Heinz G. Haupt (Hg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 151), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 288 S., ISBN 978-3-525-35167-3, EUR 36,00
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Seit dem Beginn der 1990er-Jahre ist die Forschung zu den europäischen Zünften in der Frühen Neuzeit in Bewegung geraten. Konnte man diese korporativen Institutionen des Handwerks lange Zeit und auch mit guten Gründen als 'verknöchert' und den wirtschaftlichen Fortschritt hemmend bewerten, so zeigt sich die Forschung der letzten Jahre den vielfältigen, auch positiven Funktionen dieser Korporationen gegenüber aufgeschlossener und hat zudem eine außerordentlich große Vielfalt zünftiger Organisationen identifiziert. Diese Vielfalt, die gerade auch in europäisch vergleichender Perspektive deutlich wird, erschwert es immer mehr, gerade im 18. Jahrhundert vorwiegend Tendenzen des Zerfalls überkommener Zunftordnungen auszumachen. Diese Entwicklung der neueren Zunftforschung greift der Sammelband zum "Ende der Zünfte" auf und bietet ein breites Panorama zu den Territorien des Alten Reiches sowie den Niederlanden, Frankreich und weiteren west- und südeuropäischen Ländern, aber mit Ungarn und den Ländern des Balkans auch zu Ost- und Südosteuropa. Im Bestreben, "in den zünftigen Institutionen eher anpassungsfähige und vielfältige Gebilde als starre Relikte der Vergangenheit zu sehen" (11), will der Sammelband die wirkliche Bandbreite zünftiger Aufgaben erfassen und dabei im internationalen Vergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifizieren.
In seiner Einleitung entwirft Heinz-Gerhard Haupt ein breites Spektrum möglicher methodischer Zugänge. Zunächst warnt er davor, normative Quellen zur Zunftgeschichte zu ignorieren, und plädiert dafür, die traditionelle Institutionengeschichte mit neuen Fragen nach der Wirkung der Zünfte auf Normenbildung und Verhaltensweisen ihrer Mitglieder zu verbinden. Insgesamt rät er dazu, die Funktionen der Zünfte nicht nur in ökonomischer Perspektive zu thematisieren, sondern auch die Teilhabe ihrer Vertreter am Stadtregiment, aber auch "an der Entwicklung von neuen Formen politischer Kommunikation" (15) zu behandeln und so der Funktion der Zünfte als "Experimentierfelder politischer Öffentlichkeit" gerecht zu werden (15). Dem internationalen Vergleich liegt dabei eine Definition der Zünfte als "Organisationen des wirtschaftlichen Monopols von Meistern" (16) zu Grunde. Welche Ergebnisse fördern nun die einzelnen Studien zu Tage, wenn es darum geht, den oft beschworenen modernisierungshemmenden Charakter dieser Institutionen zu problematisieren, oder darum, ihren Beitrag zur Funktionsfähigkeit des städtischen Kapitalismus, beispielsweise aufgrund der von ihnen bereitgestellten Systeme sozialer Sicherung, neu zu beleuchten?
Reinhold Reith untersucht in seinem Beitrag zu den Zünften "im Süden des Alten Reiches" in knappen, schlaglichtartigen Abschnitten zunächst die auch für andere Regionen nachgewiesenen Konjunkturen der Zunftbildung, die auch im 18. Jahrhundert noch zu Um- und Neugründungen von Zünften geführt haben. Ferner trägt er der im 17. und 18. Jahrhundert zumal im süddeutschen Raum gestiegenen Bedeutung des Landhandwerks Rechnung und erwähnt die nicht in Zünften organisierte Konkurrenz, seien es privilegierte Hofhandwerker, sei es die gewerbliche Frauenarbeit - hier allerdings hätte man gerne mehr erfahren, zumal neuere Arbeiten wie jene von Christine Werkstetter zu "Frauen im Augsburger Zunfthandwerk" gerade auch die Partizipation von Handwerker-Ehefrauen, -Witwen, -Töchtern und -Mägden an der zünftig organisierten Produktion betont haben. Mit Blick auf die Reichsstädte hält Reith die engen Grenzen des Einflusses auf den Rat fest und kommt damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie Wilfried Reininghaus in seinem Beitrag zu Westfalen und dem Rheinland, der mit Blick auf die Reichsstädte Köln, Aachen und Dortmund einen vorwaltenden Einfluss der Kaufleute und Manufakturbesitzer in gewerbepolitischen Fragen feststellt.
