Pierluigi De Vecchi: Raffael. Aus dem Italienischen übersetzt von Annemarie Seling, München: Hirmer 2002, 383 S., 322 Abb., ISBN 978-3-7774-9500-2, EUR 125,00
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Der italienische Kunsthistoriker Pierluigi De Vecchi hat nach 1981 jetzt erneut eine opulent ausgestattete, umfangreiche Raffael-Monographie vorgelegt, welche dank Übersetzungen zugleich italienische, französische, englische und deutsche Interessenten anvisiert. De Vecchi gehört zum Kreis der Kunsthistoriker, die über Jahrzehnte das Raffael-Bild - gerade jenes des Jubiläumsjahres 1983 - maßgeblich geprägt haben. Um so gespannter darf man jetzt, zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Monografie und einigen hundert zu bewältigenden Seiten Raffael-Forschung zusätzlich, auf die (womöglich modifizierte) Sicht des versierten und erfahrenen Forschers auf Leben und Werk der Lichtgestalt Raffaels sein. Das hier in deutscher Übersetzung (von Annemarie Seling) vorzustellende Buch erweist sich als ein überaus profundes, umfassendes und kenntnisreiches Opus, das allerdings wenig Überraschungen bietet.
Kaum überraschend ist bereits der Aufbau der Monografie, die sich nun nicht mehr, wie De Vecchis "Raffaello. La pittura" von 1981, auf die Malerei des Künstlers beschränkt, sondern - "Raffael" allein im Titel tragend - auch den Architekten mit einbezieht. Die grobe, richtungsdefinierende Struktur bildet die Chronologie des Lebens: die früheste Sozialisation, die Ausbildung, die einzelnen Orte, an denen Raffael weilte und arbeitete, die Vorbilder oder Rivalen, die ihn begleiteten und inspirierten, Mäzene, die ihn förderten. Mitunter setzt De Vecchi seitenfüllende Akzente: Ihn interessiert die Genese von Werken wie bei der Pala Baglioni (109-120) oder besonders der Disputà, zu der sich etwa 40 Studien erhalten haben (137-149); er widmet sich allgemein dem langen, in vielen Zeichnungen ablesbaren "Studium" Raffaels (122-137), führt anschaulich dessen faszinierendes Verfahren vor, mittels übereinander gesetzter Striche simultan verschiedene Lösungen anzudeuten. Die römische Schaffensphase mit den Stanzen, den Wandteppichen, den Madonnen (im schwer einzuordnenden Abschnitt "Eine 'himmlische Natürlichkeit'") unterbricht De Vecchi für einen Abstecher zu den Porträts, bevor er dann, nämlich wenn die Homogenität von Raffaels Stil nachzulassen droht, die Werkstatt ins Visier nimmt. Unter diesem Abschnitt werden (kurioserweise) auch die architektonischen Projekte subsumiert. Ein Zwischenkapitel zur Antikenrezeption leitet über zum krönenden Abschluss von Raffaels Leben und Schaffen: der - wie kann es anders sein - Transfiguration, denn dank Vasari wissen wir ja, dass sich in diesem Werk alle Kräfte bündelten, dem Werk eines, so De Vecchi, "37 jährigen Künstlers, der in der vollen Kraft seiner Ausdrucksmittel stand" (345).
Nicht wirklich transparent werden die Kriterien, die De Vecchi bei der Gliederung seiner Monografie hat walten lassen: Mal steht eine Gattung im Vordergrund (Porträt), mal ein spezifisches Verhältnis zum Auftraggeber (Chigi), mal der Werkprozess (Disputà), mal kunsttheoretische Aspekte wie "Natürlichkeit" oder "Grazia". Der gemeinsame Nenner ist mit dem Künstler freilich schnell gefunden, doch mögliche Gattungsgrenzen und -differenzen, lokale Spezifika oder eine divergierende Betrachterrezeption werden ausgeklammert. Gelegentlich flackert ein Interesse für diese Aspekte auf, denn in den Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten stellt der Autor durchaus brisante Fragen: eingangs die nach der Gattung der Künstlermonografie, immer wieder auch die nach den je spezifischen Erwartungen an die Bildgestalt in den einzelnen künstlerischen Zentren, in denen Raffael gearbeitet hat. Es erfolgen instruktive Seitenblicke auf (sozial-)historische Zusammenhänge, weshalb etwa ausführlich der urbinatische Hof beleuchtet wird.
