Stephan Brakensiek: Vom "Theatrum mundi" zum "Cabinet des Estampes". Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565-1821 (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 150), Hildesheim: Olms 2003, 634 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-487-11850-5, EUR 88,00
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Studien zur Sammlungsgeschichte erfreuen sich ebenso wie Arbeiten zur Druckgrafik seit einiger Zeit eines steigenden Interesses. Dennoch blieb die "Schnittmenge", die Geschichte des Sammelns von Druckgrafik, bislang weitgehend unberücksichtigt. Das dürfte vor allem auf die besondere Problemlage zurückzuführen sein, mit der solche Studien konfrontiert sind. Verlangen schon Forschungen zur Geschichte von Gemäldesammlungen oftmals detektivisches Gespür, so ist es auf dem Sektor der Druckgrafik, aber auch der Zeichnungen ungleich schwerer, die meist wenigen verbliebenen Spuren für eine Rekonstruktion nutzbar zu machen. Auf Grund der vergleichsweise niedrigen Preise für grafische Erzeugnisse, ihrer ubiquitären Verfügbarkeit und nicht zuletzt der schieren Fülle an Blättern waren die meisten Sammlungen einem stetigen Wandel unterworfen. Nur wenige historische Kollektionen sind geschlossen auf uns gekommen; die Genese eines Großteils solcher erhaltener Sammlungen ist ebenso wie die Geschichte der aufgelösten Bestände äußerst lückenhaft dokumentiert. Die ständige Fluktuation und die Größe der Bestände machten es schon den Sammlern selbst oftmals unmöglich, die Blätter einzeln zu katalogisieren. Ein erhöhtes konservatorisches Bewusstsein und veränderte Standards in der Strukturierung von Sammlungen haben zudem viele historische Ordnungen und Präsentationen unwiederbringlich zerstört.
Angesichts einer solchen, hier nur kurz skizzierten Problemlage verdient die umfangreiche Studie Stephan Brakensieks besondere Aufmerksamkeit. In zumeist eng aufeinander abgestimmten Kapiteln verfolgt der Verfasser auf zweierlei Wegen sein Ziel, Einblicke in die Geschichte des Grafiksammelns zu geben: zum einen durch die mikroskopische Analyse exemplarischer Sammlungen, zum anderen durch die ausführliche Darstellung des Sammlerdiskurses, wie er in zeitgenössischen Schriften dokumentiert ist. Der erste und lange Zeit bedeutendste Beitrag zu diesem Diskurs, Samuel Quicchelbergs "Inscriptiones vel tituli Theatri amplissimi" von 1565, bildet den zeitlichen Anfangspunkt; der Tod Adam von Bartschs markiert den Endpunkt der Studie. Nötigt schon die Länge des behandelten Zeitraums Respekt ab, so erst recht das Abrücken von der im Titel angezeigten Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum. Zu Recht bezieht Brakensiek auch die einzigartige Kollektion von Michel de Marolles heran, die im deutschen Sammlerdiskurs ein ständiger Bezugspunkt blieb; darüber hinaus bietet ein Blick auf die Sammlung des Habsburgers Philipp II. von Spanien weiteres Vergleichsmaterial.
