Thilo Offergeld: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften; Bd. 50), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2001, XCVII + 862 S., ISBN 978-3-7752-5450-2, EUR 90,00
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Die Forschung zu den Herrschaftsstrukturen und zur Staatlichkeit des früheren Mittelalters, immer schon ein bevorzugtes Arbeitsfeld deutscher Mediävistik, hat seit etwa zwei Jahrzehnten verstärkte Impulse erhalten und dabei eine neue Ausrichtung gefunden. Rechtshistorische Terminologie und verfassungsgeschichtliche Ordnungssysteme wurden mit immer größerer Konsequenz methodisch dispensiert; stattdessen sucht man den Zugang zur Herrschaftsordnung und zu deren Funktionieren über die Beschreibung und Analyse konkreter Phänomene. Als ein solches Schlüsselphänomen hat schon vor längerer Zeit Theo Kölzer das Königtum Minderjähriger benannt; sein Schüler Thilo Offergeld hat es in seiner in jeder Hinsicht gewichtigen Bonner Dissertation unternommen, Grundlagen und Funktion der Herrschaftsnachfolge und Herrschaftspraxis minderjähriger Könige für alle aus der Völkerwanderungszeit hervorgegangenen Herrschaftsbereiche zu analysieren und damit nicht weniger als eine neuartige "Verfassungsgeschichte" des Frühmittelalters im Spiegel des genannten Phänomens vorzulegen.
Naturgemäß liegt der Schwerpunkt der Studien auf dem karolingischen Frankenreich (300-648); im Licht der dabei gewonnenen Erkenntnisse wird auch noch das in der Forschung kontrovers beurteilte Königtum Ottos III. ausführlicher analysiert (649-784), während die Regentschaft für Heinrich IV. und die weitere Entwicklung in salisch-staufischer Zeit kursorisch im abschließenden "Ausblick" (785-814) thematisiert werden. Nach einer Klärung der rechtlichen Voraussetzungen (10-43) untersucht der zweite Teil nicht nur die Praxis bei Merowingern, Wandalen, Ost- und Westgoten, sondern nimmt auch die kurzlebigen Reiche der Sueben, Burgunder, Skiren, Eruler und Rugier in den Blick (44-299). Das bietet nicht zuletzt die Grundlage, um überkommene Fragen nach der Rechtsfähigkeit der "Kinderkönige" und den Prinzipien der Regentschaft in einem "germanischen" Horizont aufzugeben. Der minderjährige König - diese terminologische Klärung dürfte Gemeingut der Forschung werden - war nicht "unmündig", sondern wurde als rechts- und handlungsfähig verstanden; wer in seinem Namen die Regentschaft ausübte, das war eine Machtfrage, die jeweils unterschiedlich beantwortet werden konnte.
Über die Möglichkeit und den Erfolg minderjähriger Königssöhne entschieden vornehmlich politische Faktoren. Dabei ging es weder allein um die vordergründige Machtverteilung noch um transzendent begründete Vorstellungen von "Heil" und Charisma der königlichen Sippe, sondern um die vielfältigen Rahmenbedingungen politischen Handelns. Das Phänomen der "Kinderkönige" erweist sich als Gradmesser der Stabilität und Kontinuität, aber auch der institutionellen Verdichtung der Königsherrschaft; die Sonderstellung des merowingischen Königtums mit seinem überragenden Herrschaftserfolg, seiner dynastischen Kontinuität und der institutionellen Basis des spätantiken Gallien schlägt sich im einzigartigen Erfolg merowingischer "Kinderkönige" nieder. Damit ist aber erst ein Schlüssel zum Verständnis des Phänomens gefunden, der sich auch nur zeitlich begrenzt anwenden lässt: Als die Machtstellung des Königtums in den dynastischen Kämpfen seit dem Ende des 6. Jahrhunderts zurückging, boten gerade die minderjährigen Merowinger dem Adel die Möglichkeit, die eigenen Machtansprüche im fortbestehenden Rahmen des Frankenreichs und seines Königtums zufrieden zu stellen.
Diese differenzierte Beurteilung lässt exemplarisch erkennen, dass das Phänomen der "Kinderkönige" in unterschiedlichen Zeithorizonten und in sich wandelnden politischen Kontexten jeweils nicht nur andere Deutungen, sondern schon verschiedene Fragestellungen erfordert. Erst diese Vielfalt der Perspektiven eröffnet verfassungsgeschichtliche Einsichten; diese betreffen allerdings nicht "das" frühmittelalterliche Königtum als ein klar umrissenes, rechtlich zu definierendes und von Traditionen aus germanischer Vorzeit bestimmtes Phänomen. Erkennbar werden vielmehr die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, in denen königliche Herrschaft begründet, gestaltet und praktiziert wird. Offergeld fragt deshalb nicht nach rechtlichen und ideologischen Grundprinzipien, sondern analysiert Möglichkeiten, Erfolg und Misserfolg minderjähriger Könige des frühen und hohen Mittelalters im Kontext der jeweiligen politischen Situationen. Weit über den im Titel angekündigten Rahmen hinaus bezieht er aktuelle Erkenntnisse und Kontroversen zu den einzelnen Epochen ein und setzt sich mit der Forschungsliteratur auseinander. Dadurch entsteht ein Handbuch zur politischen und verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der frühmittelalterlichen Königreiche mit pointiertem Ausblick auf hochmittelalterliche Problemstellungen.
Mit diesem weiten Rahmen sind zugleich die Grenzen des Unternehmens beschrieben, denn auch ein so umfangreicher Beitrag wie der zu Otto III. (649-784) träg weniger in diachroner als in synchroner Perspektive zum Erkenntnisgewinn bei. Damit bleiben die Ergebnisse aber vorläufig und ergänzungsbedürftig, denn sie werfen weitergehende Fragen zu Strukturen und Grundbedingungen der Königsherrschaft in ottonischer Zeit auf, die im Rahmen einer diachron formulierten Fragestellung doch nicht mehr angemessen berücksichtigt werden konnten. Im Ganzen ist aber einer Arbeitsleistung Respekt zu zollen, die geeignet wäre, angehende Doktoranden zu entmutigen. Allerdings hätte das von Thilo Offergeld kenntnisreich und detailfreudig bearbeitete Thema Fragestellungen und Material für mehrere Dissertationen geboten.
Ludger Körntgen