Aber es bleibt meist nur bei einführenden, Atmosphäre schaffenden Passagen, deren Gehalt sich weder mit den künstlerischen Erzeugnissen des Protagonisten vermengt oder deren Semantik gar bestimmt, noch den vorhersehbaren Gang der Monografie selbst zu dynamisieren vermag. Die Werke Raffaels bleiben letztlich individuelle, der jeweiligen künstlerischen Entwicklungsstufe und nicht (auch) äußeren Bedingtheiten unterworfene Produkte, gleichgültig ob sie für einen Altar oder einen privaten Bereich geschaffen wurden, ob für eine höfische Klientel an der römischen Kurie oder einen städtischen Auftraggeberkreis in Florenz. Beharrlich darf Raffael von Beginn an - "ein junges Talent, begierig und bedürftig neuer Erfahrungen" (75) - seine Entwicklungsstufen, seinen Stil stets verbessernd, durchlaufen. Und De Vecchi enttäuscht unsere internalisierten Erwartungen nicht: Wir lesen von dem gegenüber dem Lehrer Perugino zugenommenen psychologierenden Potenzial in den Frühwerken, von der varietà in den Florentiner Madonnenbildern, von der unglaublichen Fähigkeit zur künstlerischen Assimilation, vom "Wettstreit" mit Michelangelo und Leonardo (Dürer und die nordalpine Druckgrafik spielen keine Rolle!), vom großen dramatischen Erzähler Raffael, vom "stile tragico" im Spätwerk.
De Vecchi wählt dabei eine Autorenperspektive, die es ihm ermöglicht, sich in sicherer Entfernung oberhalb gefahrvoller Problemschluchten ruhig zu bewegen, eine Perspektive, die womöglich dem Leserkreis eines Buches diesen Formats und Anspruchs geschuldet ist. De Vecchi diskutiert nicht, er stellt fest. Das ist leserfreundlich, schafft Vertrauen, bietet aber oft ein schiefes Bild von dem, was die Raffael-Forschung (zwischen Zuschreibungswellen, typologischen Fragen oder kunsttheoretischen Aspekten) bewegt, was unsicher ist und bleiben wird, so lange man nicht auf einen mühsam zusammengetragenen Indizienfundus zurückgreifen kann.
Die in einen so allwissenden Ton gekleidete Sicht auf Leben und Werk provoziert einerseits Ungenauigkeiten (so ist mitnichten als sicher anzunehmen, dass das Porträt Julius' II. für die römische Kirche S. Maria del Popolo geschaffen wurde (222), auch wenn es dort an hohen Marienfesttagen aufgehängt wurde. Ferner: Bei der Chigi-Kapelle in derselben Kirche ist es keinesfalls gesichert, dass es ein geplantes und zudem in Skizzen angedachtes Altarbild von Raffael gab (278). Oder: Elena Duglioli besaß keine Reliquien der heiligen Helena, sondern Reliquien der heiligen Caecilie (251)). Andererseits birgt diese Autorenperspektive die Gefahr des Lavierens, des Sich-Flüchtens in eine vage, wenn auch wohlklingende Allgemeingültigkeit.
Der künstlerischen Form überlässt De Vecchi die oberste Richtergewalt. Man kann dem Autor dabei keineswegs Ignoranz ikonographisch-ikonologischer Deutungsmöglichkeiten vorwerfen; die langen Passagen etwa zu den vatikanischen Stanzen widmen sich durchaus auch der verwinkelten Entstehungsgeschichte, den baulichen Bedingungen, es finden sich sogar knappe (wenn auch nicht mit den Fresken verknüpfte) Verweise auf funktionale Bestimmungen der einzelnen Räume, und man liest mit großem Gewinn seine primär künstlerischen Analysen über Raumaufteilung oder Disposition von Figurengruppen. Und doch erscheint es schließlich wie eine bequeme Kapitulation vor der überbordenden Raffaelforschung, wenn er nach einer kurz angerissenen Diskussion der Bedeutungsebene zur Befreiung Petri schreibt: "Sieht man von all diesen Bezügen ab, auch von den eventuellen Bedingungen, die dem Künstler auferlegt waren, so muß doch eigens betont werden, daß es sich um eine unvergeßliche Bilderfindung handelt." - Kurzum: Es wurde ein Bild geschaffen, "das jeden Betrachter fasziniert" (183 f.). Die Frage nach diesem Jedermann darf dem Leser von De Vecchis Buch freilich nicht in den Sinn kommen.
Gerade bei Raffaels früher Schaffensphase hilft die werkimmanente Analyse oder der formale Vergleich mit Perugino nur noch bedingt weiter (Alternativen bieten, leider unbeachtet, C. Wagners und R. Hiller von Gaertringens Bücher, beide 1999). Die irritierende stilistische Uneinheitlichkeit des für die Raffael-Forschung nach wie vor unbequemen Colonna-Altars (dessen Abbildung man vergeblich sucht) wird mit einer langen Entstehungsphase abgefertigt. Obwohl durchaus neuere Mutmaßungen über die Auftraggeberschaft referiert werden, fehlt noch immer der Verweis auf den genauen Aufstellungsort dieses vielleicht ganz bewusst retrospektiv angelegten Altarwerks. Dass bei der frühen Marienkrönung die unterschiedliche Gestaltung von oberer und unterer Zone sich nicht unbedingt einem längeren Entstehungszeitraum verdankt, sondern einem in späteren Werken immer wieder auftauchenden ikonographischen Kalkül folgt, beachtet De Vecchi nicht. Stattdessen: "Das innovative Element dieses Bildes liegt im Versuch feiner psychologischer und gefühlsmäßiger Nuancierung, die sowohl in den Gesichtern als auch in den einprägsamen Gesten und Haltungen zum Ausdruck kommt" (46). Das mag stimmen, bleibt aber vage. Vielmehr lässt sich Raffaels Abkehr von Perugino weit konkreter fassen, nämlich in seiner Adaption einer spezifischen literarischen Vorlage, zudem in einer Auseinandersetzung besonders mit ikonographischen Vorgaben Sieneser Provenienz, die Raffael zu einer in narrativer Hinsicht vollkommen anderen Lösung verhilft. Mit dem Wissen um die erzählerischen Qualitäten des jungen Raffael hätte sich De Vecchi bei den beiden Predellentafeln zur Kreuzigung vielleicht nicht zu der rührseligen Beobachtung hinreißen lassen, sie "strahlen den ganzen Zauber einer naiven Heiligenerzählung aus" (48).