Besonders ertragreich ist Brakensieks Studie in den Kapiteln, in denen er sich einzelnen Sammlungen zuwendet, deren Auswahl auf Grund ihrer Erhaltung oder ihrer zuverlässigen Dokumentation erfolgte. Eine intensive Analyse weitgehend im ursprünglichen Zustand bewahrter Bestände gilt unter anderen Teilen der ins königliche Cabinet des Estampes gelangten Sammlung von Marolles, der Sammlung Philipps II., einem Stuttgarter Sammelband aus dem Besitz des Herzogs Ludwig Friedrich von Württemberg-Mömpelgard, der Sammlung Max Gandolf Steyerers von Rothenthurn, dem Kabinett der Fürsten von Waldburg-Wolfegg, Teilen der Sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen, Dresdner Klebebänden aus der Zeit Karl Heinrich von Heineckens sowie der Sammlung der Landgrafen von Hessen-Kassel. Dabei fragt Brakensiek nicht nur nach der meist in verschiedenen Ebenen strukturierten Ordnungssystematik - etwa nach Sujets oder nach Schulen, mit alphabetischer oder chronologischer Reihung der Künstler oder Stecher -, sondern blickt auch auf die Montierung der Drucke sowie - überraschend gewinnbringend - auf die Gestaltung einzelner Blätter von Klebebänden. Die Erträge dieser Beobachtungen an den Originalen bilden nicht nur ein unverzichtbares Korrektiv bei der Lektüre der zeitgleichen Abhandlungen und Verzeichnisse, sondern bergen zum Teil Erkenntnisse, die sich aus der Literatur nicht erschließen lassen.
Die in der Grobgliederung angedeutete historische Entwicklung vom thematischen Grafiksammeln zum Sammeln "unter dem Topos der Schönen Künste" (7) erfährt naturgemäß durch die Fülle an Einzelbeobachtungen viele Relativierungen und Nuancierungen. Dennoch macht Brakensiek auf gemeinsame Grundlagen verschiedener Sammlungen aufmerksam. So sieht er die frühen, nach Sujets geordneten Kollektionen (die, wie schon Quicchelbergs "Inscriptiones" oder später Apins "Anleitung" dokumentieren, keinesfalls immer in Klebebänden verwahrt wurden) besonders durch zeitgenössische Emblembücher geprägt. Parallelen zu Emblemen findet Brakensiek in der spezifischen Abfolge von Grafiken in Klebebänden oder in inhaltlichen Bezügen von verschiedenen auf einem Bogen montierten Drucken. Doch bleibt zu fragen, in welchem Ausmaß diese emblematische Sicht auf Druckgrafik die Sammlungen der Frühen Neuzeit bestimmte. Brakensiek entwickelt seine These ausgehend von den Bänden der Marolles-Sammlung, die den "Pieces emblèmatiques" (85) gewidmet waren, bezieht sie aber später auf "viele der Klebebände Marolles" (120) und kommt für andere Sammlungen zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei bleibt ungeklärt, wie sich die emblematischen Sammlungseinheiten zu Konzepten verhielten, die eine Nutzung der Druckgrafikbestände als "Bildarchiv" vorsahen, um den "Makrokosmos" abzubilden (62f.). Ein solches "Bildarchiv" muss idealiter darauf zielen, die Gesamtheit der Schöpfung mit jedem einzelnen "Ding" zu repräsentieren, also jedem Ding einen druckgrafischen Stellvertreter zuzuordnen. Mit der Ordnung dieser grafischen Stellvertreter ließen sich dann die Beziehungen der Dinge untereinander abbilden - so Brakensieks Ausführungen zu Giulio Camillo und Quicchelberg (46ff.). Ein "emblematisches" Grafiksammeln hingegen dient eher moraldidaktischen Zielen; die einzelnen Blätter liefern nicht nur Material, um mittels ihrer Ordnung reale Beziehungen im Makrokosmos widerzuspiegeln, sondern transportieren ihrerseits schon Aussagen.
In den späteren Kapiteln verfolgt Brakensiek differenziert den Prozess, der vom thematisch bestimmten Sammeln, das die Drucke als Stellvertreter für Dinge oder Aussagen wertet, über einen kennerschaftlichen, auf Gemäldevorlagen fixierten Umgang mit Grafiken zu einem schließlich primär grafikgeschichtlich orientierten Interesse führt, das sich vor allem mit der Person Adam von Bartschs verbindet. Doch weniger dieser Prozess ist bemerkenswert, als die vielen Zwischenstufen, die Brakensiek zum Beispiel für die Entwicklung der Wertschätzung von Handzeichnungen oder Radierungen [1] ausmachen kann.
