Uta Ziegler (Bearb.): Regierungsakten des Großherzogtums Hessen-Darmstadt 1802-1820 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten; Bd. 6), München: Oldenbourg 2002, 552 S., ISBN 978-3-486-56643-7, EUR 64,80
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"Allein wie verwerflich auch die Beweggründe des Stifters waren, so ist doch der Rheinbund der Anfang und die Grundlage so umfassender Veränderungen in Deutschland gewesen, daß sie eine Wiedergeburt genannt werden dürfen, welche ohne ihn gar nicht oder noch lange nicht stattgefunden haben würde." Mit diesen Worten gab der langjährige hessen-darmstädtische Minister Karl Wilhelm Heinrich Freiherr du Bois du Thil in seinen 1852 bis 1857 verfassten "Denkwürdigkeiten"[1] seiner hohen Einschätzung der Rheinbundzeit für 'Deutschland' Ausdruck. Ungeachtet ihrer persönlichen Bedingtheit ist diese Aussage eines Zeitgenossen, dessen Informiertheit wie Kritikfähigkeit kaum infrage zu stellen ist, ein treffender Beleg dafür, dass die von Karl Otmar Freiherr von Aretin und Eberhard Weis begründete Editionsreihe nicht ein bloß episodisches Zwischenspiel der deutschen Geschichte dokumentiert, sondern im Gegenteil eine intensiv wirkende Phase, die weit reichende strukturelle Formveränderungen mit sich brachte. Nachdem seit 1992 in dieser Folge Bände zum Großherzogtum Berg, Königreich Westphalen, Großherzogtum Frankfurt, Königreich Bayern und Herzogtum Nassau erschienen sind, liegt nun mit dem drittletzten Band (Württemberg und Baden stehen noch aus) eine umfangreiche Quellensammlung zu jenem Rheinbundstaat vor, der du Thil sicher am ehesten vor Augen stand.
Mit Hessen-Darmstadt geht es dabei um die Reformen in einem Herrschaftsgebiet, für das Andreas Schulz in seiner vorzüglichen Dissertation die Formel "Herrschaft durch Verwaltung" wählte.[2] In Anlehnung an die Erkenntnisse Schulz' bezeichnet Uta Ziegler Hessen-Darmstadt als "exemplarisch für den Aufstieg eines Reichsstandes zum souveränen Großherzogtum mit einer leistungsfähigen Administration sowie einer im Werden begriffenen bürgerlichen Gesellschaft" (2). In der Darmstädter Residenz regierte seit 1790 der 1753 geborene Landgraf Ludwig X. (seine persönliche wie offizielle Bezeichnung war "Ludewig"). Nicht zuletzt im Vergleich mit seinem exilierten, 1806/1807 seiner Landesherrschaft enthobenen Kasseler Verwandten Wilhelm IX. (gestorben 1821) war Ludwigs äußere Erfolgsbilanz am Ende der Koalitionskriege gegen Frankreich durchaus vorzeigbar: Persönlich bereits im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses vom zehnten Landgrafen zum ersten Großherzog seines Namens aufgestiegen, verfügte er 1806 trotz der Verluste im Linksrheinischen gegenüber 1790 über ein flächen- und bevölkerungsmäßig erheblich vergrößertes Land. Die Bedingungen, unten denen sich der Großherzog 1806 als Mitglied des Rheinbundes sah (unter anderem hatte er nach Artikel 39 der Rheinbundakte 4.000 Soldaten zu stellen), waren unter den gegebenen Voraussetzungen indes ernüchternd genug. Ludwig, der persönlich und im Umgang mit seinen Räten als wankelmütig galt, hatte nämlich wegen seiner langen, von Neutralitätshoffnungen getragenen Weigerung zum Bündnisschluss mit Napoleon noch 1806 die militärische Besetzung seines Landes hinnehmen müssen. Entsprechend gering waren die Gratifikationen: An Träume von einem vereinigten 'Großhessen' unter seiner Führung war nicht zu denken. Zu Recht als persönliche Verletzung wird es der in Napoleons Augen im Vergleich zu anderen Fürsten weit unten stehende Ludwig begriffen haben, dass ihm statt der Kurfürstenwürde bloß eine protokollarische Rangerhöhung zuerkannt wurde. Auch die Gebietserweiterungen von Napoleons Gnaden (kleinere Herrschaftsgebiete, darunter das bis 1815 mediatisierte Hessen-Homburg) kann Ludwig nicht als befriedigend empfunden haben: Wiewohl nun von respektabler Größe, war das Großherzogtum, das noch vor 1803 aus nicht weniger als acht voneinander getrennten Teilen bestanden hatte, weiterhin kein 'territorium clausum': Die beiden in etwa gleich großen Gebietskomplexe im Norden und Süden blieben nämlich durch Frankfurter und isenburgisch-bilsteinische Anteile voneinander geschieden (was der Herausgeberkommission ein dringender Anlass hätte sein sollen, dem Band eine Karte beizugeben!). Die anstehende Integrationsleistung in dem in jeglicher Hinsicht strukturschwachen Land kann dies nur erschwert haben. Unter der Voraussetzung eines völlig unterentwickelten zentralen und vor allem mittleren staatlichen Verwaltungsapparats, eines hoffnungslos veralteten und ungerechten Steuersystems und einer Justizverwaltung, die der Landgraf bei Antritt seiner Herrschaft selbst als eine "langschleichende und Lotteriemäsige" bezeichnet hatte (Kabinettsordre 1790, Nummer 1), stand die Regierung um 1800 also vor einem Neuanfang.
