Denis Fachard (a cura di): Consulte e pratiche della Repubblica Fiorentina 1495-1497. Prefazione di Giorgio Cadoni (= Université de Lausanne. Publications de la Faculté des Lettres; XXXV), Genève: Droz 2002, 555 S., ISBN 978-2-60000-843-3, CHF 57,00
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Mit dem vorliegenden Band hat der in Nancy lehrende Italianist Denis Fachard eine große Editionsarbeit abgeschlossen, die im deutschsprachigen Raum, auch bei Machiavelli-Spezialisten, noch wenig Beachtung gefunden hat, und die es daher hier insgesamt vorzustellen gilt.
Das enorme Interesse an der vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit den "Pratica"-Protokollen, insbesondere der Jahre um 1500, nahm mit Felix Gilbert ihren Anfang. Gilberts Anliegen war zunächst die Kontextualisierung von Machiavellis politischem Denken. Bekanntlich war Machiavelli in den Jahren 1498-1512 als "secretario" Leiter der so genannten "zweiten" Kanzlei, die für die Außenpolitik zuständig war. Vielleicht auch auf Grund dieser Spezialisierung der zweiten Kanzlei auf den Außenschriftverkehr und aufgrund der häufigen diplomatischen Missionen Machiavellis sind allerdings nur 21 Protokolle in seiner Handschrift überliefert.
Die Auseinandersetzung mit den Protokollen führte bei Gilbert bald zu der Perspektivenverschiebung, welche die sprachlich-diskursive Formation der Florentiner politischen Praxis gleichsam selbst zum Protagonisten der Geschichte machte, nicht nur zum Kontext der Werke Machiavellis und Guicciardinis. [1] Wenn John G.A. Pocock und Quentin Skinner als geistige Gilbert-Schüler anzusehen sind, so fußt der nach wie vor von vielen favorisierte Ansatz der political-language-Analyse und in gewisser Hinsicht auch das Republikanismus-Paradigma auf Gilberts Vorarbeiten und damit gerade auch auf der ersten Auseinandersetzung mit der Sprache der "Pratica"-Protokolle. Diese sind allerdings nun erst 1988-2002 von Denis Fachard ediert worden. Abgesehen von einer im engeren Sinne sprachwissenschaftlichen Studie von Stefano Telve ist diese Editionsarbeit bisher noch kaum genutzt worden. Dies gilt leider ebenso für die oft ganz weitgehend enthistorisierte deutsche Politikwissenschaft wie für die neue Welle der - meist gegen das Republikanismus-Paradigma in seiner reduktionistischen Fassung gerichteten - Machiavelli-Exegesen des französischsprachigen Raums (Michel Senellart, Gérald Sfez, Thierry Menissier, Thomas Berns), obwohl hier Machiavelli-Experten wie Jean-Jacques Marchand, Denis Fachard, Paul Larivaille und die Gruppe zur Erforschung des italienischen Humanismus an der Ecole Normale Supérieure de Lyon an sich eine Vorarbeit leisten, die leicht abzugreifen wäre.
Die hauptsächlich im Florentiner Archivio di Stato und in der dortigen Nationalbibliothek aufbewahrten Bände, die den Namen "Consulte e pratiche" tragen, gehen auf die Protokollführung der Florentiner Kanzleisekretäre bei den meist "Pratica" genannten politischen Beratungsversammlungen der Stadtrepublik zurück. Die "Pratica" war kein eigentliches - modern gesprochen - exekutives oder legislatives Verfassungsorgan, sondern an sich nur eine Versammlung, die die Stadtobrigkeit (die "Signoria" und den "Gonfaloniere di giustizia") und den eigentlich entscheidenden "Consiglio maggiore" im Hinblick auf wichtige Probleme, die das Wohl der ganzen Republik betrafen, beriet. In der "Pratica" konstituierten sich das Um-Rat-Fragen und die Rat-Erteilung, wie sie üblich waren in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Regierungspraxis, nicht nur im republikanischen Bereich. So entsprach auch der strukturelle Ablauf dem anderer bekannter Beratungsgremien im frühneuzeitlichen Europa: Auf die Proposition der gestellten Probleme durch die Herrschaft (meist durch den "Gonfaloniere") folgten in einer nach dem Rang der "membri" der Republik geordneten Reihenfolge die Stellungnahmen durch die Redner. In den Kurien des frühneuzeitlichen Reichstages entsprach dem zum Beispiel die Folge Proposition - Umfrage. Wie dort fand nicht eigentlich eine Diskussion, ein Schlagabtausch von Argumenten statt. Vielmehr zogen sich die "membri" nach der Proposition in Seitenräume des Palazzo vecchio zurück, berieten sich und votierten intern, um dann einen von ihnen mit der Ehrenrolle des Redners zu betrauen. Die "membri" waren die einzelnen Organe der Republik, etwa die "Dieci di pace e libertà", die "ufficiali del monte" und all die anderen Institutionen und Korporationen, die in den alten städtischen Traditionen seit dem Hochmittelalter gründeten. Daneben wurde auch zuweilen Einzelpersonen, meist hoch angesehenen Mitgliedern des Stadtadels, ein Votum erteilt. Ob und wie all dies im Detail geregelt war, ist bislang - trotz der Forschungen Guidobaldo Guidis - noch kaum geklärt. Ausführliche Kodifizierungen von Mitgliedschaft, Ablauf, Zeremoniell et cetera fehlen, und so lässt sich das Gewohnheitsrecht nur aus der Praxis ablesen.
