Peeter Vihalemm (ed.): Baltic Media in Transition, Tartu: Tartu University Press 2002, 304 S., zahlr. Tab. u. Diagr., ISBN 978-9985-56-642-8
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Im Vergleich zu seinem Vorgänger, dem 1993 erschienenen Band "Towards a Civic Society: The Baltic Media's Long Road to Freedom" [1], in dem die Medienentwicklung seit den 1960er-Jahren beleuchtet wurde, ist dieses neue Sammelwerk wesentlich analytischer und weniger darauf ausgerichtet, "nur" die Geschichte der Medien zu erzählen. Somit legt es gleichzeitig ein sehr positives Zeugnis für die Entwicklung der Medienwissenschaft vor allem an der Universität Tartu ab. Der umfangreiche Anhang mit zahlreichen Tabellen, Schemata und Statistiken über die baltische Medienlandschaft, aber auch über die Position der drei Republiken im Vergleich mit anderen Transformationsländern, ist eine wahre Fundgrube und erspart, so scheint es, fast die Lektüre. Allerdings holt der Titel etwas zu weit aus, denn auch wenn jeweils ein Beitrag den lettischen beziehungsweise litauischen Medien gewidmet ist, konzentriert sich das Buch als ganzes doch in erster Linie auf die Entwicklung in Estland. Eigentlich muss man den Inhalt jedoch noch enger fassen, denn es geht hauptsächlich um die estnischsprachigen Medien. Immerhin wird die russische Medienlandschaft des Landes nicht gänzlich vergessen, denn auch ihr ist ein im übrigen recht kritischer Beitrag gewidmet.
In einem einleitenden Artikel stellen der Herausgeber und Marju Lauristin die Entwicklung der estnischen Medienlandschaft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungsprozesse dar und konstatieren letztlich, dass Estland im letzten Jahrzehnt von einer "klassenlosen" in eine kapitalistische Klassengesellschaft transformiert worden sei. Dass sich dabei die virtuelle Welt der Medien in einem postmodernen Umfeld behaupten müsse, während der Kontext der sozialen und ökonomischen Veränderungen eher in die Welt des Frühkapitalismus weise, sei einer der Gründe für die unvermeidlichen Spannungen des Transformationsprozesses. Immerhin habe der Journalismus die funktionale Wandlung vom systemimmanenten Sprachrohr zum gesellschaftlichen "watchdog" gemeistert. Hiermit einhergegangen seien jedoch eine Entprofessionalisierung der Journalisten und ihre von der ökonomischen Entwicklung mitverursachte Hinwendung zum Sensationsjournalismus, das heißt ein qualitativer Niedergang der Berichterstattung. Vor diesem Hintergrund wird der Einfluss der Privatisierung durch vornehmlich ausländisches Kapital aus Norwegen und Schweden kritisiert, doch habe andererseits nur dadurch der Erhalt einer breiten Medienlandschaft gesichert werden können.
Es folgen die beiden Beiträge zu Lettland (Inta Brikše, Ojārs Skudra, Rolands Tjarve) und Litauen (Aukše Balcytine), die notwendigerweise nur einen knappen Überblick bieten können, aber ebenfalls konstatieren, dass sich die Lage der Medien nach der Phase des Umbruchs und der Verunsicherung bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre hinein in der letzten Zeit merklich stabilisiert habe. Über die estnische Entwicklung informieren anschließend spezielle Artikel zum Fernsehen (Hagi Shein), zum Radio (Maarja Lõhmus), zur Presse (Kertu Saks) sowie zur Mediengesetzgebung (Halliki Harro). Dass es bis vor kurzem vier estnischsprachige Fernsehprogramme für ein kaum eine Million Menschen umfassendes Publikum gegeben hat, von denen heute noch zwei private und eine staatliche Station existieren, kann als kleines Wunder gelten, zumal der staatliche Sender ETV bis 1998 eine marktführende Stellung behauptete. Nach einem gescheiterten Versuch, die schrumpfenden Werbeeinnahmen zwischen den konkurrierenden Sendern aufzuteilen, durchläuft ETV allerdings zur Zeit nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine Identitätskrise zwischen dem Rückzug auf die "nationale Kultur" und einer programmatischen Anpassung an die private Konkurrenz.
In Bezug auf das Radio wird beklagt, dass gerade vor dem Hintergrund der professionellen "alten Garde" von Journalisten, die auf Grund der sowjetischen Zensur sensibilisiert war und die vor allem in den Jahren der Perestrojka großen politischen Einfluss hatte, der qualitative Rückgang der Berichterstattung deutlich sei. Es fehle den jungen Journalisten vor allem an sozialer Verantwortung für ihre Tätigkeit. Trotz allem scheint der Anteil an "Kultur" oder "Information" im estnischen Radio immer noch deutlich über demjenigen in deutschen Rundfunkprogrammen zu liegen.
Die russischsprachige Medienlandschaft Estlands wird von Valeria Jakobson untersucht. Sie stellt in einem knappen Rückblick auf sowjetestnische Medien fest, dass schon damals die nur mit der Chiffre "Sowjetbürger" angesprochenen Russen im Lande nur die Illusion bekamen, über Estland informiert zu werden. Die Unterschiede im kulturellen Gedächtnis von Russen und Esten konnten in der Sowjetpresse nicht thematisiert werden. Auch heute sei es nicht anders, wenn auch aus anderen Gründen: Noch immer erleide selbst derjenige Nicht-Este, der Estnisch beherrsche, einen kulturellen Schock, wenn er sich auf eine estnische Umwelt einlasse. Interessanterweise sieht Jakobson im Misstrauen und in der Forderung nach Loyalität, mit denen die russischsprachigen Medien estnischerseits seit 1991 konfrontiert wurden, einen der Gründe dafür, dass diese sich nicht "demokratisiert" hätten - denn auf Kritik an Estland sei von vorneherein verzichtet worden. Wie dem auch sei, die Popularität der russischsprachigen Medien sinkt dramatisch, woran auch der Versuch in jüngerer Zeit, die Medien zu einer Plattform für russische Politiker aufzubauen, wenig geändert habe. Als Hauptquelle für Informationen etablierten sich unter den Russen in Estland zusehends Moskauer oder Sankt Petersburger Fernsehsender.
Anmerkung:
[1] hrsg. von Svennik Høyer, Epp Lauk, Peeter Vihalemm
Karsten Brüggemann