Rezension über:

Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneuzeitlicher Wörterbücher (= Texte und Textgeschichte; 49), Tübingen: Niemeyer 2001, XX + 668 S., 100 Abb., ISBN 978-3-484-36049-5, EUR 138,00
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Rezension von:
Joachim Knape
Seminar für Allgemeine Rhetorik, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Dietmar Till
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Knape: Rezension von: Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneuzeitlicher Wörterbücher, Tübingen: Niemeyer 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 4 [15.04.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/04/2142.html


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Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts

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Wörterbücher gehören zum philologisch-historischen Handwerkszeug. Man benutzt sie, aber man denkt normalerweise nicht über sie nach. Insofern mag es manchen, nicht mit historischer Sprachwissenschaft befassten Frühneuzeitforscher erstaunen, was Peter O. Müller alles diesem Thema in seiner 1997/98 in Erlangen-Nürnberg eingereichten Habilitationsschrift abgewinnt. Die umfangreiche Arbeit erschließt ein Untersuchungskorpus von rund 120 lexikografischen Werken des 16. Jahrhunderts, "wobei das Spektrum vom umfangreichen Wörterbuch in Folio bis zum schmalen, zusammen mit anderen Texten im Druck erschienenen Vokabular reicht" (24).

Buchgeschichtlich gesehen übertrifft es möglicherweise ebenfalls bestimmte Erwartungen, wenn man erfährt, dass sich selbst diese "Fachbücher" gut in das Bild der Buchmorphologie fügen, das wir auch sonst in dieser Epoche haben. Müller verdeutlicht eindringlich, welch abwechslungsreiches Geflecht von Paratexten mit den Wörterbüchern einhergehen kann. Allein für den "Vorspann" isoliert er dreizehn Möglichkeiten: "Titelblatt, Druckprivileg, programmatische Texte, Widmungsvorrede, Leservorrede, weitere Vorreden, metrische Texte, Hinweise zur Benutzung, Quellenverzeichnis, Index vocabulorum, Index rerum, Errata-Verzeichnis, weitere Konstituenten". Ähnlich verhält es sich mit dem "Nachspann" (527).

Es versteht sich, dass Müller zunächst einmal das Korpusmaterial sprachhistorisch beziehungsweise lexikologisch systematisiert darbietet und in seinen Untersuchungen einer innerlexikologischen Betrachtungsweise nachgeht, zumal das Buch Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts zur historischen Lexikografie bietet. Dementsprechend geht es über weite Strecken um "mikrostrukturelle Konzeptionen" der Wörterbücher des Untersuchungszeitraums, um "Formen der Artikelgestaltung", insbesondere der "Lemmatisierung", sowie um Merkmale typischer Wörterbuchsegmente. All dies ist in seiner exzellenten, konzentrierten und analytischen Durchdringung sowie ansprechenden Darstellungsweise für die Fachleute im engeren Sinne, also Sprachhistoriker, von größtem Belang. Darüber hinaus greift Müller aber auch "die Frage nach Entwicklungslinien im Verlauf des 16. Jahrhunderts (und darüber hinaus)" auf (2). Hier kommen Gesichtspunkte in den Blick, die auch für Rezipienten mit bildungs- und kulturhistorischen Fragestellungen interessant sind. Einige von ihnen sollen im Folgenden angesprochen werden.

Da ist zunächst das 16. Jahrhundert als Epoche. Bemerkenswert ist Müllers Befund, dass das 16. Jahrhundert als eine "lexikographische Hoch-Zeit" angesehen werden muss und damit auch unter lexikografiehistorischer Perspektive als eine "Zeitenwende" gelten kann (2). Das betrifft einerseits die bewusste Überwindung älterer Standards, wie sie noch im 15. Jahrhundert galten, andererseits das Setzen von Maßstäben, die auch noch im 17. und 18. Jahrhundert Bestand haben. Die Erneuerung des Wörterbuchwesens fällt mit humanistischen und reformatorischen Bestrebungen zusammen. "Neben der im Mittelpunkt stehenden und am klassischen Latein antiker Vorbildautoren ausgerichteten Sprachausbildung, die zunächst die dafür notwendigen grammatikalisch-lexikalischen Grundlagen bereitstellen sollte, letztendlich aber auf die Aneignung an Cicero und Quintilian orientierter Rhetorik-Kenntnisse ausgerichtet war und auf mustergültige Eloquenz abzielte, sollte den Schülern auch antikes sowie zeitgenössisches Bildungswissen und biblisches Glaubensgut vermittelt werden." Doch auch jenseits des lateinischen Schulbetriebs entstanden neue Formen der Wörterbuchkultur. So nimmt Müller zum Beispiel die "Synonyma" des Stadtschreibers Schwarzenbach aufgrund ihrer "Lemmaindividualisierung" (11) in sein Korpus auf. Wörterverzeichnisse dieser Art, die die rhetorische Copia verborum in den Kanzleien befördern sollten, bilden eine Art "Scharnier zwischen nichtlexikographischen (Fach-)Texten und fachsprachlichen wie allgemeinsprachlichen Wörterbüchern" (21).

