Christel Thiem: Das römische Reiseskizzenbuch des Florentiners Giovanni Battista Naldini 1560/61, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 191 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-422-06395-2, EUR 49,80
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Nach Abschluss seiner Ausbildung in der Werkstatt Pontormos, in die er 1549 als Zwölfjähriger eingetreten war, begab sich der junge Florentiner Künstler Giovanni Battista Naldini (1537-1591) im September des Jahres 1560 auf eine Studienreise über Pisa nach Rom, wo er bis zum Mai des folgenden Jahres blieb. Beginn und Dauer dieses Aufenthaltes sind durch zeitgenössische Quellen (Vasari, Raffaello Borghini) dokumentiert. Eine große Anzahl von Zeichnungen, die während jener acht Monate entstanden, ist heute über europäische und amerikanische Sammlungen verstreut. Darunter befindet sich eine Gruppe von gleichartigen Zeichnungen, die einst zu einem Skizzenbuch Naldinis gehört haben.
Christel Thiem hat sich zur Aufgabe gemacht, aus diesem erhaltenen Material das Reiseskizzenbuch Naldinis zu rekonstruieren. Dies geschieht in Form eines Katalogs. Die Zusammenstellung und Präsentation der ehemals zum Skizzenbuch gehörenden, teilweise bisher unpublizierten Zeichnungen ist das Verdienst des Buches. Neben den dargestellten Motiven (antike und zeitgenössische Bauwerke, römische Veduten, Kopien nach antiker Plastik und zeitgenössischer Malerei) bildet das Papierformat der meisten Zeichnungen von etwa 230 x 330 mm sowie die Tatsache, dass viele Blätter das gleiche Wasserzeichen (Briquet 6299) aufweisen, die Argumentationsgrundlage für den Rekonstruktionsversuch. Weitere Überlegungen werden nicht angestellt, beispielsweise die Frage, an welcher Seite die ehemaligen Skizzenbuchblätter gebunden waren oder welche weiteren Indizien für die Zugehörigkeit einzelner Blätter zum Skizzenbuch sprechen könnten, etwa Qualität und Charakter des Papiers.
Die Zusammenstellung erscheint mit Ausnahme einer Ansicht des Kolosseums (Kat.-Nr. 6) mit dem Raub der Leukippiden als Verso (Kat.-Nr. 23) in Edinburgh sowie einer Vedute von Tivoli im Berliner Kupferstichkabinett (Kat.-Nr. 16) insgesamt kohärent. Bei den beiden erwähnten Blättern kann man sich schon wegen ihrer abweichenden Größe von 280 x 440 bzw. 374 x 281 mm kaum vorstellen, dass sie einst Bestandteile des nur ca. 220 x 330 mm messenden Skizzenbuches gewesen sind. Warum aber das von der Autorin in der Einführung auf den Seiten 20 und 21 abgebildete Blatt aus Lille mit einer Ansicht von Dächern zwischen Tiber und Via Giulia (recto) und einem antiken Torso (verso) in den Maßen 217 x 330 mm nicht dem Skizzenbuch angehört haben soll, wird nicht deutlich. Ebenso bleibt unverständlich, warum das gleichfalls in der Einführung (19) eingehend gewürdigte Blatt der Uffizien mit dem von oben aufgenommenen Kopf des Apolls vom Belvedere nach Meinung der Autorin nicht Teil des Skizzenbuches gewesen sein soll, ist doch die Nähe zu den beiden Zeichnungen in Nürnberg und Florenz mit Kopfstudien nach dem jüngeren Sohn des Laokoon (90-93), die Thiem dem Skizzenbuch zuordnet, offenkundig.
Außerdem vermisst man im rekonstruierten Skizzenbuch ein Blatt aus dem Louvre, auf das Alessandro Cecchi 1998 in der Gedenkschrift für Richard Harprath aufmerksam gemacht hat. Diese Zeichnung, deren Abmessungen denen des Skizzenbuchs entspricht, weist auf Recto und Verso Skizzen nach Polidoro da Caravaggio auf. Gleichermaßen unerwähnt bleibt ein ebenfalls von Cecchi zitiertes, bereits 1931 von Hermann Egger publiziertes Blatt in der Wiener Kunstbibliothek mit einer Ansicht der Brunnenanlage in der Villa Giulia auf dem Recto und einer Tiberansicht auf dem Verso, dessen Maße von 217 x 335 mm ebenso wie die autographe Aufschrift eine Zugehörigkeit zum ehemaligen Skizzenbuch vermuten lassen. Auch ein drittes von Cecchi 1998 publiziertes Blatt aus den Uffizien mit einer Ansicht von Raffaels Palazzo Branconio dell'Aquila im römischen Borgo und einer Aufschrift von der Hand des Künstlers wird von Thiem nicht erwähnt. Es fehlt also eine Negativliste, über die der Leser hätte nachvollziehen können, warum einzelne Zeichnungen, die gemäß den Kriterien der Autorin eigentlich zum Bestand des ehemaligen Skizzenbuches gehören müssten, nicht in den Katalog aufgenommen wurden.
