Karsten Krieger (Bearb.): Der "Berliner Antisemitismusstreit" 1879-1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, München: K. G. Saur 2003, 2 Bde., XLIV + 903 S., ISBN 978-3-598-11622-3, EUR 258,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Brocke / Aubrey Pomerance / Andrea Schatz (Hgg.): Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur, Berlin: Metropol 2001
Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hgg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2002
Die Auseinandersetzung um Heinrich von Treitschke von 1879 bis 1881 gehört zweifellos zu den Schlüsselereignissen in der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Der Aufsatz "Unsere Aussichten" des Berliner Historikers in den von ihm redigierten "Preußischen Jahrbüchern" 1879 hatte eine Flut von Streitschriften und Zeitungsartikeln zu der Frage hervorgerufen, in welchem Maße das Kaiserreich ein homogener Nationalstaat sei und welche Rolle in ihm Juden beanspruchen dürften. Es bedurfte letztlich mit Theodor Mommsen eines Gegenspielers, der als herausragender Historiker und als Nichtjude genügend 'Eigengewicht' besaß, um der Öffentlichkeit die Problematik der ressentimentgeladenen Positionen Treitschkes und seiner Anhänger zu verdeutlichen. Allerdings unterschieden sich die beiden Historiker inhaltlich nur graduell voneinander, der Unterschied bestand eher darin, inwieweit ihre Ansichten zur Stellung von Juden in Deutschland konkrete Umsetzungen erfahren sollten. Insgesamt fanden rationale Argumente in dem Streit nur selten Gehör. Die Folgen waren verheerend: Antisemitisches Gedankengut wurde im Bildungsbürgertum, vor allem aber unter den Studenten, salonfähig, das Vertrauen nicht weniger liberal orientierter Juden in den neuen Staat und seine Führungseliten war erschüttert.
1965 war es eine Sammlung in erster Linie der Texte von Treitschke und Mommsen, die der Publizist Walter Boehlich unter dem Titel "Berliner Antisemitismusstreit" herausgegeben und kommentiert hatte, welche der Forschung ein Textkorpus zur Verfügung stellte, das mittlerweile weitgehend kanonisch geworden ist und dem Ereignis seither seinen Namen beschert hat. Damit hatte Boehlich einige wichtige Texte zusammengetragen, zugleich aber auch eine falsche Fährte gelegt: Denn obwohl sich die Debatte um Treitschke bei weitem nicht auf Berlin beschränkte und auch der Antisemitismus allenfalls eines der zentralen Themen darstellte, hat sich diese Bezeichnung bis heute gehalten. Auch die hier zu besprechende Quellenedition behält - wider besseres Wissen - die irreführende Bezeichnung bei, indem sie sich einfach auf deren Bekanntheitsgrad beruft. Vielmehr ist Wolfgang Benz zuzustimmen, wenn er namens des auftraggebenden Zentrums für Antisemitismusforschung im Vorwort anführt, dass es sich seinerzeit um "eine Identitätsdebatte [gehandelt habe, in der] nahezu alles verhandelt [wurde], was sich seit der Reichsgründung und der Judenemanzipation in Deutschland an Identitätskonflikten angestaut hatte" (VIII f.). Umso bedauerlicher ist es also, dass Herausgeber und Auftraggeber an dem letztlich überholten Titel festgehalten haben.
Davon abgesehen handelt es sich bei diesem umfangreichen Werk um eine wichtige und sehr hilfreiche Edition. Es liegt bereits kein geringes Verdienst in dem konservatorischen Aspekt der Arbeit: Denn viele der hier abgedruckten Texte wären sonst aufgrund der schlechten Papierqualität der Originale in absehbarer Zeit schlichtweg verloren. Darüber hinaus lässt sich erst mit dieser Neuausgabe das enorme Ausmaß einer Debatte ermessen, die eben nicht auf den Kampf der beiden großen Historiker sowie einiger weniger, prominenter Juden reduzierbar ist. Krieger hat eine beeindruckende Menge an Quellentexten zusammengetragen, an Pamphleten wie an Zeitungsartikeln, die weit über die Auswahl bei Boehlich hinausgehen: Genannt seien etwa Artikel von Moritz Busch und Ludwig Philippson sowie eine Reihe anonymer Zeitungsnotizen, unter anderem aus dem Berliner Börsen-Courier und der Vossischen Zeitung. Damit nicht genug bietet die Edition auch einige private, nur brieflich mitgeteilte Äußerungen der Protagonisten sowie eine kleine Auswahl aus den zahlreichen Zuschriften, die Treitschke im Verlauf der Kontroverse erreichten; diese Briefe, bislang so gut wie unausgewertet, stammen aus seinem Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek und belegen nachdrücklich, wie sehr die Auseinandersetzung auch außerhalb der Feuilletons geführt wurde. Schließlich zeigen zwei Ausschnitte aus der Londoner "Times" zumindest schlaglichtartig auf, dass die Vorgänge in Deutschland international ebenfalls perzipiert und kommentiert wurden (vergleichbare Artikel, mitunter gar Pamphlete, finden sich in Frankreich ebenso wie in den Vereinigten Staaten).
Die einzelnen Quellen werden durch eine knappe, aber informative Kommentierung eingeleitet, viele Anspielungen und Bezugnahmen in den Texten selbst werden wiederum durch erklärende Anmerkungen erklärt. Diese benutzerfreundliche Gestaltung bewirkt, dass sich die meisten Texte gut erschließen und in den Gesamtzusammenhang der Kontroverse einordnen lassen. Beigegeben sind der Edition eine Reihe von Hilfsmitteln: Neben einem kommentierten Personenregister und einer Zeittafel sind dies chronologische und alphabetische Verzeichnisse der Quellen, ein (kurzes) weiterführendes Literaturverzeichnis sowie Angaben zu Auflagenzahlen und Erscheinungsweisen der aufgenommenen Zeitungen und Zeitschriften. Unklar bleibt, nach welchen Kriterien die abgedruckten Quellen ausgewählt und aus welchen Gründen etwa die auf Seite 871 aufgeführten Quellen nicht in die Edition aufgenommen worden sind (wobei es sich auch hierbei nicht um eine vollständige Liste handelt); die gleiche Unklarheit gilt in Bezug auf die Briefe von und an Treitschke. Schließlich fragt man sich im Falle der biografischen Angaben im Personenregister, weshalb bloß bei Theologen und Juden die Konfession beziehungsweise Religion angegeben ist. Nimmt man dies hin, so muss dann aber der sorglos-undifferenzierte Umgang in der Zuschreibung von 'Jüdischkeit' kritisiert werden: Angesichts ihrer Bedeutung in der Kontroverse hätte beispielsweise die Konversion von Börne und Heine erwähnt werden sollen. Und die Autorschaft eines Buches zur Geschichte der Juden im Mittelalter macht aus Otto Stobbe noch keinen "deutsch-jüdischen Historiker" (900).
Ungeachtet dieser Einschränkungen ist Karsten Krieger insgesamt eine wichtige Edition gelungen, die zweifelsohne der Forschung zu diesem für die deutsche Geschichte so zentralen Themenkomplex eine fundierte Arbeit wesentlich erleichtert.
Marcus Pyka