Mathias Geiselhart: Die Kapitulariengesetzgebung Lothars I. in Italien (= Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte; Bd. 15), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, XXXVIII + 266 S., ISBN 978-3-631-38943-0, EUR 45,50
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Die Karolinger bedienten sich zur Sicherung und Intensivierung ihrer expansiven Herrschaft ganz unterschiedlicher Formen, Mittel und Träger. Unter den vielfältigen Herrschaftsinstrumenten kam den Kapitularien - den vielfach in Kapitel gegliederten Herrschererlassen mit zumeist gesetzgeberischem und / oder administrativem beziehungsweise religiös-belehrendem Charakter - zentrale Bedeutung zu, eigneten sie sich doch in besonderer Weise zur politischen und rechtlichen Ordnung der jeweiligen Räume ihres weitgespannten Reiches sowie zur Durchsetzung königlicher Gebote. Dieser Vorgang lässt sich in dem 774 von den Franken eroberten Langobardenreich so präzise wie sonst nirgendwo verfolgen. Nach den von Karl dem Großen verfügten grundlegenden Veränderungen im Ordnungsgefüge des 'Regnum Italiae' - der Etablierung der Grafen als königliche Sachwalter und der Übertragung administrativer und jurisdiktioneller Aufgaben an die Bischöfe - erreichte die italienische Kapitulariengesetzgebung unter Karls Enkel, Kaiser Lothar I. (gestorben 855), ihren einzigartigen Höhepunkt. Die Forschung hat diesem wichtigen Abschnitt fränkisch-italienischer Geschichte bislang kaum Beachtung geschenkt. Diese empfindliche Lücke schließt nun die vorliegende, leicht überarbeitete Freiburger Dissertation von 2000/01 aus der Schule von Hubert Mordek.
Im Zentrum der Arbeit stehen Fragen nach der Originalität (Kontinuität oder Neuansatz?) und Effektivität von Lothars Kapitulariengesetzgebung wie nach ihrem Rechtsgehalt. Nach Skizzierung der Rahmenbedingungen von Lothars zunächst an die 'iussio' seines Vaters Ludwig des Frommen gebundenen gesetzgeberischem Auftrag (vier Italienaufenthalte: 822/23, 824/25, 829/30 und März 831 - April 833) und Vorstellung der Überlieferungsgrundlage (22 Handschriften aus dem 9.-11. Jahrhundert) analysiert Geiselhart eingehend die insgesamt elf vollständig erhaltenen Kapitularien Lothars nach handschriftlicher Überlieferung (Volltexte und Fragmente), Datierung und Entstehung sowie Rechtsinhalt. Bereits die drei während Lothars erstem Italienaufenthalt 822/23 erlassenen Kapitularien zeichnen sich bei aller neuerlichen Einschärfung älterer Vorschriften - wie etwa der öffentlichen Leistungen der Freien, des Schutzes des Kirchenguts, der Ahndung von Ehebruch und der Unzucht geweihter Frauen - durch zahlreiche weitergehende und neue Regelungen aus: So vor allem die für Bischöfe jetzt straflose Kündigung von Leiheverträgen, die Auslieferung der Ehebrecherin zur Bestrafung an den Ehemann (vorher: Einweisung in ein Frauenarbeitshaus), der auf Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen beschränkte Vogtzwang, die Ausstellung von Urkunden nur in Gegenwart öffentlicher Amtsträger, der gerichtliche Vorrang der Vasallen Lothars vor allen übrigen Freien sowie die Unterwerfung beider Partner der ehelichen Verbindung eines Unfreien mit einer freien Frau unter die Strafgewalt des Herrn des Unfreien.
Den Weg der Neuordnung und Erneuerung der politisch-rechtlichen Verhältnisse Italiens unter ausdrücklicher Anerkennung der langobardischen Rechtstradition - einer elementaren Voraussetzung für die Legitimierung seiner Herrschaft - beschritt Lothar I. auch bei seinem zweiten Italienaufenthalt 824/25 konsequent weiter. Dies dokumentieren allein sechs in dieser Zeit erlassene Kapitularien. Allen voran die im November 824 mündlich verkündete 'Constitutio Romana', welche die fränkisch-päpstlichen Beziehungen auf eine neue Basis stellte und der kaiserlichen Gewalt künftig weitreichende Eingriffsmöglichkeiten in die Papstwahl und inneren (vor allem gerichtlichen) Verhältnisse Roms eröffnete. Insbesondere das das Heerwesen (Führung der Vasallenkontingente durch die Grafen!) neu ordnende "Capitulare de expedicione Corsicana", das auf einem weitreichenden Reformkonzept (Einrichtung von neun Schulen zur Aus- / Weiterbildung der Lehrer an den Kathedralschulen; Frist zur Einführung der Kanonikerregel an den Bischofskirchen) gründende "Capitulare Olonnense ecclesiasticum primum" und das bestüberlieferte "Capitulare Olonnense mundanum" (17 Handschriften) mit seiner grundsätzlichen gesetzlichen Regelung der Heeresfolge der dienstpflichtigen Freien durch ein differenziertes Sanktionssystem zeigen Lothar I. auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft in Italien.
Welch hohen Stellenwert Lothar zeitlebens religiöser Disziplin und 'vita communis' des Klerus beimaß, unterstreichen die Bestimmungen seiner beiden letzten, 829/30 und 832 verfügten Kapitularien, welche die Zweckbestimmung der Xenodochien sicherten, die Zerstörung überflüssiger Kirchen an einem Ort und die Ausstattung der Eigenkirchen mit einer Hufe und zwei Hörigen anordneten sowie das Verfahren bei Zwangsbuße für degradierte Kleriker festlegten.
Insgesamt gesehen entwirft die quellennahe Arbeit ein gegenüber der bisherigen Forschung erheblich differenzierteres Bild von Lothars breitangelegten reformerischen Anstrengungen im 'Regnum Italiae', seinen bislang verkannten beachtlichen gesetzgeberischen Neuansätzen zur Hebung des Bildungsniveaus des Klerus und im Prozess- und Beweisrecht sowie von der auf Kosten der Bischöfe und königlichen 'missi' gestärkten Position der Grafen. Sie zeigt aber auch die durch die gesamtfränkische Kapitulariengesetzgebung, das nach wie vor geltende langobardische Recht und die jeweiligen herrschaftlichen Verhältnisse vor Ort eng gesteckten Grenzen bei der oft schwierigen Umsetzung der Reformmaßnahmen auf. Eine kritische Durchsicht der Kapitularien unsicheren Ursprungs nach verlorenen Herrschererlassen Lothars, ein Ausblick auf die italienische Kapitulariengesetzgebung seines Sohnes Ludwigs II. sowie ein Register der Personen, Orte und Handschriften runden die hervorragende Arbeit ab.
Hubertus Seibert