Guido Hitze: Carl Ulitzka (1873-1953) oder Oberschlesien zwischen den Kriegen. Carl Ulitzka albo Górny Śląsk pomiędzy dwoma Wojnami Światowymi (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 40), Düsseldorf: Droste 2002, 1439 S., ISBN 978-3-7700-1888-8, EUR 64,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Mit 1310 Seiten Text, 25 Seiten polnischer Zusammenfassung (der polnische Paralleltitel lässt sicherlich manchen polnischen Leser mehr erwarten) und 64 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis erreicht diese in Wuppertal von Heinrich Küppers betreute Dissertation die Grenzen einer Monographie. In bewundernswerter Weise hat der Autor es verstanden, einen übersichtlich durchstrukturierten Text auf gutem sprachlichen Niveau vorzulegen, der sich nicht in Nebensächlichkeiten verliert, sondern den Leser, der sich auf das Thema einlässt, durchaus zu fesseln vermag.
Der rote Faden, an dem Guido Hitze, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, seine Darstellung entwickelt, ist der Lebenslauf des in Oberschlesien geborenen und wesentlich dort, aber auch in der Zentrumsfraktion des deutschen Reichstags wirkenden römisch-katholischen Priesters und Zentrumspolitikers Carl Ulitzka, der von 1901 bis zur Verbannung aus Oberschlesien 1939 in Bernau bei Berlin, damals zum Bistum Breslau gehörig, und seit 1910 in Ratibor in Oberschlesien als Gemeindepfarrer wirkte. Der Autor zielt dabei auf mehr als eine konventionelle Biografie: Er will "die Geschichte einer umstrittenen europäischen Grenzregion zwischen den beiden Weltkriegen in all ihrer Dramatik und Widersprüchlichkeit lebendig werden" lassen und "anhand authentischer Quellen eine umfassende Landes- und Regionalgeschichte" im Kontext der übergreifenden politischen Zusammenhänge schreiben (29), wobei, schon durch die Person Ulitzkas, der politische Katholizismus in Schlesien, speziell in Oberschlesien, im Mittelpunkt steht.
Hitze rekonstruiert vor allem anhand von Quellen aus deutschen Archiven die Lebensstationen und -phasen Ulitzkas und analysiert dessen Handlungsspielräume in der (ober-)schlesischen wie der deutschen Politik, wobei ihm seine eigene, bewusst katholische Position (96, 201, 1285) mit starken Sympathien für einen sozial engagierten politischen Katholizismus (einschließlich einer Kritik "rechtskatholischer Störmanöver", 748) das Verständnis erleichtert, ohne die gebotene wissenschaftliche Kritik zu mindern.
Mittels in der Sache sehr wesentlicher Exkurse, von denen aus er immer wieder auf überzeugende Weise zu seinem Darstellungsstrang zurückfindet, zeichnet er ebenso kenntnisreich das politische, gesellschaftliche und kirchliche Umfeld, so zur nationalpolnischen Bewegung in Oberschlesien vor 1914, zum - aus deutscher Perspektive gezeichneten - Umfeld des Plebiszits von 1921, zu den Konflikten zwischen Nieder- und Oberschlesien in der Zeit der Weimarer Republik, über den Ex-Geistlichen und politischen Publizisten Paul Nieborowski oder zur Rolle der Zentrumspartei in der Weimarer Republik. Diese logisch in den Gesamtdiskurs eingebundenen Exkurse haben eigenständige Qualität und hätten vielleicht doch gesondert veröffentlicht werden sollen, um den Textumfang des Werkes im Sinne der Lesbarkeit zu reduzieren.
Polnische Veröffentlichungen bezieht der Autor ein, allerdings nicht auf der Basis eigener Sprachbeherrschung (47). Er bewertet dabei allerdings ältere polnische polemische Darstellungen über, die keineswegs eine communis opinio der heutigen polnischen Forschung darstellen, und bezieht sich häufiger auf deutschsprachige Aufsätze, die manches weniger differenziert darlegen als die zugrundeliegende polnischsprachige Monographie. Die Defizite des Verfassers in der Auseinandersetzung mit der polnischsprachigen Literatur fallen nicht im engeren Thema der Biografie, sondern vor allem wegen seines thematisch breit gefächerten Ansatzes auf.
Der Leser, der sich nicht vom Umfang des Werkes abschrecken lässt, findet neben der eindrucksvollen politischen und geistlichen Biografie des Prälaten Ulitzka sehr viel Neues über den deutschen Teil Oberschlesiens in der Zeit der Weimarer Republik mit den Nachkriegswirren, dem Aufbau der Provinz Oberschlesien und dem Verhältnis zu Polen, dem oberschlesischen Zentrum sowie der gesamten Zentrumspartei und ihrem Versagen in der Krise der Weimarer Republik. Von deutschnationaler und nationalsozialistischer Seite als "Separatist" bekämpft, für die politische Linke zur selben Zeit ein Nationalist, musste Ulitzkas Rolle als der Gegnerschaft und des Widerstands verdächtigter "Pfarrer im Dritten Reich" in den Jahren 1933 bis 1939 auf das geistliche Amt beschränkt bleiben.
Hitze gelingt es auch für diese Phase der Biografie des Prälaten, aus dessen Perspektive die Lage der katholischen Kirche in Oberschlesien zu verdeutlichen. Aus Schlesien verbannt, lebte er von 1939 bis 1944 in Berlin, bis er "im Schatten des 20. Juli" verhaftet und als "Schutzhäftling" in das Konzentrationslager Dachau überstellt wurde. Die Rückkehr nach Oberschlesien 1945 blieb Episode; bis zu seinem Tode engagierte sich Ulitzka für die deutschen Heimatvertriebenen vor allem aus Oberschlesien. Auch hier erfährt der Leser wesentliches zur Gründung der Berliner CDU oder einer vergessenen publizistischen Kontroverse im Berliner "Tagesspiegel" im Frühjahr 1947 über die Haltung zu Polen, in der Ulitzka vorgeworfen wurde, "Kronzeuge für die deutschen Ansprüche auf den Osten" zu sein (1261).
Hitze hat ein trotz des ungewohnten Textumfanges gut lesbares und durch ein Personen- und Ortsregister erschlossenes Buch vorgelegt, das über sein engeres Thema hinaus insbesondere für die politisch aktive Phase Ulitzkas zwischen 1918 und 1933 zur Geschichte Oberschlesiens und des politischen Katholizismus im Deutschen Reich wesentliche neue Erkenntnisse beiträgt. Mit kritischer Sympathie, die die Grenzen des "ungekrönten Königs von Oberschlesien" ebenso wenig auslässt wie aus der Retrospektive ungern gesehene Konflikte wie diejenigen zwischen Nieder- und Oberschlesien, zeichnet der Verfasser die Biografie in einem ungewohnt breiten Kontext detailliert nach. Aus den Quellen hat er damit eine grundlegende Geschichte des - da die polnische Wojewodschaft Schlesien am Rande bleibt - deutschen "Oberschlesien zwischen den Weltkriegen", wie sie der Untertitel ankündigt, geschrieben, ein opus magnum in jeder Hinsicht.
Wolfgang Kessler