Die "Pratiche" wurden schon im Hochmittelalter abgehalten, Protokolle sind seit der Mitte des 14. Jahrhunderts relativ durchgehend bis zur Institutionenreform 1480 archiviert, dann wieder zwischen 1495 und 1512 für die restituierte Republik nach der Vertreibung der Medici und schließlich auch für die kurze Dauer der letzten Republik (1527-1530). Die frühen Protokolle wurden auf Latein verfasst, im Laufe des 15. Jahrhunderts drang das Italienische ein - durchaus aber mit gegenläufigen Perioden, in denen wieder fast nur lateinisch protokolliert wurde (so gerade in der letzten Periode vor der Institutionenreform, 1466-1480). [2] Erst nach der Vertreibung der Medici 1495 - und hier setzen die Editionen Fachards ein - wurden die Protokolle durchgehend auf Italienisch verfasst. Aber nicht nur durch den Sprachwechsel unterscheiden sich die Protokolle der Zeit ab 1495 deutlich von jenen des Spätmittelalters: Sie sind erheblich ausführlicher, die Sekretäre schrieben teilweise den Duktus der Reden komplett mit und fassten weniger grob inhaltlich zusammen. Insofern sind die Protokolle auch ein einmaliges Zeugnis der stadtrepublikanischen Redekultur: Hier ist die Wirkung der humanistischen, nun in den Alltag der politischen Entscheidungsfindung eingegangenen Ausbildung mit Händen greifbar. Der Bruch mit dem Lateinischen zwischen 1480 und 1495 verweist insofern zugleich auf die Durchsetzung des "umanesimo volgare" jenseits der rein literarischen Ausdrucksformen.
Fachards Edition bietet eine höchst verlässliche, vollständige Transkription der Protokolle, die in allen Bänden - und so auch in dem zu besprechenden - durch einen Namen- und Ortsindex erschlossen sind. Die penible Sorgfalt und Sachkenntnis des Editors, der auch an der aktuell im Entstehen begriffenen "Edizione Nazionale" der Werke Machiavellis mitarbeitet, ist auf Schritt und Tritt zu spüren. Leider fehlt ein Begriffs- oder Sachindex, der gerade deshalb sehr hilfreich wäre, weil die Edition auch jenseits der reinen politischen Ereignis(wahrnehmungs)geschichte und der institutionellen und personalen Florentiner Mikrogeschichte höchstes Interesse beanspruchen kann.
Die Editionen bieten einen unersetzlichen Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung der aktuellen Ereignisse, in den Denkrahmen der Florentiner politischen Kultur. Die chronologisch ersten erscheinen nun zuletzt und geben Zeugnis von den ständigen Überlegungen und Bemühungen der Politiker um die Stabilisierung der jungen Republik nach der Vertreibung Piero de' Medicis. Die Außenpolitik mit der gescheiterten Pisa-Unternehmung, die schwierige Allianzpolitik mit dem französischen König, die Innenpolitik mit der Justizreform und den steten Problemen der Staatsfinanzen. Die ersten Reaktionen der Kurie auf Savonarolas Predigten finden Beachtung - die aufwühlende und grundsätzliche Beratung zur Savonarola-Frage und seine (in der "Pratica" knapp entschiedene) Übergabe an die Inquisition erfolgten freilich erst 1498. Fachard selbst deutet mit einer bescheidenen Notiz an (in der Einleitung [12] zum ersten Band der 1993 erschienenen Pratiche der Jahre 1498-1505), inwiefern hier wertvollstes Material für die Geschichte von so zentralen Begriffen der italienischen und dann der europäischen Politikkultur vorliegt wie "prudenza", "fortuna", "tempo", dem Respekt vor den "leggi" und der "giustizia", von Antinomen wie "timore" / "amore", "publico" / "privato", "senso" / "ragione", "passato" / "futuro". Die in der jüngeren Forschung große Beachtung findende Geschichte der Rhetorik müsste in den "Pratiche"-Protokollen die wertvolle Überlieferung der volkssprachlich-humanistischen Kultur der deliberativen Rede erkennen - auch wenn freilich der Quelle das unvermeidliche Manko anhaftet, dass die mündliche Rede immer nur so vorliegt, wie sie vom Sekretär hastig mitgeschrieben wurde. Man hat nur das Ergebnis der Filterung seiner Zusammenfassung und damit oft auch seine ganz persönlichen Sprachgepflogenheiten.
Ganz generell, wenn man die Quellen als Protokolle von Entscheidungsfindungs-verschriftlichungen liest, bieten die "Pratiche" auch eine unschätzbare Grundlage für das Studium des beginnenden Wandels der Methoden eben dieser politischen Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit. [3] Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive wäre es natürlich zu begrüßen, wenn dieses Quellenmaterial in nicht allzu ferner Zukunft auch in elektronischer und damit leicht zu durchsuchenden Form zu Verfügung stünde.
Jedenfalls kann aber die Forschung Denis Fachard nur für den Abschluss dieses langen Ein-Mann-Unternehmens danken und muss zugleich darin den Ansporn zu Studien sehen, die sich nun an die Auswertung machen.
Anmerkungen:
[1] Von Gilberts Forschungen vergleiche in diesem Zusammenhang vor allem Felix Gilbert: Florentine Political Assumptions in the Period of Savonarola and Soderini, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 20 (1957), 187-214; ders.: Machiavelli and Guicciardini: Politics and History in Sixteenth-Century Florence, New York 1968.
[2] Ediert (von Elio Conti, Renzo Ninci, Laura De Angelis und anderen) liegen vor die Protokolle von 1401, 1404 und 1405-1406.
[3] Vergleiche dazu alsbald im Druck die abgeschlossene, von Winfried Schulze und Gérald Chaix betreute Dissertation "Discorso und lex" des Rezensenten.
Cornel Zwierlein