Gerhard Jaritz (Hg.): Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress in Krems an der Donau 8. bis 11. Oktober 1996 (= Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Nr. 17), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1999, 300 S., 28 Abb., ISBN 978-3-7001-2857-1, EUR 36,05
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Die Mannigfaltigkeit von Disziplinierung im Alltagsleben des Mittelalters und der Frühen Neuzeit behandelte der Kongress, der 1996 in Krems an der Donau stattfand und aus dem der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist. Die großen Konzeptionen von Max Weber, Norbert Elias, Michel Foucault und Gerhard Oestreich sollen anhand der historischen Wirklichkeit überprüft werden. Es wird gefragt, wie Disziplinierung im Alltag funktionierte, wer diszipliniert wurde und wer disziplinierte, welche Maßnahmen zur Disziplinierung ergriffen wurden, wie die Menschen auf diese reagierten, und schließlich, was das Ganze mit dem Alltag der Menschen zu tun hatte. Einige wenige Beiträge beschäftigen sich mit der Frage, ob das Konzept "Disziplinierung" überhaupt auf das Mittelalter übertragen werden kann oder ob die Begriffe "Disziplinierung" und "Disziplin" in diesem Zusammenhang nicht ganz anders gefüllt werden müssten (Hans-Werner Goetz, Monika Fehse).
Die ganze Bandbreite dieser Fragestellungen dokumentiert sich in den sehr unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Ansätzen der Beiträge und den verschiedenen Themenbereichen, die dabei angesprochen werden. Während einige Beiträge (Hans-Werner Goetz, Claude Gauvard, Kirill Levinson) die Herrscherperspektive einnehmen und fragen, wie die Herrscher beziehungsweise der Staat versuchten, ihre Disziplinierungsvorstellungen durchzusetzen und wie erfolgreich sie damit waren, fragen andere nach der Disziplinierung in/durch Schriften (Monika Fehse, Gertrud Blaschitz). Ein Beitrag beschäftigt sich mit Disziplinierungsmaßnahmen einzelner Bürger (Gabriela Signori). Mehrere Aufsätze gehen auf die Rolle der Kunst bei der Disziplinierung ein (Rossina Kostova, Andrew C. Sawyer, Ross Parry), andere auf den Städtebau (Dinges, Palmitessa). Ein Beitrag fragt nach der Disziplinierung von Juden. Nur der erste Aufsatz (Wolfgang Schild) fällt etwas aus dem Rahmen, da er sich als Einziger nicht mit Realien beschäftigt, sondern versucht, eine Theorie der Disziplinierung durch Strafen zu entwerfen.
Im Folgenden sollen einige der (qualitativ sehr unterschiedlichen) Beiträge des Sammelbandes ausführlicher dargestellt werden. Die Frage nach der Disziplinierung von und durch Herrscher im frühen und hohen Mittelalter stellt Hans-Werner Goetz in seinem gleichzeitig spannenden und instruktiven Aufsatz "Selbstdisziplinierung als mittelalterliche Herrschertugend?" (27-56). Dazu differenziert er zunächst zwischen "Disziplin" ("Begriff für eingeübte Regularien und Normen", 27) und "Disziplinierung" ("erzwungene oder freiwillige Einübung der und Unterwerfung unter diese Disziplin", 27). Letztere sei traditionellerweise Aufgabe des Herrschers beziehungsweise des Staates. Von diesem Ausgangspunkt kommt Goetz zu der Leitfrage seiner Untersuchung, nämlich ob es im Mittelalter eine königliche Selbstdisziplin gegeben und welchen Stellenwert diese gehabt habe. Bevor Goetz sich dieser Frage zuwendet, betont er, dass unsere neuzeitlichen Sichtweisen (zumindest im Rahmen eines mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes) nicht aufs Mittelalter übertragen werden dürfen, sondern dass gefragt werden muss, welche Bedeutung der Begriff "Disziplin" im Mittelalter selbst hatte. So kommt er zu der mittelalterlichen Definition von "disciplina" als "die durch Erziehung erworbene Bildung und deren lebenspraktische Anwendung" (30). Zurechtweisung sollte zu Selbstdisziplinierung führen. Wie stand es aber mit der Disziplin und der Disziplinierung der Könige? "Regere" hieß immer auch Wahrung der Disziplin. Dies galt jedoch im Frühmittelalter nur für die Disziplin anderer, das heißt die Könige waren dafür verantwortlich, dass ihre Untertanen sich diszipliniert verhielten, sie selbst jedoch waren unantastbar. Diese Einstellung wurde, besonders von kirchlicher Seite, kritisiert und änderte sich im Laufe des Mittelalters. Im Hochmittelalter galt der als ein guter König, der Selbstdisziplin übte (Selbstbeherrschung, Sanftmut, Geduld, Enthaltsamkeit). Als Fazit des Aufsatzes wird festgehalten, dass "Disziplin" ein zentraler Begriff in der mittelalterlichen Bildung war, der zunächst nur für Schulen galt, dann auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wurde und schließlich auch die Herrscher ergriff. Für "Disziplin" wie "Selbstdisziplin" jedoch gilt, dass die Begriffe im Mittelalter anders gefüllt waren als in der Neuzeit.
