Rezension über:

Beatrix Bouvier: Die DDR - ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker (= Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V. Braunschweig - Bonn), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002, 355 S., ISBN 978-3-8012-4129-2, EUR 27,80
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Lothar Mertens (Hg.): Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung; Bd. 82), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 203 S., ISBN 978-3-428-10523-6, EUR 54,00
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Rezension von:
Mark Landsman
New York, NY
Empfohlene Zitierweise:
Mark Landsman: Die DDR - ein Sozialstaat? (Rezension), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/12/4533.html


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Die DDR - ein Sozialstaat?

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In der Einleitung zitiert Beatrix Bouvier eine Aussage des Historikers Hans Günter Hockerts: "Als zusammengebrochener Sozialstaat eignet sich die DDR nicht für nostalgische Verklärung; sie bietet vielmehr ein lehrreiches Exempel dafür, dass es gefährlich ist, die Geltungskraft der Kriterien der sozialen Sicherheit einerseits und der wirtschaftlichen Effizienz andererseits voneinander abzukoppeln" (10). In der Bilanz des Buches kommt Bouvier außerdem zum Schluss, "dass die Sozialpolitik mit ihren Ansprüchen und der [...] kontrastierenden Wirklichkeit nicht von dem Gesamtkontext des diktatorischen Staates, der die DDR war, abzukoppeln ist" (328). Wirtschaftliche Ineffizienz und Diktatur: Ohne diese entscheidenden Faktoren zur Kenntnis zu nehmen, könne man die Sozialpolitik der DDR - vor allem die "sozialen Errungenschaften", derer sich das Regime rühmte - kaum richtig einschätzen. Deshalb versucht Bouvier, die Sozialpolitik der Ära Honecker im Kontext der begrenzten ökonomischen Fähigkeiten der DDR-Wirtschaft und der diktatorischen Praxis der SED-Herrschaft darzustellen. Allerdings liegt die Betonung auf dem Faktor Diktatur.

Insofern will Bouvier nicht nur nach der Geschichte der DDR fragen (War die DDR ein Sozialstaat? Wenn ja, in welcher Weise, und haben sozialpolitische Faktoren zur Akzeptanz und eventuell zum Zusammenbruch der DDR beigetragen?), sondern sie stellt ihre Arbeit explizit in den Kontext der gegenwärtigen DDR-Ostalgie und der aktuellen Krise des Sozialstaates. Darin liegt auch der Wert dieser Studie. Ohne die Bedeutung sozialer Sicherheit zu unterschätzen und ohne die sozialen und ökonomischen Wirkungen des Wiedervereinigungsprozesses, die von vielen Bürger in den neuen Bundesländern als höchst traumatisch empfunden wurden, zu ignorieren, zeigt Bouvier sehr deutlich, dass die Herstellung sozialer Sicherheit nur ein Teil der Sozialpolitik der Ära Honecker war. Bouvier zufolge war allerdings "das Mehr an sozialer Sicherheit [...] mit einem Mehr an Überwachung und Polizeistaat verbunden" (337).

Bouvier stützt sich in ihrer Studie auf Quellenmaterial aus den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. Dabei wird klar, wie sehr die Stasi sich dafür interessierte, in welchem Umfang die Sozialpolitik zur Legitimität des Regimes beitrug, nicht zuletzt im Kontext der Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik. Neben den Stasi-Akten dienen die so genannten "Eingaben und -analysen" als wichtigste Quellengrundlage.

Bouvier diskutiert vier Politikfelder: das Recht auf Arbeit, die Wohnungs- und Rentenpolitik sowie Frauen- und Familienförderung. Bei jedem Thema geht es darum, "nach Anspruch, Wirklichkeit, Leistungsfähigkeit und Folgen von Sozialpolitik zu fragen" (20). So erklärt Bouvier, dass das Recht auf Arbeit ein "wichtiges Fundament des Selbstverständnisses" des Staates war (110). Es galt als soziales Grundrecht, worauf das Regime stolz war. In der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik spielte die fehlende Arbeitslosigkeit in der DDR eine wichtige propagandistische Rolle, insbesondere in den Siebziger- und Achtzigerjahren, als die Arbeitslosigkeit ein strukturelles Element der westdeutschen Wirtschaft zu sein schien. Doch weist Bouvier nicht nur darauf hin, dass es eine "verdeckte" Arbeitslosigkeit in der DDR gab - Schätzungen zufolge gab es Ende der Achtzigerjahre eine Arbeitslosenquote von etwa 15 Prozent. Darüber hinaus zeigt sie genau, in welcher Weise das Recht auf Arbeit, das sich wegen des ständigen Mangels an Arbeitskräften sehr bald in eine Pflicht zur Arbeit verwandelte, eingeschränkt wurde. In der Tat war das Recht auf Arbeit das Recht auf einen Arbeitsplatz. Was für einen Platz man bekam, hing aber stark von unterschiedlichen Faktoren ab, die die Betroffenen kaum beeinflussen konnten: zum Beispiel von offiziell propagierten "gesellschaftlichen Erfordernissen", langfristigen wirtschaftlichen Plänen, Arbeitskräfte- und Berufslenkung sowie vom persönlichen und politischen Verhalten.

In ähnlicher Weise macht Bouvier deutlich, dass das Wohnungsbauprogramm, das zum Kernstück der 1976 propagierten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" wurde, Erwartungen weckte, die nicht zu befriedigen waren. Wie viele Eingaben belegen, gab es ständig Probleme bei der Baustoffsversorgung, mit den geringen Reparaturkapazitäten, den bürokratischen Wohnraumlenkungsmechanismen, den gesundheitlichen Schäden wegen der Vernachlässigung der Altbausubstanz und den langen Wartezeiten für neue staatlich zugewiesene Wohnungen. Trotz des Baubooms der Siebziger- und Achtzigerjahre blieb die Wohnungsfrage in der DDR bis zum Ende ein ungelöstes "soziales Problem" (194).

