Rezension über:

Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2002, 355 S., 9 Farb- u. 70 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2392-7, EUR 78,00
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Rezension von:
Achim Simon
Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Achim Simon: Rezension von: Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/1951.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi

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Ziel des Buches ist es, das Sakrament der Eucharistie als bedeutenden ikonologischen und kunsttheoretischen Aspekt der altniederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts vorzustellen. Bezüglich der Retabelmalerei muss die Verfasserin allerdings eingestehen, dass nur zwei Beispiele mit expliziter Formulierung dieses Themas überliefert sind. Es sind dies Dirk Bouts' Abendmahlretabel in Löwen und Justus van Gents Apostelkommunion in Urbino. Der Antwerpener Sakramentsaltar Rogier van der Weydens wird zu Recht als lediglich programmatisches Bild ausgeschieden.

Andererseits können die häufigsten niederländischen Retabelmotive (Geburt, Anbetung der Könige, Kreuzabnahme und Grablegung) sakramental interpretiert werden, worüber in der Forschung weitgehend Einigkeit herrscht. Zum einen wird diese Deutung auf Grund der Funktion des Kunstwerkes nahe gelegt, zum anderen wird die Messfeier in der theologischen Exegese als Wiederholung der Heilsgeschichte aufgefasst. Schlie meint allerdings, dass sich diese Darstellungen nicht auf die Liturgie selbst beziehen, sondern auf die Verehrung des Sakramentes "außerhalb der Messe". Als Haupteinwand gegen diese These kann geltend gemacht werden, dass eine derartige Praxis zwar in deutschen Landen durch Quellen sehr gut belegt ist (in geringerem Maße auch in Böhmen, Ungarn und Polen), für die Niederlande aber keinerlei einschlägige Hinweise vorliegen. Der Verfasserin ist dieser Umstand bekannt, sie meint aber, durch Bildinterpretationen dennoch eine entsprechende Funktion beweisen zu können. Den dabei vorgestellten Werken kann mit hoher Plausibilität ein eucharistischer Aspekt zugesprochen werden, ein dezidierter Bezug auf einen extraliturgischen Gebrauch scheint allerdings unserer Auffassung nach in keinem Fall mit Notwendigkeit zu bestehen.

In einem eigenen Abschnitt wird ausführlich auf das (literarische) Exemplum als rhetorisches Mittel auch in der Malerei eingegangen. Der Ansatz ist durchaus vielversprechend, um etwa die zentrale Figur des Judas in Riemenschneiders Abendmahlaltar als Negativbeispiel zu interpretieren. Grundsätzlich ist allerdings zu fragen, ob die Definition des Exemplum als allgemeiner "Handlungsappell" ausreicht, oder ob nicht ein didaktischer Charakter des Beispiels vonnöten ist. So gesehen wären etwa die Hirten in der Berliner Anbetung des Hugo van der Goes nicht zwingend in dieser Weise zu klassifizieren.

In der Folge wird auch die Ikonologie von Andachtsbildern als vornehmlich sakramental gedeutet. Schlie übernimmt die häufig formulierte Kritik am Bildtypenbegriff mit dem Argument, dass spätestens seit dem 14. Jahrhundert jedes religiöse Bild der (privaten) Andacht dienen kann. Dabei wird unzulässig vereinfachend eine diachronische Unterscheidung zwischen einem hieratischen Bild der Frühzeit und dem Andachtsbild ab dem hohen Mittelalter postuliert. Der inhaltliche und funktionale Unterschied zum Altarbild wird mithilfe eines zweifelhaften Umkehrschlusses relativiert: Wenn ein Retabel sich zum Andachtsbild eignet, dann kann auch das private Andachtsbild "dem Inhalt und den Bildstrategien nach ein äußerst 'liturgisches' Bild sein" (201). Ein Vergleich mit zeitgenössischer Literatur legt nahe, dass Andachtsbilder der individuellen Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte, der Imitatio und Compassio dienten. Ein Bezug zum liturgischen Sakrament spielt dabei offensichtlich keine vordringliche Rolle, wenngleich er aus theologischer Sicht bei den meisten Themen implizit vorhanden ist. Auch kann, was die Autorin in Abrede stellt, verschiedentlich eine Entfremdung der Gläubigen von der institutionellen Kirche und ein Misstrauen der orthodoxen Theologie gegenüber individualisierenden Frömmigkeitsformen belegt werden. Die Zunahme der sakramentalen Themen in der Kunst ist somit auch als Verweis auf das katholische Privileg der heilsnotwendigen Sakramentspende zu sehen.

Die häufig konstatierte These von einer Säkularisierung der altniederländischen Malerei auf Grund einer "Verbürgerlichung" oder im Rahmen der Entwicklung hin zum "autonomen Kunstwerk" wird von Schlie zu Recht abgelehnt. Die Bilder dienen in Funktion und Form weiterhin der religiösen Aussage.

