Spätantike, Frühen Neuzeit bis zur Romantik. War das Wissen der ägyptischen Priester wesentlich kultisches Wissen über die Zyklen der Natur, verklärten sie ihre sekundäre Überlieferung zum "Corpus hermeticum", deren verwickelte Geschichte Assmann durch die Jahrhunderte verfolgt. Deutlich wird, wie dieser unterirdisch in Neuplatonismus, Christentum und Freimaurertum eindrang, um den anhaltenden Mythos "Ägypten" immer wieder von neuem zu etablieren und festzuschreiben. Erst mit der Klassik um Winckelmann und Herder habe sich eine neue Kulturtheorie entwickelt, die nicht mehr nach dem gemeinsamen Ursprung Europas fragte, sondern nach den spezifischen Ursprüngen seiner einzelnen Völker. Das Erbe Ägyptens wurde dann ebenso abgeschnitten wie entzaubert, wozu nicht unwesentlich die Entzifferung der Hieroglyphen selbst beitrug. Denn das geheimnisumwobene Wissensgebäude der ägyptischen Mysterien fiel in dem Maße "in Vergessenheit", wie nunmehr "Europas ursprünglichsten Wesenskern [...] in Griechenland" gesehen wurde (74): "Je mehr das 19. Jahrhundert über Ägypten wusste, desto weniger vermochte es ihm zu sagen. Nachdem es den Schleier der Hieroglyphen von dem Bilde Ägyptens gezogen hatte, stand es beziehungslos vor dem, was sich ihm zeigte" (75).
Eine ganze andere Geschichte der Entmystifikation zeichnet der Altertumswissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Geoffrey Lloyd. Anhand eines Vergleichs zwischen babylonischer, chinesischer und griechischer Naturphilosophie rekonstruiert er die unterschiedliche Rolle der Prognostik, wie sie in Form minuziöser Aufzeichnungen überliefert wurde. Erweist sich dabei sowohl das babylonische wie chinesische Datenmaterial als bei weitem präziser als das griechische, zeigen sich die Griechen vor allem theoretisch orientiert: bei ihnen dominieren geometrische Modelle. Die chinesischen Aufzeichnungen gehörten noch bis ins 17. Jahrhundert zu den genauesten - doch bestätigten sie sich im Hinblick auf ihre Vorhersagen selbst, weil das Nichteintreten eines erwarteten Unheils als Zeichen der Weisheit des Kaisers gewertet wurde. Dagegen erhob die griechische Astronomie den Anspruch, "unanfechtbaren Demonstrationen" zu unterliegen (110), die freilich aufgrund der mangelnden empirischen Basis nur schlecht funktionierten. Erst viel später in hellenistischer Zeit konnten die Konstruktionen auf der Grundlage der numerischen Daten der babylonischen Astronomie überprüft werden - doch unterminierten diese erst recht die strenge Methode, sodass die "Unerreichbarkeit von stabilen Resultaten" letztlich in einem "tiefen Pessimismus" mündete, wie er besonders für die Spätantike charakteristisch war (112f.).
Wissen hat so in den unterschiedlichen Kulturen einen je eigenen Status - und seine Unvollständigkeit und Zirkularität birgt gleichermaßen die Gefahr der Relativität wie seiner sklerotisierenden Institutionalisierung. Der Grundtenor der Beträge ist letztlich von dieser Einsicht getragen: Kein Wissen vermag seiner Geltung Kontinuität zu verleihen - die "Wahrheit" unterliegt unablässigen Umwertungen, Überschreibung und Umbesetzungen und kündet gerade darin von der Dynamik unserer Identitäten.
Dieter Mersch