Es scheint angesichts dieser Tendenz zum rein kunstimmanenten Umgang mit Druckgrafik nur konsequent, dass die Bezüge zu anderen, zum Beispiel naturkundlichen Sammlungen in diesen späteren Kapiteln zurücktreten. Doch dürfte es durchaus lohnenswert sein, für den Bereich des Grafiksammelns ähnlichen Bezügen nachzugehen, wie sie Debora J. Meijers für Christian von Mechels Neueinrichtung der Gemäldegalerie im Wiener Belvedere aufgezeigt hat [2]. Die zwischen programmatischen Forderungen und pragmatischen Erwägungen schwankende Debatte um die Reihung der Künstler nach dem Alphabet oder nach der Chronologie sowie die Auseinandersetzungen um eine sinnvolle und zugleich praktikable Ablage (Klebebände versus Mappen) sind beispielsweise auf dem Sektor der Botanik nicht ohne Pendant. Dort wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um eine "künstliche" oder "natürliche" Ordnung gerungen. Zu fragen wäre, ob der Umgang mit Naturalia und das Sammeln von Kunst unabhängig voneinander von Verzeitlichungstendenzen erfasst werden, oder ob nicht einzelne Sammler die Entwicklungen des jeweils anderen Sachgebietes verfolgten - ganz abgesehen von Schlüsselfiguren wie Goethe, die auf beiden Sektoren gleichzeitig tätig waren. Dass solche Fragen in Brakensieks Arbeit nicht erschöpfend beantwortet werden, kann allerdings angesichts des Geleisteten kein Anlass für Kritik sein.
So bleiben im Wesentlichen nur einige formale Details zu bedauern. Die Gestaltung des Buches ist erfreulich hochwertig; ein Register hätte allerdings angesichts der Fülle des erschlossenen Materials einen erheblichen Zugewinn bedeutet. Gewonnen hätte die Studie auch durch ein gründlicheres Lektorat; zahlreiche Satzfehler und einige stilistische Unebenheiten stören bisweilen bei der Lektüre des ertragreichen Buches.
Anmerkungen:
[1] Die Bewertung von Kupferstich und Radierung im französisch bestimmten Diskurs des 18. Jahrhunderts kann Brakensiek im Rahmen seiner Studie allerdings nicht so detailliert nachzeichnen, wie es jüngst von Norberto Grammaccini und Hans Jakob Meier (Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduktionsgraphik 1648-1792, München 2003) geleistet wurde. Vgl. hierzu die Rezension von Christian Rümelin in dieser Ausgabe; http://www.sehepunkte.de/2004/01/2834.html. Auch der Blick auf die deutschen Beiträge zum Grafikdiskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert ließe sich in vielerlei Hinsicht weiter differenzieren. Lohnenswert wäre ein genauerer Vergleich zwischen Volkmanns 1768 erschienener Übersetzung von William Gilpins "Essay upon Prints" und Johann Caspar Füßlins "Raisonirendem Verzeichnis" von 1771. Füßlins Text ist über weite Passagen hin tatsächlich nicht nur eine "Paraphrase" (470) von Volkmanns Übersetzung, sondern schlichtweg eine Wiederholung des Wortlauts; dennoch gibt es an einigen Stellen bemerkenswerte Abweichungen, die sogleich auch die Bewertungskriterien betreffen. So schätzt Füßlin die Radierung als unmittelbaren Ausdruck des "Genies" erheblich höher ein. Noch Michael Hubers "Handbuch für Kunstliebhaber und Sammler", Zürich 1796-1808, ist stark - aber wiederum mit bezeichnenden Verschiebungen - von Volkmanns Gilpin-Übersetzung abhängig.
[2] Debora J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 2), Mailand 1995 [erstmals Amsterdam 1991].
Johannes Grave