Auch Monika Fehse plädiert für eine Modifizierung der Disziplinierungstheorien und bringt damit neue Aspekte in die Forschung ein. Sie geht in ihrem Beitrag "Das Konzept der Disziplinierung in spätmittelalterlicher Stadtchronistik. Erzählweise und soziale Wirklichkeit" (75-98) der Frage nach, welche Sicht der Stadt und der Disziplinierung die mittelalterlichen Chronisten vermitteln wollten. Allgemein bekannt ist, dass Städte vergleichsweise viele Möglichkeiten der Disziplinierung hatten. Fehse sucht nun nach Konzepten städtischer Disziplinierung, indem sie die Bedeutung von disziplinarischen Schlüsselbegriffen wie Ordnung und Einigkeit innerhalb der Stadtchronistik analysiert und nach der Darstellung von Gerüchten, von Reichtum und Macht sowie von Arbeit und Alltag fragt. Sie kommt zu dem für heutige Leser vielleicht verblüffenden Resultat, dass der Begriff "Ordnung" am häufigsten im Zusammenhang der städtischen Verteidigung angewandt wurde: Es handelte sich um eine Ordnung, die nur für die Zeit der Verteidigung galt. Der Begriff "Einigkeit" dagegen stand für Frieden. Einigkeit war notwendig, damit es der Stadt gut ging. Somit zielte der Begriff "Einigkeit" in mittelalterlichen Stadtchroniken viel mehr auf Ordnung als der Ordnungsbegriff selbst. Ein Konzept der "Erziehung zur Arbeit" (94) lässt sich in den Chroniken nicht finden; Reichtum und Macht sind positiv belegt. Eine Disziplinierung im Sinne Oestreichs ist - bei teilweise gleicher Wortwahl - in diesen Chroniken kaum zu finden, zumal die "Grundwerte der Eintracht, Einigkeit und des Friedens" (97) verhandelbar waren. "Politischer Widerspruch und das Aushandeln neuer Regelungen" (97) waren, den Stadtchroniken zufolge, möglich.
Mit Disziplinierungsmaßnahmen einzelner Bürger beschäftigt sich Gabriela Signori in ihrem Aufsatz "Absolon und die anderen... Ein Beitrag zum erzieherischen Gehalt letztwilliger Verfügungen" (99-119). Signori untersucht, wie innerhalb einzelner Familien die Disziplinierung durch Testamente vonstatten ging. Söhne und Töchter, die nicht dem Willen der Eltern entsprechend lebten, wurden zunächst ermahnt, dann mit der Drohung von Enterbung verwarnt und zuletzt, falls sie renitent blieben, enterbt. Allerdings konnte diese Enterbung bei gebessertem Benehmen der Kinder wieder rückgängig gemacht werden. Was die Eltern suchten, waren Fleiß, "Gehorsam, Willfährigkeit und Dienstbarkeit" (116). Signori zeigt am Beispiel der Buchdrucker-Familie Amerbach aus Basel, wie die Kinder durch Änderungen der Testamente diszipliniert wurden. Am härtesten trifft die Disziplinierung - wie häufig - die Tochter, Margreth. Als diese ohne Einwilligung der Eltern heiratet, wird sie kurzerhand enterbt. Jedoch bringt der Vater Johann Amberbach schon bei der Abfassung des Testaments eine Vorbehaltsklausel ein: Sollte Margreth um Gnade bitten, wird sie wieder in die Familie (und die Erbengemeinschaft) aufgenommen. Dies ist offensichtlich nach kurzer Zeit geschehen.