Der 105 Quellenstücke auf 520 Seiten umfassende Dokumentteil ist in folgende elf Abteilungen gegliedert, wobei, wie in den bisherigen Bänden auch, die einzelnen Teilbereiche jeweils mit gesonderten kommentierenden Einleitungen versehen sind: "Regierungs- und Verwaltungsreformen" (I), "Steuer- und Finanzreformen" (II), "Die Neuordnung des Gerichtswesens" (III), "Die Rezeptionsdiskussion um den Code Napoléon" (IV), "Erste Reformen im Agrarbereich und in der Forstwirtschaft", "Wirtschaftsreformen" (VI), "Militärreformen" (VII), "Soziale Reformen" (VIII), "Ansätze zur Besserstellung der hessischen Juden" (IX), "Reformen im konfessionellen und schulischen Bereich" (X), "Verfassungsdiskussion" (IX). Aus dieser Gliederung und den von der Bearbeiterin gewählten Begriffen sind bereits Rückschlüsse auf Charakteristika der Reformperiode zu ziehen. "Reformen" wurden nämlich am ehesten im staatlich-administrativen Bereich vollzogen. Bedingt können auch der konfessionelle und schulische Sektor im zuvor dezidiert lutherischen, nunmehr deutlich mehrkonfessionellen Hessen-Darmstadt dazu gezählt werden. Die zwei bereits 1803 verabschiedeten so genannten "Organisationsedikte" (Nummer 4-5) waren im Grunde schon die entscheidende Maßnahme zur Unifizierung und Zentralisierung der Verwaltung. Dies ging einher mit der zu diesem Zeitpunkt de facto (de jure 1806) vollzogenen Aufhebung der Landstände. Ansätze zur Pluralisierung auf politischem Gebiet aber blieben bestenfalls in "Diskussionen" stecken - und zwar nicht allein in der Rheinbundzeit, sondern auch nach 1815. 1820 erließ Ludwig zwar eine Verfassung (Nummer 105), doch diente dieses, offenbar der "Charte Constitutionelle" Ludwigs XVIII. von 1814 nachempfundene und anderswo (zum Beispiel in Hessen-Kassel) erprobte Modell lediglich dazu, die öffentliche Meinung ruhig zu stellen. Jener "Ludwig von Gottes Gnaden", der stets ein überzeugter Gegner der Französischen Revolution war, hatte nämlich nichts anderes im Sinn als die Hebung seines eigenen Primats, wie sich anschaulich aus seiner "Erklärung über die künftigen staatsrechtlichen Verhältnisse des Standesherrn" von 1807 ersehen lässt (Nummer 10). Sein Minister du Thil fand für diese niemals geänderte Grundhaltung des Großherzogs folgende Worte: "Er wollte den Fortschritt und hatte sehr liberale Ideen, aber nicht etwa konstitutionell liberale Gedanken waren dies, ich will vielmehr sagen, Er war jeder freisinnigen, echt staatswirtschaftlichen Maßregel geneigt".[3]
Mit seiner konservativen bis reaktionären Regierungspolitik, die Harm Klueting für das einst stark ständisch geprägte Herzogtum Westfalen in einer viel zitierten Wendung von einer "Nachholung des Absolutismus" sprechen ließ [4], vor allem mit seinen allseits als hart empfundenen Reformen (etwa im fiskalischen Bereich), schuf der 1830 nach langer Krankheit gestorbene Großherzog somit die Voraussetzungen für den konfliktreichen Vormärz in Hessen-Darmstadt, der in Büchners "Hessischem Landboten" (1834) ein berühmtes Zeitzeugnis fand. Der Vorrang von etatistischen vor sozialen, geschweige denn emanzipatorischen Reformen, im Ganzen der "bürokratische Absolutismus" (20), entsprach zwar dem Wesen des Rheinbundes, den Napoleon schließlich militärisch nutzbar zu machen gedachte. Die Befunde der anderen Rheinbundstaaten zeigen