So bleibt es denn auch im Falle des Sposalizio bei den üblichen, wenngleich durchaus wichtigen und gut beobachteten Vergleichsmustern zwischen Perugino und Raffael. Eine Berücksichtigung der Geschichte der Ring-Reliquie, die Jörg Träger geschrieben hat (Renaissance und Religion, München 1997) und die nicht nur das Konkurrenzverhältnis zwischen Raffael und Perugino, sondern dasjenige zwischen Perugia und Città di Castello beleuchtet, hätte hier dem Raffaelbild neue und wichtige Akzente geben können. Auch bei der Pala Baglioni hätte die Konsultation neuerer Forschungen (H. Locher, Das Altarbild der Renaissance, Berlin 1994) zu einer griffigeren Formulierung führen dürfen als jener De Vecchis zur Genese des Werkes, die sich präsentiere als ein "Übergang vom vorwiegend lyrischen und kontemplativen Thema der 'Beweinung' zu dem pathetischen, heroischen Motiv der 'Grablegung' [...]" (112). - Auch das mag stimmen; weit wichtiger aber noch ist es, dass hier eine Wandlung von einem primär mariologischen zu einem christologischen Thema vollzogen wird.
Es lassen sich noch weitere Beispiele für De Vecchis bevorzugte schöngeistige Perspektive auf Raffaels Werke finden, etwa bei den (überraschend knapp behandelten) Teppichen: Hier wird besonders die Mienen- und Gebärdensprache betont, sie ziele auf "exemplarische, mustergültige Identifikation und Repräsentation psychischer, geistiger Vorgänge und selbst sozialer Verhältnisse ab, die in ihrem unwandelbaren, allgemeingültigen Charakter fixiert werden" (197). Eine Konkretisierung dessen darf der Leser wiederum nicht erwarten. Er hätte jedoch erwarten dürfen, dass die Gewandung Julius' II. auf seinem Porträt nicht als Käppchen und Bischofspelerine, sondern als Camauro und Mozzetta bezeichnet wird. Warum man aber zur Erklärung der Bildgestalt dieses Porträts eine intime Vertrautheit zwischen Künstler und Porträtiertem zwingend voraussetzen muss, wird nicht wirklich deutlich. Die Neuartigkeit von Raffaels Poträtkunst läge in der Darstellung der inneren Regungen des Papstes, und die Bemühungen um diese Neuartigkeit - und hier geht De Vecchi entschieden zu weit - verdanke sich der "starke(n) Sympathie und Bewunderung, vielleicht sogar Liebe, die er [Raffael] für den 'schrecklichen' Papst empfand" (228).
Es liegt mit De Vecchis "Raffael" ein Buch vor, das mit einer meist hervorragenden Abbildungsqualität und -anzahl nicht geizt. Um so erstaunlicher ist es daher, dass bei fast 400 Seiten Text, 322 Abbildungen und einem gesamtwerkumfassenden Anspruch nicht nur die Druckgrafik komplett ausgeschlossen, sondern auch so wichtige Altarbilder wie die Pala Colonna und die Madonna del Pesce nicht abgebildet wurden. Letzteres Werk wurde nicht einmal erwähnt, ein Schicksal, das es mit dem gattungsgeschichtlich so bedeutenden Porträt des Alessandro Farnese teilt.
Mit allem Ehrfurcht gebietenden Wissen verharrt De Vecchi in dem hinlänglich und von ihm selbst zwei Jahrzehnte zuvor bereits erprobten Künstlermonografie-Korsett, das uns den schon sehr vertrauten Raffael wieder einmal nahe bringt. Die seit Jahrhunderten genährte Teleologie von Leben und Schaffen Raffaels bleibt unerschüttert, keine Brüche tun sich auf oder gar Krisen. Zur Erklärung der offenbar reibungslosen kometenhaften Karriere kann nur das "günstige Schicksal" (8) bemüht werden, und obwohl De Vecchi selbst oft den warnenden Zeigefinger vor dem mythischen Künstlerbild erhebt, verweist er doch gleichzeitig zur Konturierung seines Bildes vom begünstigten Sonnenkind noch immer viel zu oft auf Vasari. Und: reicht es da aus, ein Buch mit der Erinnerung an den - trotz allen Glanzes - doch "unter dem Saturn Geborenen" zu beschließen (349)?
Eva-Bettina Krems