Nevenka Kroschewski: Über das allmähliche Verfertigen der Bilder. Neue Aspekte zu Caravaggio (= Concetto. Lesarten der Künste; 4), München: Scaneg 2002, 224 S., 71 Abb., ISBN 978-3-89235-804-6, EUR 52,00
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Das frei nach Kleist betitelte Buch von Nevenka Kroschewski hat seine Vorzüge: Es ist knapp im Umfang, gut geschrieben, die Problemstellung ist klar, und die Antworten überzeugen in wichtigen Teilen. Es müsste also - sollten deutsche Erzeugnisse im italienischen und anglo-amerikanischen Sprachraum tatsächlich noch gelesen werden - Bewegung in die Caravaggio-Forschung bringen.
Seit etwa zwanzig Jahren gilt hier eine im Grunde sonderbare Annahme als opinio communis: Caravaggio habe, an Stelle seine Bilder durch Zeichnungen vorzubereiten, diese direkt mit dem Pinsel auf die Leinwand gebracht, während arrangierte Modelle in der benötigten Pose stillhalten mussten. So etwas nennt man "alla-prima-Malerei", und es gab auch schon ernst gemeinte Versuche, den lasziven Gesichtsausdruck einiger Knaben auf Caravaggios Bildern mit der physischen Erschöpfung des Modells zu erklären (58). Diese Forschungsmeinung beruft sich zunächst auf die bis heute fehlenden Zeichnungen Caravaggios. Von den drei möglichen Schlüssen (die Zeichnungen wurden nicht identifiziert, sie sind verloren, es hat sie nie gegeben) entschied man sich seit R. Longhi und D. Mahon mehrheitlich für den letzten. Abweichende Meinungen (A. Moir, M. Calvesi) spielten zuletzt kaum noch eine Rolle. Mit M. Gregori und K. Christiansen geben heute die Non-Disegnisten den Ton an. Sie begründen ihre Ansicht nicht zuletzt mit Aussagen von Mancini, Baglione, Bellori und van Mander, die Caravaggios Arbeitsmethode angeblich belegen. Diese Zeitzeugen entwerfen zum Teil seltsame Szenarien: Caravaggio habe, so Bellori, seine Modelle nie im Tageslicht studiert, sondern sie in einer ansonsten völlig abgedunkelten "camera rinchiusa" einem "senkrecht einfallenden Licht" ausgesetzt. So sei - uns Heutigen leuchtet das ein - die Spotlight-Ästhetik entstanden.
Solche Skurrilitäten, deren praktische Umsetzung auf erhebliche Hindernisse stoßen würde, erschienen wohl für einen Maler glaubhaft, der - so die zeitgenössische Einschätzung - in seiner Arbeitsweise nicht dem hohen Prinzip des "disegno" folgte, sondern der minderwertigen, in Venedig gebräuchlichen Methode des "Kolorierens". Der "disegno" aber entstehe aus der künstlerischen "idea" des Malers, während der Kolorist die Natur nur abmale wie sie sei, also zufällig und unvollkommen. Entwickelt wurde diese Theorie seit Vasari natürlich von den Vertretern der höherwertigen Richtung in Florenz und Rom, die in Caravaggio einen verkappten Venezianer erblickten, der im Ambiente einer Geisterbahn aus lebenden Menschen Stillleben machte. Es blieb der modernen Kunstgeschichte vorbehalten, diese Klassifizierung ins Positive, ja Hymnische zu wenden. Mit dem zweifelhaften Kompliment eines "first modern artist" (R. Fry) ausgestattet, mutierte der "naturalista" zum Superstar und Kassenschlager. Ein homophiler Krawallmacher, der sich weigerte zu zeichnen und gleichzeitig - wie Radiografien beweisen - ohne größere Pentimenti malte, ist zugegebenermaßen interessanter als ein, sagen wir, Giorgio Vasari. Doch sollte diese Fähigkeit, die an ein Wunder grenzt, nicht misstrauisch machen? Besagen denn die zeitgenössischen Quellen wirklich, dass Caravaggio nicht zeichnete?
