Rezension über:

Christof Thoenes: Opus incertum. Italienische Studien aus drei Jahrzehnten (= Aachener Bibliothek; Bd. 3), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 528 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-422-06337-2, EUR 34,80
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Rezension von:
Eva-Maria Seng
Institut für Kunstgeschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Hoppe
Empfohlene Zitierweise:
Eva-Maria Seng: Rezension von: Christof Thoenes: Opus incertum. Italienische Studien aus drei Jahrzehnten, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/3477.html


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Christof Thoenes: Opus incertum

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Mit "Opus incertum" überschreibt Christof Thoenes einen Sammelband eigener Aufsätze aus drei Jahrzehnten kunsthistorischer Forscherexistenz in Rom. Dabei scheint der Rezensentin der Hinweis auf eine Vitruv-Stelle auch als ein lebenskluger Ratschlag an Kunsthistoriker - insbesondere der jüngeren Generation. Denn in den "Arten des Mauerwerks" stellt Vitruv dem 'reticulatum', dem netzförmigen Mauerwerk, das zwar anmutiger, aber weniger solide sei, das 'opus incertum', das optisch weniger gefällige, aber festere unregelmäßige Bruchsteinmauerwerk gegenüber. In dieser Weise verfährt auch Thoenes; einerseits ganz in einer sich selbst stets überdenkenden und notfalls revidierenden Arbeitsweise, andererseits in der sorgfältigen Zusammenstellung und Aufbereitung seines Materials, das selbst im Falle einer Änderung des Gesamtergebnisses als fester und gesicherter Ausgangspunkt für neue Studien dienen kann.

Die zwanzig Aufsätze befassen sich mit Architektur und Architekturtheorie und insbesondere mit der Erforschung des Petersdoms bzw. den frühen St.-Peter-Entwürfen, dem lebenslangen Hauptbeschäftigungsgegenstand von Christof Thoenes. Hinzu kommen zwei Texte zu Raffaels Galatea-Fresko im Palazzo della Farnesina, eine Studie zu Raffaels Heliodor-Fresken in den Stanzen und ein Aufsatz zu Guercinos Aurora Ludovisi.

Schon in den beiden Aufsätzen zu Raffaels Galatea-Fresko werden die tieferen Überzeugungen der kunsthistorischen Beschäftigung ihres Autors deutlich. Der erste Text von 1977, der der literarischen Überlieferung und bildlichen Tradition gewidmet ist, betont jenseits von Erzählstoff oder ikonologischer Entschlüsselung die Autonomie von Raffaels Kunstwerk und spürt damit dessen 'künstlerischem' Interpretationsvermögen beziehungsweise dem "Mehr" eines Kunstwerks gegenüber reiner Interpretation des Stoffs nach. Der zweite Aufsatz von 1986 vertieft diesen Ansatz nochmals, indem er die zehn Jahre zuvor gefundene Interpretation (scheinbar) teilweise widerruft, um nun die "Überschneidung divergenter Absichten und Ideen" und deren neue "synthetische" Zusammenführung durch Raffael und damit dessen antithetische Kompositionsweise herauszustellen. Auch hier steht am Ende das herausragende Kunstwerk.

Ähnlich verfährt Thoenes in seinen der Architektur und deren Theorie gewidmeten Studien. So reflektiert er in der Abhandlung zur Planung, Genese und teilweisen Realisation des Bourbonenschlosses von Caserta die architektonische Umsetzung der politischen Theorie des Absolutismus, die er an der "puren Rationalität", gepaart mit "Langeweile", festmacht, also der vollkommenen "more geometrico" im Sinne Descartes'.

Im Beitrag "Sostegno e adornamento" verarbeitet er die damals (1972) aktuelle Diskussion, inwieweit sich soziale Hierarchien in Architekturmotiven, hier dem Tabulariummotiv der Pfeilerarkade mit vorgeblendeter Ordnung, widerspiegeln. Dabei stützt sich Thoenes jedoch nicht auf die zu jener Zeit propagierte historisch-materialistische Methode zur Analyse seines Motivs, sondern auf die traditionelle Formgeschichte.

Jenseits des jeweiligen eigentlichen Aufsatz-Gegenstandes verhandelt Thoenes in einem Teil seiner Beiträge jeweils eine der Methoden unseres Faches. Er testet damit gleichsam die kunsthistorischen Methoden an klassischen Gegenständen: die ikonographisch-ikonologische Methode am Galatea-Stoff und an Raffaels Fresko, das Zeitphänomen anhand Raffaels Heliodor-Fresken und das Problem der handwerklich-technischen, also praktischen Reaktion auf die antiquarisch-literarische Kultur der Humanisten anhand der Ikonographie architekturtheoretischer Titelblätter (Vignolas "Regola delli cinque ordini"). Im zweiten Galatea-Aufsatz wird außerdem die dekonstruktivistische Methode angewandt.

Die um St. Peter kreisenden Aufsätze hingegen verfolgen eine Rekonstruktion und Annäherung an die Entwurfspraxis, Plan- und Vorstellungswelt der mit dem Bau befassten großen Renaissancearchitekten. Sie münden in eine Archäologie des neuzeitlichen Denkens, das heißt Ablösung der Analogiereihen durch eine rationale, stringente und deduzierbare Methode, die ihre Entsprechung im Messen, Zählen und Zuordnen der architektonischen Entwurfstechniken findet. Aber auch bei diesen Studien geht es Thoenes letztendlich um den Gestaltungswillen der Künstlerarchitekten gegenüber ihren Auftraggebern und damit um die unterschiedlichen Konzeptionen der jeweiligen künstlerischen Handschriften.

Die Aufsatzsammlung von Christof Thoenes ist deshalb aus mehreren Gründen vor allem der jungen nachfolgenden Kunsthistorikergeneration zur Lektüre zu empfehlen: Zuerst einmal, da er die Methoden des Fachs nicht wie häufig in Einführungsbänden zur Kunstgeschichte abhandelt, sondern konkret am Gegenstand vorführt, womit die jeweiligen Stärken und Schwächen deutlich werden, zum Zweiten, weil er die Kernfragen der letzten dreißig Jahre der Frühneuzeitforschung anschaulich vorführt; zum Dritten, weil ein guter Überblick der in den vergangenen dreißig Jahren an der Bibliotheca Hertziana gestellten Fragen nachvollziehbar und damit die italianistische Seite unseres Faches wiedergegeben wird, die er, viertens, sogar in persönlichen, liebenswürdigen Schilderungen - wie dem Nachruf auf Franz Graf Wolff Metternich, dem ersten Nachkriegs-Direktor dieser Institution "farbig" nachzeichnet.

Schließlich ist die Rezensentin am Ende froh, dass Christof Thoenes die eigene Sichtweise revidiert, er sei "kein Historiker" (295), indem er vollkommen zu Recht sein ganzes Werk als Reflexion über Geschichte und Geschichtsdenken beschreibt (489, 504, 505), was übrigens auch schon in seinem ersten Beitrag angelegt ist.

Eva-Maria Seng