Der auf Innovation zielende Lehrbuchwechsel des 16. Jahrhunderts erfolgte auch im Wörterbuchbereich "graduell" und war mit einer "Diskreditierung der mittelalterlichen Tradition verbunden" (55). Was jetzt an neuer Wörterbuchliteratur erarbeitet wurde, hatte vielfach Bestand. "Annähernd fünfzig der aus dem 16. Jahrhundert stammenden Werke wurden auch im 17. Jahrhundert gedruckt: entweder unverändert, wie die Calepinus-Ausgaben, oder als Bearbeitungen, für die die Zahl der Wörterbuchsprachen teils beibehalten (z.B. Faber, Gretser, Ulner), teils aber auch erhöht wurde. Dabei setzt sich der bereits für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts charakteristische Zug fort, zunächst für den Lateinunterricht gedachte Werke um lebendfremdsprachige Einträge zu erweitern. So werden die Nomenklatoren von Bader und Frischlin um französische und das Dictionarium von Dasypodius um polnische Interpretamente ergänzt. Während einige Wörterbücher des 16. Jahrhunderts nur bis in den Anfang des 17. Jahrhunderts tradiert wurden (z.B. Maior, Hoeschel), reicht die Rezeptionsgeschichte anderer Werke sogar bis in das 18. Jahrhundert (Dasypodius, Frisius, Faber, Heyden)" (561).

Diese frühneuzeitlichen Wörterbücher sind Bestandteil des neuen Wissensaufbruchs im Zeitalter der Renaissance, der auch der deutschen Sprache eine neue epistemologische Position einräumt. [1] Bildungsgeschichtlich bedeutsam ist die zunehmende Erfassung diverser Wissensbereiche in deutschen Spezialwörterbüchern. Müller spricht mit Blick auf diese Art Fachlexikografie von einer "Konfrontation von Buch- und Erfahrungswissen". Hintergrund ist, dass etwa für die Naturkunde "im Rahmen der Bemühungen um die Koordination antiker mit lebendsprachigen Bezeichnungen als Voraussetzung für den Vergleich eigener naturkundlich-medizinischer Gegebenheiten mit der Überlieferung sowie für die richtige Verwendung geheimer Arzneimittelstoffe" ein "Bedürfnis zur terminologischen Klärung" bestand. Damit einher ging zweifellos auch ein Nachdenken über die Sachen selbst. Insofern stehen diese Fachwörterbücher im Konnex mit den Neuansätzen im naturwissenschaftlichen Bereich.

Schließlich sei noch auf den Aspekt der europäischen Verflechtung hingewiesen. "Die deutsche Lexikographie dieser Zeit begegnet ganz überwiegend in mehrsprachigem Rahmen und weist vielfach europäische Bezüge auf" (560). Ihre "Verflechtung" mit der Lexikografie anderer Gebiete Europas "zeigt sich nicht nur an der Rezeption nichtdeutscher Werke als Grundlage für deutsche Bearbeitungen, sondern auch an der Vorbildfunktion der deutschen Lexikographie für Werke aus dem nichtdeutschen Bereich, die entweder mittels Substitutionsverfahren erarbeitet wurden und dann keine deutschen Einträge enthalten oder sprachenerweiterte Bearbeitungen darstellen" (552). Auffällig ist hier ein bestimmtes Gefälle. Während deutsche Wörterbücher oft die Nehmenden von westeuropäischen Vorläufern und Zeitgenossen sind, "ergibt sich für die osteuropäischen Bezüge ein umgekehrtes Bild: Hier gingen die Impulse ausnahmslos vom deutschen Sprachraum aus und führten zu zahlreichen lexikographischen Übernahmen in den tschechischen (Dasypodius, Frisius, Emmel) und polnischen (Dasypodius) Bereich, wobei das Deutsche in vielen Fällen als Wörterbuchsprache erhalten blieb und insofern (sekundär) auch zielsprachliche Funktionen erfüllen konnte (lat.-dt. -> lat.-dt.-pol. etc.)" (554).

Müllers Buch wird gewiss zu einem Standardwerk auf dem Feld der deutschen Lexikografiegeschichtsschreibung werden. Anderweitig ausgerichtete Frühneuzeitforscher können dieses Buch aber auch mit Nutzen heranziehen, wenn sie seine vielfältigen Angebote richtig zu lesen verstehen.

Anmerkung:

[1] Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Andreas Gardt (Hg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin / New York 2000, S.103-138.


Joachim Knape