Martina Winkler: Karel Kramář (1860-1937). Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 10), München: Oldenbourg 2002, 413 S., ISBN 978-3-486-56620-8, EUR 49,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die vorliegende Leipziger Dissertation ist ein merkwürdiges Buch. Vom Titel her erwartet der Leser eine Biografie, aber der Untertitel warnt ihn bereits. Was das Werk dann leistet, ist eine kulturgeschichtliche Einordnung eines der bekanntesten tschechischen Politiker in die Ideenwelt seiner Zeit, die Lebensbeschreibung eines typischen und zugleich untypischen Vertreters einer Epoche in der Geschichte seiner Nation. Traditionell biografische Elemente erscheinen eher am Rande, zugleich aber wird in dem "Gewebe Karel Kramář" (384) ein Mensch mit widersprüchlichen Vorstellungen entblättert, die ihn in ein "Denkkollektiv" (18) seiner Generation stellen. Damit wird gewissermaßen eine Biografie auf höherer Ebene geschaffen. Kramář wird im Netzwerk unterschiedlicher "Diskurse" gezeigt, die sich in der Verwendung widersprüchlicher, aber zeitgemäßer "Codes" wiederspiegeln.
In mehreren Zugängen nähert sich die Verfasserin ihrem "Helden", von dem sie dezidiert sagt, dass er keiner ist. Stets steht am Anfang eines solchen Annäherungsversuchs eine theoretische Einleitung, die den zu behandelnden Komplex nach einer kritischen Sicht auf die soziologische, philosophische und politologische Literatur begrifflich klärt. Dann arbeitet sie aus den Quellen, zu denen Privatbriefe, Tagebücher, Reden, Artikel und Bücher zählen, die jeweilige Einstellung von Kramář heraus, kontrastiert diese mit anderen Personen - oftmals mit dem großen Konkurrenten T. G. Masaryk - und erschließt auf diese Weise Schicht um Schicht der komplexen Struktur dieser Persönlichkeit. Man könnte fast von einer Sammlung von Essays sprechen, wenn es der Verfasserin nicht immer wieder gelänge, den großen Zusammenhang herzustellen, die "Textur" (21) aus vielen Einzelsträngen zusammenzubinden.
Ein zentraler roter Faden ist der "nationale Diskurs" der Tschechen, für die der Politiker Kramář auf verschiedenen Ebenen seit 1890 tätig war, deren führende Persönlichkeit er im Weltkrieg durch den Hochverratsprozess und das Todesurteil wurde, die er dann als erster Ministerpräsident der neu gegründeten Tschechoslowakei auf der Friedenskonferenz in Paris vertrat, um darauf ins politische Abseits zu rutschen. Aus dem politischen Held und Fast-Märtyrer wurde ein nationalistischer Sonderling.
Martina Winkler wechselt mehrfach die Ebene der Argumentation, wenn sie zum einen dezidiert persönliche Neigungen - etwa seine Einstellung zu Russland - in allen Verästelungen verfolgt, dann aber in zwei Exkursen allgemeine Zeitströmungen und Erfahrungen kollektiver Art beschreibt: das Fin de Siècle und die Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Gerade die letztgenannte fehlte aber Kramář, der darum, wie sie pointiert feststellt, den Einstieg in das 20. Jahrhundert verpasste (285). In anderen Problemfeldern kann er wieder als typisch gelten, wie in der feindseligen Haltung gegenüber den Deutschen und Deutschland, das geradezu zu einem "Dämon" hochstilisiert wurde (245 ff).
Das politische Denken und die politische Betätigung in der Ersten Republik werden in einem langen Kapitel über die Demokratiekonzepte vorgestellt. Kramář leitete die Partei der Nationaldemokraten, die zwar den Anspruch erhob, für alle Tschechen zu sprechen, aber gegenüber der Politik der "Burg" um den Staatspräsidenten Masaryk wenig ausrichten konnte. Er liebäugelte gar mit dem Faschismus, war aber zu bürgerlich, um Faschist zu sein (335).
Das letzte Kapitel widmet die Verfasserin dem Problemkreis der "Moderne", wobei sie die Phänomene der "Masse", des Konservatismus und des Fortschritts abhandelt, indem sie bestimmte Schlüsseldokumente ein weiteres Mal unter einem anderen Blickwinkel interpretiert.
Die widersprüchlichen Einzelbefunde ordnet sie im Schlusskapitel. Kramář war in seinem antimodernistischen Denken der Moderne zutiefst verhaftet (361); er verharrte im "Labyrinth der Moderne" (385), aus dem er selbst gar nicht herausfinden wollte.
Solche überraschenden Formulierungen finden sich häufig in diesem packend geschriebenen Buch. Die Aussagen über die tschechische Gesellschaft verraten große Belesenheit und ein differenziertes Ausdrucksvermögen: Die Betrachtung eines Menschen in seiner Zeit führt nicht immer zu eindeutigen "Schubladen der Geistesgeschichte" (385), stellt ihn in unterschiedliche "Diskurse" und konfrontiert ihn mit widersprüchlichen "Codes", aber darin besteht auch der Reiz einer modernen Biografie. Der Verfasserin ist ein wichtiges und spannendes Buch gelungen.
Manfred Alexander