Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie (= Arte-Edition), Stuttgart: Reclam 2002, 301 S., 130 z.Tl farb. Abb., ISBN 978-3-15-010502-3, EUR 24,90
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Die Fotografie hat in den letzten Jahren als Thema für den Kunstbuchmarkt an Bedeutung gewonnen. Nicht mehr Nebensache des malerei- und architekturlastigen Gesamtangebotes, nicht mehr nur exklusive Bildbände zu horrenden Preisen - seit mehr als einer Saison finden sich zunehmend allgemeine Nachschlagewerke zum Thema, in gehobener Ausstattung, gleichwohl zu kommoden Preisen. So kamen unlängst gleich zwei Lexika zur Fotografie auf den Markt, und gerade dadurch fiel auf, wie gut das Genre "handliches Nachschlagewerk" gewählt war [1]. Schließlich war das Genre "textlastige Einführung" bereits bestens bestückt: mit dem grandiosen Band, dessen Herausgabe Michel Frizot in den 90er-Jahren für Könemann besorgt hatte [2]. Gründlicher, gewichtiger und günstiger als diese "Neue Geschichte der Fotografie" konnte ein einführendes Standardwerk kaum sein.
Mit der "Kleinen Geschichte der Fotografie", die Boris von Brauchitsch jetzt vorlegt, vermeidet der Reclam Verlag den Vergleich mit Frizots Standardwerk weniger geschickt als besagte Lexika. Wenn sich aber ein Verlag in diesen schwierigen Zeiten dennoch einem aussichtslos scheinenden Kampf stellt, so muss es dafür Gründe geben. Die sind möglicherweise im fokussierten Publikum zu suchen, welches, wie die Aufmachung suggeriert, eher solcherart ist, dass es "mitreden" will, ohne gleich tief gehende Kenntnis zu haben. Positiv gesagt: Wer zur Fotogeschichte des Reclam Verlages greift, der will sich den Blick auf die Kunst nicht durch ein Übermaß an Wissen und Information verstellen lassen. Das konservative, aber programmgemäß kluge Lay-out und die durchweg gelungene Abbildungsqualität scheinen das Konzept zu unterstreichen, welches Reclam den esoterischen Abonnentenzirkeln der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft entreißen konnte und nun popularisiert.
Für den praktischen Gebrauch hätte es allerdings ein bisschen mehr sein dürfen: ein ausführliches Register etwa; und gewünscht hätte man sich nicht ein alphabetisches, sondern ein kommentiertes Literaturverzeichnis, das dem Leser der Einführung gezielte Hinweise für die Vertiefung des Wissens gibt. Schließlich mangelt es dem Buch an einem Glossar, in dem Fachbegriffe erläutert, sowie Drucktechniken, Fotopapiere und Entwicklungsmethoden erklärt werden; in diesem Punkt ist der zweite große Vorläufer der Reclam-Geschichte, Walter Koschatzkys "Kunst der Fotographie" [3], weit überlegen.
Solch grundsätzliche Probleme in der Konzeption können auch auf der inhaltlichen Ebene kaum gekittet werden. Dabei formuliert Brauchitsch durchaus geschickt, versteht es, die Bedeutung von Erfindungen wie Rollfilm oder Trockenplatte (ohne jedoch genau zu erklären, was diese sind) für die Verbreitung der Fotografie in wenigen Sätzen zu umreißen. Auch die Charakterisierung von Künstlern gelingt ihm spielend. Den amerikanischen Piktorialisten etwa nähert er sich zunächst allgemein, nachdem er die Gruppe reicher Dilettanten und ihre impressionistischen Ideen vom harten Alltag erwerbsmäßig praktizierender Atelierfotografen absetzt, um danach auf ihre wichtigsten Vertreter - Streichen, Stieglitz, Käsebier - im speziellen einzugehen. (76-87)
Brauchitsch findet zudem immer wieder neue Blickwinkel auf die Geschichte der Fotografie, die durch das kapitelweise gebündelte, weitgehend chronologisch vorgestellte Material nahe liegen. In Abschnitten über den brutalen Realismus eines Weegee (138-140) reflektiert er nicht allein über den sozialen Aspekt oder die Entwicklung der Fotoreportage, sondern auch über das Phänomen "Inszenierung" und wann solche eigentlich beginnt. Am Beispiel der Pornofotos Arakis (212-214), die im Westen als Kunst eingestuft wurden, verhandelt Brauchitsch das abendländische Kunstmarktverhalten und den aufkeimenden Fotoboom der Achtzigerjahre. Gerade dass der Autor allgemeine Phänomene immer wieder an konkreten Arbeiten festmacht, verleiht dem Text eine Art rhetorisches Rückgrat und macht ihn bequem und zügig lesbar. Diese Taktik findet indes auf formaler Ebene keine Entsprechung: Alle Kapitel sind gleich gewichtet, auf eine optisch nachvollziehbare Hierarchie der großen Themen und Untergruppen - sie hätte den Rhythmus des gesamten Bandes noch leserfreundlicher gestaltet - verzichteten Autor und Verlag.
Nach reichlichem Abwägen möchte der Kritiker für diesmal auf eine vollmundige Empfehlung zum Kauf verzichten. Dennoch sei darauf hinweisen, dass gerade für den Erwerb "kleiner Einführungen" besonders eines maßgeblich ist: Geschmack und Laune des Käufers, der sich in der Buchhandlung zwischen Koschatzky, Frizot und den Lexika entscheiden soll - und dann eben doch mit Boris von Brauchitschs "Kleiner Geschichte der Fotografie" nach Hause geht.
Anmerkungen:
[1] etwa Hans-Michael Koetzle: Das Lexikon der Fotografen. 1900 bis heute, München 2002 und Reinhold Mißelbeck (Hrsg.): Prestel-Lexikon der Fotografen. Von den Anfängen 1839 bis zur Gegenwart, München / New York 2002.
[2] Michel Frizot (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998.
[3] Werner Koschatzky: Die Kunst der Fotographie, München 1987.
Christian Welzbacher