Der Beschreibung der einzelnen Blätter im Katalogteil des Buches ist ein einführender Text vorangestellt, der leider viele Wünsche offen lässt. Ein wissenschaftliches Unternehmen, wie es die angestrebte Rekonstruktion eines Skizzenbuches der Renaissance darstellt, ließe einen längeren gründlichen Einführungstext gerechtfertigt erscheinen, der über die spezifischen Fragestellungen und Probleme informiert, die fortuna critica referiert und eine Einordnung des Skizzenbuches in den größeren Zusammenhang leistet. Die Autorin handelt jedoch die Einführung auf lediglich 18 Druckseiten ab, die zudem reichhaltig, teils ganzseitig illustriert sind.
Da es im Skizzenbuch offenbar keine Paginierung gegeben hat, war eine genaue Abfolge der 60 von Thiem zusammengestellten Zeichnungen auf 34 Blättern innerhalb des Skizzenbuches nicht zu ermitteln. Die Autorin bringt daher die Zeichnungen in eine Ordnung nach Sachgruppen, wobei nicht die einzelnen Blätter beschrieben werden, sondern die einzelnen Darstellungen, das heißt Blattseiten. Will man also Recto und Verso einer Zeichnung vergleichen, muss man oftmals die Abbildungen an verschiedenen Stellen innerhalb des Buches konsultieren. Den Anfang des Kataloges machen diejenigen Zeichnungen, die auf der Reise nach Rom entstanden sind. Die vier Zeichnungen dieser ersten Abteilung zeigen, dass Naldini zu Beginn der Reise offenbar zunächst nur auf den Recto-Seiten zeichnete. Erst später in Rom füllte er die noch freien Versi der ersten Blätter mit Studien nach antiken Reliefs. Diese Zeichnungen nach Antiken werden erst an späterer Stelle behandelt, nämlich in der zweiten Abteilung des Katalogs. Hier werden die Zeichnungen nach antiken Monumenten in Rom (Kat.-Nr. 5 bis 33) präsentiert. In Abteilung III folgen die "Zeichnungen nach Bauten, Fresken und Gemälden der Hoch- und Spätrenaissance in Rom", worunter sich einige Kopien nach heute nicht mehr erhaltenen Fassadendekorationen des Polidoro da Caravaggio befinden. Es folgen als Abteilung IV zwei Zeichnungen Naldinis nach Dürers Holzschnitten der Kleinen Passion und nach dem Marienleben, die sich auf den Rückseiten römischer Motive befinden und von denen deshalb angenommen werden muss, dass auch sie in Rom entstanden sind. Abteilung V schließlich präsentiert eine Anzahl von freien Studien Naldinis, darunter jeweils eine nach einem Ochsen und einem grasenden Esel.
An den Katalog schließen sich - die eigentliche Zielsetzung des Buches überschreitend - zwei Miszellen zu Zeichnungen Naldinis an: In der ersten zur Innenansicht der Vierung von St. Peter mit dem Tegurium (Hamburg, Kunsthalle) wird erstmalig die Rückseite der Zeichnung publiziert, auf die der Künstler die architektonischen Elemente von Baldassare Peruzzis Fresko des Tempelgangs Mariae in S. Maria della Pace in Rom gezeichnet hat. Eine zweite Miszelle hält Erkenntnisse zur Entwurfspraxis Naldinis bereit, der - wie viele andere Künstler auch - zur Vorbereitung weiblicher Figuren in seinen Gemälden männliche Modelle benutzte. Es folgt ein Anhang, in dem sich, etwas willkürlich eingestreut in die üblichen Nachweise und die Bibliographie, noch eine Notiz zu Naldinis Deckenentwurf in Stuttgart befindet sowie am Schluss eine weitere zu einer Zeichnung von Jean-Auguste-Dominique Ingres, die Thiem unter der Überschrift "Nachwirkung" als Beleg für die Tatsache heranzieht, dass "Naldinis Typ des Skizzenblattes mit topographischen Ansichten und autographen Aufschriften zur Bezeichnung des Ortes bzw. Standortes, von dem aus die Zeichnung gemacht wurde, [...] sich über Jahrhunderte gehalten [hat]."
Die einzelnen Katalogartikel bestehen in der Regel aus Informationen zu den von Naldini gezeichneten Gegenständen oder aber zu den als Vergleich herangezogenen Kunstwerken, wobei teils die ältere und neuere Literatur zu diesen referiert wird. Die hier vielfach mitgeteilten, sehr allgemeinen Informationen sind für den Leser eines Buches mit einem so speziellen Thema eigentlich überflüssig. Wer sich mit dem Forschungsgebiet der Antikenrezeption beschäftigt, ist normalerweise darüber informiert, wer Laokoon war und dass "diese plastische Gruppe [...] wie kein zweites Werk der Antike anregend auf bildende Künstler und auf die Kunsttheorie bis hin zu G. E. Lessing und J. J. Winckelmann [wirkte]" (92). Warum Naldini allerdings den Kopf des jüngeren Sohnes von Laokoon gleich mehrfach in ungewöhnlicher Perspektive gezeichnet hat, erfährt der Leser nicht. Diesem Beispiel ließen sich beliebig weitere hinzugesellen: Meist wird über die Zeichnungen selbst, ihren jeweiligen spezifischen Charakter oder das besondere Interesse des Künstlers, das in ihnen manifest wird, kaum etwas mitgeteilt. Ungeachtet aller Kritikpunkte bleibt es gleichwohl das Verdienst des Buches, einen großen Teil der in Rom entstandenen Zeichnungen Naldinis zusammengestellt, in guten Abbildungen zugänglich gemacht und auf diese Weise der Forschung zu Naldini neue Impulse vermittelt zu haben.
Stefan Morét