Ein außerordentlich differenziertes Bild entwirft Josef Ehmer in seinem glänzenden Beitrag zu Österreich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Zunächst verweist er auf den dynamischen Prozess der vielen Zunftgründungen im 18. Jahrhundert und erläutert sodann detaillierte, auf quantitative Erhebungen gestützte Untersuchungen zum Organisationsgrad der Zünfte. Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass das Zunftwesen am ehesten in kleineren Städten flächendeckend war, nicht aber in Wien, wo im 17. und 18. Jahrhundert "bestenfalls ein Drittel der Handwerker zünftig organisiert gewesen zu sein" (95) scheint. Ohne dass für diesen wie auch für die anderen Beiträge sämtliche Aspekte referiert werden könnten, so scheinen doch Ehmers knappe Hinweise auf die gesamteuropäischen Kommunikations- und Migrationsbeziehungen der Gesellen und Meister viel versprechende Forschungsperspektiven zu eröffnen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Ehmer sodann dem Verhältnis der Zünfte zum reformabsolutistischen Staat, der sowohl die rechtliche Vereinheitlichung der Zünfte vorantrieb als auch ihnen zunehmend staatliche Aufgaben, wie zum Beispiel die Steuererhebung bei ihren Mitgliedern, übertrug.
Dies war auch in anderen Staaten wie Schweden ähnlich, wie Lars Edgren in seinem Beitrag herausarbeitet. Hier hatte die Zunftordnung von 1720 versucht, einen Kompromiss zwischen dem Monopolinteresse der Meister und dem Interesse der Konsumenten an einem funktionierenden Wettbewerb herzustellen. Allerdings erwiesen sich die Zünfte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als fähig, ihr Interesse an der Beschränkung des Zuzugs neuer Meister zu einem erheblichen Grad aufrecht zu erhalten. Dieser Beitrag, der auf einer weniger guten Forschungslage als andere basiert, geht auch grenzübergreifenden Verflechtungen nach. Hier erwies sich das Bestreben der Behörden, Gesellenbräuche wie die Wanderung abzuschaffen, zwar als ernstes Hindernis für den funktionierenden Austausch von Kenntnissen; andererseits scheinen diese Bestrebungen von den Zünften und den Meistern auch erfolgreich unterlaufen worden zu sein. Insgesamt schließt sich Edgren dem Urteil der bisherigen Wirtschaftsgeschichte an, die den Einfluss der Zünfte auf die wirtschaftliche Entwicklung der schwedischen Industrie eher niedrig veranschlagt, und damit auch die mögliche Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklung durch diese Institution.
Ähnlich wie dies auch von anderen Autoren festgestellt wird, ist auch in der niederländischen Republik im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs ein Rückgang des Zunftwesens festzustellen, eher das Gegenteil. Ungeachtet einiger Ausnahmen zeichnete sich die niederländische Republik durch eine vergleichsweise hohe Zunftdichte aus. Besonderes Gewicht legt der von Redundanzen nicht ganz freie Beitrag von Sandra Bos, Piet Lourens und Jan Lucassen auf die Funktion der sozialen Absicherung der Zunftmitglieder, deren vielfältige Formen die Autoren detailliert darstellen.
Schon vor dem Hintergrund der Ursprünge der Debatte zur Protoindustrialisierung darf der Beitrag von Catharina Lis und Hugo Soly zu den Österreichischen Niederlanden besonderes Interesse beanspruchen. Tatsächlich erweist er sich trotz einer in vielem noch unzureichenden Forschungslage als einer der informativsten des Bandes, wozu auch klare Fragestellungen beitragen, etwa: Wie reagierten die städtischen Zünfte auf das wirtschaftliche Wachstum seit 1750? Welche Folgen hatte die spätestens mit Joseph II. verstärkte Involvierung des Staates in die Zunftordnung? Entgegen dem herkömmlichen Bild, wonach Zünfte vorrangig Innovationen hemmten, verweisen die Autoren auf den positiven Einfluss, den Zunftmitglieder auf Produktinnovationen ausübten, zumal im Exportgewerbe. Dies war auch deshalb möglich, weil fehlende Beschränkungen der Zulieferbetriebe es ermöglichten, weit reichende Netzwerke dezentraler Produktion zu etablieren. Insgesamt kann von einer Unvereinbarkeit von Zunftzugehörigkeit und kapitalistischem Unternehmertum, folgt man den Autoren, keine Rede sein. Somit verwundert das Fazit dieses Beitrages nicht, wonach es nicht institutionelle Fesseln waren, die zur Erosion dieser Korporationen beitrugen, sondern deren Unfähigkeit, im notwendigen Umfang Kapital für die Produktionskonzentration aufzubringen.
Einer teleologischen Interpretation des unzweideutigen Niedergangs der Zünfte verweigert sich auch der Beitrag zum vorrevolutionären Frankreich (der besonders auf die zur Marktökonomie komplementäre Funktionsvielfalt der Zünfte verweist), während die Untersuchungen zu Italien und Spanien vor allem der regionalen Vielfalt dieser Institution Rechnung tragen, ohne dass hier auf diese wie auch auf die Beiträge zu Ungarn und dem Osmanischen Reich näher eingegangen werden könnte.
Insgesamt handelt es sich bei diesem Sammelband um eine außerordentlich anregende und meist gut lesbare Bestandsaufnahme der in Bewegung geratenen europäischen Zunftforschung.
Michael C. Schneider