Kunst im weiteren Sinne behandeln die Aufsätze von Rossina Kostova ("Lust and Piety: Graffiti from Bulgarian Medieval Monasteries", 233-254), Andrew C. Sawyer ("Learning the Levers of Power: the Didactics of State Creation in the Rhine Delta, c. 1588-1632", 255-273) und Ross Parry ("The Careful Watchman: James I, Didacticism and the Perspectival Organisation of Space", 275-297). Kostova untersucht anhand von "Graffiti" - Wandzeichungen von Mönchen - im Kloster Ravna in Bulgarien, wie im 10. Jahrhundert die von der Kirche gelehrten Konzepte von Begierde und Frömmigkeit von Mönchen und Pilgern bildlich umgesetzt wurden. Da Begierde (vor allem im Kloster!) mit Frauen identifiziert wurde, stellten die Mönche sie durch Vulva-Zeichnungen dar, während Frömmigkeit - als Unterordnung unter Gott - durch Kreuze und pilgernde Füße symbolisiert wurde. Sawyer fragt, wie Macht in Gemälden dargestellt wurde, und zeigt, dass Bilder als doppelter Ausdruck von Macht zu sehen sind: Sie manifestieren Macht bildlich und festigen sie so auch faktisch. Mit der Manifestation von Macht beschäftigt sich auch Parry. Ihm geht es jedoch nicht um die Abbildung von Macht, sondern um ihre Zelebration im Theaterbau. Seine Grundfrage ist: Wer sitzt wo, wer schaut wohin, und wie werden dadurch die Machtverhältnisse dargestellt, gefestigt und ausgebaut? Parry macht darauf aufmerksam, dass der König in der Mitte saß, um ihn herum der Hof, und wer den König ansehen wollte, musste automatisch den gesamten Hof betrachten. Durch die Perspektive wurden Macht, Wissen und politische Beziehungen gefestigt und transportiert. Gerade die beiden zuerst genannten Beiträge machen die Ambivalenz des Sammelbandes deutlich: Einerseits bringen sie interessante Details zur Disziplinierung und untermauern die bekannten Konzeptionen anhand von Einzelbeispielen, andererseits ist der Ertrag der Aufsätze eher gering zu veranschlagen.
Wolfgang Schild entwirft in seinem Aufsatz "Formen von Disziplinierung und (Straf-) Rechtsverständnis" (9-25) eine Theorie einer idealtypischen, gestuften Entwicklung des Strafrechts in Verbindung mit der Trennung von Leib in Körper und Seele, die im Zuge der "Geburt des Individuums" im Hochmittelalter stattgefunden haben soll. Auf Quellen ist dieser Aufsatz nicht gestützt, sondern Schild will eine Theorie vorstellen, die später (wann? wo?) für eine Quellenanalyse genutzt werden soll. Dabei setzt nicht nur dieses recht merkwürdige methodische Vorgehen in Erstaunen, sondern auch die inhaltlichen Voraussetzungen des Aufsatzes: Schild verortet die Leib-Seele-Trennung im Mittelalter. Doch auch wenn im Mittelalter eine Individualisierung festgestellt werden kann, so ist die Trennung des Leibes in Körper und Seele schon im Altertum bekannt. Sie findet sich bei Platon ebenso wie bei Paulus oder Augustin. Fazit: Die Formen der Disziplinierung von Rechtsbrecher und Opfer (!), die Schild postuliert, sind nachvollziehbar. Die Aussagen werden aber banal, wenn sie keinen Quellenbezug haben.
Die in dem Sammelband veröffentlichten - zum Teil hervorragenden, zum Teil eher nichts sagenden oder auch etwas wirren - Aufsätze zeichnen ein breites Bild von Disziplinierungsmaßnahmen in Mittelalter und Früher Neuzeit wie auch der verschiedenen methodischen Ansätze ihrer Interpretation. Das ausdrückliche Ziel des Herausgebers, zu zeigen, auf wie vielen Ebenen nach Disziplinierung gefragt werden kann und mit welch unterschiedlichen Methoden sie umgesetzt wurde, ist erreicht - allerdings zu dem Preis, dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen Beiträgen kaum zu erkennen ist. Die Geltung der großen Disziplinierungskonzepte für das alltägliche Leben wurde zum Teil bestätigt, zum Teil waren aber auch Differenzierungen vonnöten. Weiterführend scheinen vor allem die Beiträge, die herausarbeiten, dass Mittelalter und Neuzeit Unterschiedliches meinen, auch wenn sie - wie bei "Ordnung" und "Disziplin" - dieselben Begriffe benutzen.
Judith Becker