Bei der Behandlung des Realismus als augenscheinlichstem Charakteristikum der niederländischen Kunst wird eine formale Entwicklungsgeschichte mit dem Hinweis in Frage gestellt, dass veristische Darstellungsmöglichkeiten immer verfügbar waren, und "bei Bedarf aktiviert werden" konnten (255). In gewisser Weise erinnert diese Beschränkung auf die Ikonologie an die inhaltsbezogenen Stilmodi (humile, medium, grandiloquum) der antiken Rhetorik. Diese Position wird allerdings der kunsthistorischen Situation im Norden schwerlich gerecht. Vor allem, weil mit der formalen Genese unterschiedlicher Realismen auch differierende, inhaltliche Ausrichtungen einhergehen. Der im Titel angesprochene, "sakramentale Realismus" soll laut Schlie "die wahre Substanz des Leibes Christi zur Anschauung" bringen. Wobei sich diese Qualität nicht nur auf das Christusbild selbst beschränkt, sondern die gesamte Bildauffassung betrifft (280). Der Begriff charakterisiert somit den Verismus als adäquate Darstellungsform für die Transsubstantiation der Hostie. "Der real präsente Christus ermöglichte nicht nur, sondern forderte eine veristische Darstellung, die der Aktualität der Präsenz [...] gerecht werden konnte" (279). Diese durchaus interessante, außerordentliche Aufwertung des Realismus am Retabel lässt sich allerdings weder durch theologische Quellen noch durch Formanalyse erhärten, da sich der Verismus nicht von dem bei anderen Bildthemen unterscheidet.

Die seit längerem in Verruf geratene, panofskische Theorie vom "disguised symbolism" wird zu Recht zumindest teilweise rehabilitiert und mit einer, bereits verschiedentlich vorgeschlagenen Auffassung eines gleichsam pantheistischen, mittelalterlichen Weltbildes verbunden. Alles in der sichtbaren Natur ist Bedeutungsträger, womit auch der Realismus per se eine ikonologische Legitimation erfährt. Es lag dem Künstler daran "sein Bild mit einer bestimmten Bedeutung zu tränken, die innerbildlichen Bezüge zu verweben und zu vernetzen, sodass es als Ganzes, als heilige Entität verstanden werden konnte" (244). Das Bemühen um eine historisch relevante Weltsicht als Basis auch für die ikonologische Konzeption hat sicherlich seine Berechtigung, dennoch ist es nicht geeignet, die als zu rationalistisch kritisierte Methode der "traditionellen Ikonographen" gänzlich zu ersetzen. Gerade Jan van Eyck, der Meister von Flémalle oder Petrus Christus greifen vornehmlich auf eindeutig identifizierbare, "katechistische" Motive etwa der Typologie zurück.

In einem letzten Abschnitt wird versucht, eine "gemalte Kunsttheorie" sowie Elemente einer selbstreflexiven Malerei wiederum in Verbindung mit der Eucharistie zu rekonstruieren. Dabei wird auf verschiedene, in der Forschung schon wiederholt abgehandelte Ansätze eingegangen - im Besonderen auf die mit Inkarnation und Transsubstantiation argumentierende, mittelalterliche (Gottes-) Bildlegitimation. In Bezug darauf werden einige ikonographische Typen wie Vera Ikon und Gregoriusmesse überzeugend erarbeitet. Dennoch bleibt es fraglich, ob diese sehr komplexen Vorstellungen tatsächlich zur Ausbildung einer (unkodifizierten) Kunsttheorie führen konnten. Die Autorin bejaht dies ausdrücklich und spricht von Künstlern als theologischen Exegeten, was sich allerdings ebenfalls nicht direkt belegen lässt. Vielmehr scheint die durchaus feststellbare, ikonographische Eigendynamik in der mittelalterlichen Bildfindung doktrinären Konzepten häufig zuwider zu laufen. Man denke nur an die zahlreichen, kritischen Äußerungen seitens der Theologen gegen künstlerische Willkür.

Schlie legt ein materialreiches Buch vor, dessen Wert vor allem in interessanten Einzelbeobachtungen zu sehen ist. Die Hauptthesen können dagegen nur teilweise überzeugen. Vor allem bei Werken, die nicht in funktionalem Zusammenhang mit der Messe stehen, ist ein Rekurs auf das Sakrament nicht apriorisch zu unterstellen. Offensichtlich konnte das Thema mit niederländischer Kunst allein nicht ausreichend illustriert werden, weshalb immer wieder auf andere Kunstlandschaften verwiesen werden musste. Vermutlich wäre es sinnvoller gewesen, den Rahmen von vornherein entsprechend auszuweiten, was vielleicht auch eine präzisere Bestimmung regionaler Tendenzen in der Ikonologie erlaubt hätte.

Achim Simon