Bei den anderen ausgewählten sozialpolitischen Feldern beleuchtet Bouvier ebenfalls die Spannungen zwischen den Ansprüchen des Regimes, der sozialpolitischen Wirklichkeit und den Reaktionen der Bürger. Freilich sind die hier vorgestellten Befunde nicht ganz neu. Sie tragen aber eine wichtige historische Dimension zur gegenwärtigen Diskussion über die Probleme des deutschen Sozialstaates bei. Ein Thema, das mehr Beachtung hätte finden können, ist das der Konsumpolitik als Sozialpolitik, die gerade in der Ära Honecker eine besondere (wenn auch nicht unbedingt erfolgreiche) systemlegitimierende Rolle in den Bestrebungen des Regimes spielte, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und ihnen Geborgenheit zu garantieren. Bedauerlich ist bei Bouviers Rekonstruktion des historischen Hintergrundes auch das völlige Fehlen einer Diskussion der Sozialpolitik im Dritten Reich. Es hätte sich gelohnt, über die Frage der Kontinuitäten in der Sozialpolitik - und in der Rezeption der Sozialpolitik - in beiden deutschen Diktaturen zu reflektieren.

War die DDR ein Sozialstaat? Bouvier zufolge setzt ein moderner Sozialstaat einen demokratischen Verfassungsstaat mit Partizipationsrechten und Selbstregulierungsmechanismen voraus. Die DDR habe also sozialstaatliche Elemente gehabt, sei aber kein Sozialstaat gewesen. Unangemessen beziehungsweise unbefriedigend findet Bouvier auch die Begriffe, die in der wissenschaftlichen Literatur seit 1989 vorgeschlagen wurden. Die DDR sei kein "autoritärer Versorgungsstaat" (Stefan Leibfried) gewesen, weil diese Bezeichnung die modernen diktatorischen Aspekte der Epoche zu wenig berücksichtige. Auch die Charakterisierung der DDR als "totalitärer" Versorgungs- und Überwachungsstaat (Klaus Schröder) lehnt sie ab. In den Siebziger- und Achtzigerjahren seien die Methoden der Repression "weicher" geworden, jedenfalls im Vergleich mit der "totalitären" Stalinzeit. Ebenso unangemessen sei der Begriff der "Fürsorgediktatur" (Konrad Jarausch), weil Fürsorge zu sehr Pflege und Hilfe in Notsituationen suggeriere. Bouvier zufolge wollte die Sozialpolitik der Ära Honecker "mehr sein und war mehr als Fürsorge. Sie garantierte unter den geschilderten Bedingungen und Einschränkungen soziale Sicherheit und - mit Abstrichen - eine Rundumversorgung auf niedrigem Niveau. Insofern war die DDR dieser Zeit eine 'Versorgungsdiktatur'".

Allerdings gab es in dieser Versorgungsdiktatur marxistisch-leninistischer Prägung ein Phänomen, das immer noch relativ unerforscht bleibt und das offiziell in dem so genannten Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht existieren sollte: die soziale Ungleichheit. So erklärt sich der Untertitel des von Lothar Mertens herausgegebenen Sammelbands "Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur". In dem Buch von Bouvier taucht das tabuisierte Thema auf, vor allem im Zusammenhang mit den Bevorzugungen und Benachteiligungen in der Sozialpolitik. Das von Mertens herausgegebene Buch - Ergebnis einer Kooperationstagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. mit der Akademie für politische Bildung, Tutzing - enthält sechs Referate, die eine Vielfalt von Ansätzen zum Thema bieten.

Hier ist kein Platz, alle diese sehr interessanten Referate zu diskutieren. Besonders erwähnenswert sind die Beiträge von Mertens, Annette Kaminsky und Peter Maser. In dem Ersten seiner zwei Beiträge betrachtet Mertens die Lage der Frauen und das Phänomen der Ehescheidungen. Die Hauptursache der steigenden Scheidungsrate in den Siebziger- und Achtzigerjahren sieht er in der hohen Frauenerwerbstätigkeit. Diese habe zu mehr ökonomischer Unabhängigkeit geführt und damit das weibliche Selbstbewusstsein gestärkt. Deshalb fanden sich die Frauen nicht mehr mit der bestehenden traditionellen Rollenverteilung und häuslichen Arbeits(über)belastung ab. In seinem zweiten Beitrag analysiert Mertens empirische Befunde sozialer Ungleichheit anhand von Dissertationen, die an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED angenommen wurden. Aus diesen Dissertationen sammelt er unter anderem Informationen über Ungleichheiten bei Arbeitseinkommen, Zugang zu Privilegien, Bildungschancen und Wohnsituation. Der Beitrag Kaminskys beschäftigt sich mit Ungleichheiten in der Verteilung von Konsumgütern, hauptsächlich an den Beispielen Versandhandel, Intershop und Genex-Geschenkdienst sowie grauer Markt (Tauschgeschäften, Beziehungen und "Bückwaren"). Der Artikel von Maser dagegen ist autobiografisch. Aus eigener Erfahrung erzählt Maser subtil über Benachteiligungen wegen kirchlichen Engagements. Insgesamt wirken die Beiträge des Bandes oft etwas skizzenhaft, bieten aber der Forschung zu diesem wichtigen Thema eine Vielfalt wertvoller Ansätze.

Mark Landsman