indes deutlich, dass (einmal abgesehen von den direkten Interventionen Napoleons [5]) die im Grundzug gleichwohl wesensähnlichen Reformen durch die Landesherren und ihre verantwortlichen Spitzenbeamten sehr wohl in die eine oder andere Richtung gelenkt wurden. Anders als etwa in Nassau fehlten in Hessen-Darmstadt allerdings, so Ziegler, durchsetzungsfähige Minister, die den Landesherrn in seiner unerbittlichen "Staatsräson" hätten erweichen können (20). Wenn eine Kontinuität der Rheinbundreformen zu denen der Vorzeit in Hessen-Darmstadt am ehesten im Herzogtum Westfalen zu sehen ist (22), so ist dies bezeichnenderweise nicht den einheimischen Landesherren, sondern dem letzten Kölner Kurfürsten gutzuschreiben, der sich dort in der Tat mit Verve um Reformen bemüht hatte. Wiederum bezeichnenderweise diente das Herzogtum - eine ungeliebte Gebietserwerbung des Jahres 1803, die du Thil einmal als das "Sibirien" des (von Frankreich 1794/1801 einverleibten) Kölner Kurstaats bezeichnet hatte (11, Anmerkung 42) - nun als eine Art Testfeld, in dem Reformen zunächst angesetzt und später auf den Gesamtstaat ausgedehnt wurden. Möglicherweise verzerrt hier allerdings die Überlieferung die Optik: Ziegler verweist auf die massiven, vor allem zentralaktlichen Bestandsverluste im Staatsarchiv Darmstadt von 1944. Ein Gutteil der über die Reformzeit verfügbaren Quellen ist daher westfälischer Provenienz und Pertinenz. Die Erhebung und Bereitstellung dieser subsidiären Quellen ist ein besonders großes Verdienst der Bearbeiterin, was es, so Aretin im Vorwort, überhaupt erst möglich gemacht hat, von der geplanten Bearbeitung von Hessen-Darmstadt und Nassau [6] in einem einzigen Band abzusehen und stattdessen separate Publikationen vorzulegen. Es bleibt somit als einer der diversen Vorzüge des Bandes wie auch des Gesamtprojekts dessen Quellenwert für die landesgeschichtliche(n) Forschung(en) hervorzuheben, der sich angesichts der Künstlichkeit der Rheinbundstaaten vielleicht erst bei zweitem Hinsehen offenbart.
Anmerkungen:
[1] Heinrich Ulmann (Hg.): Denkwürdigkeiten aus dem Dienstleben des Hessen-Darmstädtischen Staatsministers Freiherrn du Thil, 1803-1848, Stuttgart / Berlin 1921, 120; zu du Thil vgl. die Einleitung der vorliegenden Edition 18 f. mit Anm. 72. Dass du Thils Memoiren durch Großherzog Ludwig III. (1848-1877) veranlasst worden waren, lässt zwar vermuten, dass der Verfasser die fürstlichen Reformen und seinen persönlichen Anteil daran in ein positives Licht zu stellen geneigt war, schmälert aber nicht notwendigerweise ihren Wert.
[2] Andreas Schulz: Herrschaft durch Verwaltung. Die Rheinbundreformen in Hessen-Darmstadt unter Napoleon (1803-1815), Stuttgart 1991.
[3] Zitat nach Ulmann (Hg.): Denkwürdigkeiten, 33.
[4] Harm Klueting: Nachholung des Absolutismus: Die rheinbündischen Reformen im Herzogtum Westfalen in hessen-darmstädtischer Zeit (1802-1816), in: Westfälische Zeitschrift 137 (1987), 226-244.
[5] Vgl. in jüngerer Zeit Bettina Severin: Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland. Berg, Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997), 181-203.
[6] Der entsprechende Band wurde 2001 ebenfalls von Uta Ziegler vorgelegt. Vgl. die Rezension von Karl Murk in sehepunkte 3 (2003), Nr. 2, http://www.sehepunkte.de/2003/05/1722.html.
Stephan Laux