Im ersten Teil ihres Buches weist Kroschewski überzeugend nach, dass keine dieser Quellen eine zeichnungslose Praxis belegt. So ziele Mancinis Kritik an den Caravaggisten nicht auf angeblich fehlende Zeichnungen, sondern auf ein Defizit in der "pratica del disegno im Sinne eines systematischen zeichnerischen Studiums" (38 f). Auch relativiert Kroschewski zunächst eindeutig erscheinende Aussagen mit Hinweis auf deren zum Teil rhetorischen Charakter. Klassische Stilmittel wie Analogie, Metapher oder die anekdotische Zuspitzung können den geschichtlichen Stoff vertrauten Erzählmustern anpassen und den Handlungsverlauf narrativ begradigen, um die Aussage dem Geschichtsbild des Historiografen dienstbar zu machen. So kolportiert Bellori das abgedunkelte Atelier mit der punktuellen, wie auch immer gespeisten Lichtquelle als historische Tatsache (43 f), wo doch sein literarisches Vorbild, der zeitgenössische Mancini, dieses nur als bildhaften Vergleich einführte, um die Lichtführung Caravaggios zu veranschaulichen (36 f). Zutreffend erscheint auch die Einschätzung der Autorin, nach der die kunsttheoretischen Debatten der Zeit nicht immer der "diskursive(n) Logik moderner Theorie und Historiographie mit ihrer Forderung nach Systematik, Kontinuität und Widerspruchsfreiheit" entsprechen. "Disegno-Doktrin" und "colorito-Praxis" hätten in der historischen Realität wohl kein so klares Gegensatzpaar gebildet wie von Gregori und Christiansen suggeriert (33). Kroschewski verweist hier mit Recht auf eine Schwachstelle (schrift-)quellennaher Argumentation, die man von Fragen wie jener nach der tatsächlichen Relevanz des "paragone" für das konkrete Kunstschaffen bereits kennt. Dass die Autorin solche Quellen höher bewertet, die nicht so sehr unter den Verdacht der historiografischen Stilisierung fallen, ist folgerichtig. So stellt Kardinal Vincenzo Giustiniani in einem Brief Caravaggio, die Carracci und Guido Reni gemeinsam auf die höchste Vollendungsstufe der Malerei. Nur bei diesen finde sich das "naturale" mustergültig mit der "maniera" vereint, also die imaginative Bildfindung mit der naturgetreuen Wiedergabe (51-57). Die Frage des Zeichnens oder Nichtzeichnens spielt für Giustiniani dabei keine Rolle. Man darf mit der Autorin annehmen, dass er als Kunstkenner, Sammler und Freund des Caravaggio-Patrons Kardinal del Monte wusste, wovon er sprach (54 f).
Es ist Kroschewski gelungen, dem Bild vom genialen Spontanmaler Caravaggio die historische Grundlage zu entziehen. Was bietet sie als Ersatz? Ein Studium des Abbildungsteils stimmt eher skeptisch. Hier sieht man Werke des Meisters überzogen von Achsen, goldenen Schnitten und Zirkelschlägen, die einen minuziös vorbereiteten, geometrisch ausgerichteten Bildaufbau suggerieren. Der Text erläutert Fall für Fall. Die Vorbehalte gegen diese Visualisierung vermutlicher oder vermeintlicher Kompositionsstrukturen sind bekannt und werden von der Autorin auch eingeräumt (96): Sind Achsen, Diagonalen oder der goldene Schnitt noch vergleichsweise klare Angelegenheiten, denen man eine Mitwirkung am Bildaufbau gerne zubilligt, so wird es mit Kreissegmenten, Binnenmoduli und "modifizierten Diagonalen" (102 f), welche bündelweise oder strahlenförmig "bildbestimmende Schrägen" (109) markieren, schon schwieriger.
Gewiss, alle diese Dinge sind tatsächlich zu sehen und die Autorin trifft auch nicht der mindeste Verdacht, unsauber oder unseriös gearbeitet zu haben. Auch wurde Caravaggio von der römischen Polizei einmal mit einem illegalen Schwert sowie der hier interessierenden Tatwaffe, einem Zirkel, aufgegriffen (140). Doch da jede geometrische Markierung weitere mögliche Konstruktionen nach sich zieht, ist der Punkt bald erreicht, wo es wegen der Dichte der kritischen Linien schwer fällt, berechnete Komposition und Fügung zuverlässig zu unterscheiden. Dies liegt jenseits des Beweis- oder Widerlegbaren, ein abschließendes Urteil wäre eines des Geschmacks. Die Autorin hat bewusst darauf verzichtet, ihre These wissenschafts- und theoriegeschichtlich zu stützen (21). Vielleicht sollte man für diese Unterlassung dankbar sein und sich auf den quellenkritischen Schwerpunkt des Buches konzentrieren, der unabhängig davon Wichtiges leistet.
Es bleibt die Frage: Wo sind die Zeichnungen geblieben? Kroschewski meint sibyllinisch, dass womöglich die "behauptete Nicht-Existenz von Caravaggio-Zeichnungen just aus der Überzeugung resultiert, dass es diese nicht gebe" (70f.). Leben sie unerkannt in unserer Mitte? Dies ist möglich, auch wenn die bisher von Marini und Testori gemachten Zuschreibungsvorschläge (72-75) ob ihrer merkwürdigen Vereinzelung kein ganz reines Gefühl zurücklassen. Zusammen mit den Zeichnungen fehlt ein Vasari, der uns - wie für den Fall des Michelangelo Buonarroti - deren absichtsvolle Vernichtung bestätigen könnte. Eine solche Entsorgung, durch wen auch immer, erscheint auch dem Rezensenten allemal wahrscheinlicher als grafische Enthaltsamkeit (71).
Die insgesamt 160 Textseiten sind in antikischer Art in sechzehn formal gleichgestellte, wenn auch ungleich ausgestattete Kapitel unterteilt. Diese Reihung entspricht zwar dem fließenden Charakter des additiv argumentierenden Textes, der Gesamtaussage hingegen droht auf Dauer die Stoßkraft auszugehen. Eine programmatischere Gliederung, welche die Schwerpunkte der Arbeit offensiver vertritt, hätte im rauen Geschäft der Caravaggio-Forschung bestimmt nicht geschadet.
Golo Maurer