Rezension über:

Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat (= Elitenwandel in der Moderne; Bd. 4), 3., durchges. Aufl., Berlin: Akademie Verlag 2003, 660 S., ISBN 978-3-05-004070-7, EUR 59,80
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Rezension von:
Eckart Conze
Philipps-Universität, Marburg
Empfohlene Zitierweise:
Eckart Conze: Rezension von: Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, 3., durchges. Aufl., Berlin: Akademie Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/5205.html


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Stephan Malinowski: Vom König zum Führer

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Noch bis vor wenigen Jahren erntete derjenige Historiker, der sich mit der Geschichte des deutschen Adels im 20. Jahrhundert beschäftigte oder auch nur beschäftigen wollte, hier zu Lande eher skeptisches Stirnrunzeln. War nicht spätestens 1918 die Zeit des Adels endgültig vorüber, nachdem schon im 19. Jahrhundert die Aristokratie in Deutschland keineswegs zu den Kräften des Fortschritts gezählt hatte, denen sich eine progressive Geschichtswissenschaft bevorzugt zuwandte? Wer schreibt schon gerne die Geschichte von Verlierern? Das galt auch für den Adel, wenngleich freilich die schlichte These vom adeligen Niedergang zunehmend relativiert und differenziert wurde. Wenigstens als Fortschrittshindernis konnte der Adel nicht ganz ausgeblendet werden. Später schuf dann die kulturalistische Erweiterung der Sozialgeschichte ein neues Sensorium für die Beharrungskraft des Adels, für seine Fähigkeit "obenzubleiben", wie es in Anlehnung an Werner Sombart immer häufiger zu lesen war. Soviel "Obenbleiben" war nie.

Das Buch des Berliner Historikers Stephan Malinowski schließt an diese Entwicklung der adelshistorischen Forschung an. Allerdings fragt Malinowski weniger nach dem adeligen "Obenbleiben", als vielmehr nach den Wirkungen und Folgen des adeligen Willens "obenzubleiben". Der Kampf gegen den Niedergang, gegen den politischen und sozialen Bedeutungsverlust steht im Zentrum der Studie. In diesem Abstieg und einem zum Teil verzweifelten Aufbäumen dagegen sieht Malinowski eine entscheidende Voraussetzung für die politische Radikalisierung weiter Teile des deutschen Adels seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und für seine Öffnung zum Nationalsozialismus.

Diese Öffnung spiegelt sich nicht zuletzt in zahllosen Parteieintritten oder Aufnahmegesuchen in SA, SS und andere NS-Formationen. Kaum eine adelige Familie, insbesondere im Adel Ostelbiens, blieb ohne Parteimitglied, und die Namen, die wir gemeinhin mit dem 20. Juli 1944 in Verbindung bringen, machen da keine Ausnahme: 41 Schulenburgs gehörten der NSDAP an, davon 17 schon vor 1933, 30 Tresckows, 27 Hardenbergs oder 52 Schwerins. Was in diesen Zahlen sichtbar wird, ist eine Dimension deutscher Adelsgeschichte im 20. Jahrhundert, über die wir nur wenig wissen. Dass der Adel selbst, in seinen Familiengeschichten, Memoiren und Autobiografien, seiner - um es milde zu sagen - Affinität zum Nationalsozialismus keinen breiten Raum gab, ist verständlich. Dass aber auch die Geschichtswissenschaft bis vor kurzem das Thema weitgehend marginalisiert hat, bedarf schon der Erklärung. Denn die Omnipräsenz des Adels in allen Studien zur deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich" ist alles andere als gleichbedeutend mit ihrer systematischen Erforschung.

Für Malinowski rührt das Defizit nicht zuletzt aus zentralen Interpretationsmustern der These vom deutschen Sonderweg in die Moderne, die als Meistererzählung von den späten 1960er- bis in die 1990er-Jahre die deutsche Geschichtsschreibung maßgeblich bestimmt hat. Dazu gehören insbesondere die These von der Feudalisierung des Bürgertums und, darauf aufbauend, der Hinweis auf die unheilvolle Rolle des Adels in den Machteliten der Weimarer Republik. Gerade letzterer Befund ist zwar nicht falsch, er trägt aber doch zu einer politikhistorischen Verkürzung der Analyse bei. Außerdem schreibt er, was problematischer ist, dem Adel beziehungsweise einzelnen exponierten Adeligen eine führende Rolle bei der Zerstörung der Republik und der Schaffung jenes Machtvakuums zu, in welches der aufsteigende Nationalsozialismus stoßen konnte. Aber war der Adel in diesen Prozessen tatsächlich eine manipulationsmächtige Kraft? Sicher, im Blick auf einzelne Personen und in der Untersuchung lokaler oder regionaler Entwicklungen wird man immer wieder die Möglichkeiten und Formen adeliger Machtausübung und Einflussnahme identifizieren können. Insgesamt jedoch, daran lässt die Studie Malinowskis keinen Zweifel, war der Adel in jener politischen Radikalisierung der Gesellschaft, die zu den zentralen Bedingungen der NS-Machtübernahme gehört, keine treibende, sondern eine getriebene Kraft.

Um so argumentieren zu können, muss man zunächst die relativ kleine Gruppe des reichen und sozial stabilen, meist großgrundbesitzenden alten Adels, darunter nicht zuletzt hochadelige und standesherrliche Familien, idealtypisch unterscheiden von einem Kleinadel, der zwar noch Land besaß, aber nicht in der Lage war, Töchter und nachgeborene Söhne materiell abzusichern, sowie von einem stetig wachsenden Adelsproletariat, welches sich aus eigener Kraft nicht mehr versorgen konnte. Vor allem die beiden letzteren Gruppen, die zahlenmäßig das Gros des deutschen Adels ausmachten, nimmt Malinowski in den Blick. Und es gelingt ihm zu zeigen, dass diese Teile des Adels als eindeutige Verlierer von Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts nicht den Schulterschluss oder zumindest die Annäherung an das aufsteigende Bürgertum suchten - dazu fehlten nicht zuletzt Bildung und Geld. Vielmehr isolierte sich gerade dieser Adel mentalitär und habituell, zog sich auf sich selbst zurück und legitimierte, ja überhöhte diese Absonderung schon bald ideologisch. Die so Gestalt annehmende habituelle, mentalitäre und ideologische "Adeligkeit", ein zentraler Analysebegriff der Studie, bezog sich nur noch negativ auf das Bürgertum, das als Gegenbild und Gegenwelt herhalten musste. Adeligkeit wurde Anti-Bürgerlichkeit, wie es sich in den Gegensatzkonstruktionen Land versus Stadt, Charakter versus Bildung oder Kargheit versus Reichtum äußerte. Die Negativbezüge dieser Gegensätze, die Kritik am Bürgertum, seinen Lebensformen und, allgemeiner, einer als bürgerlich und adelsfeindlich empfundenen Welt bündelten sich in einem scharfen Antisemitismus, der als kultureller Code (Shulamit Volkov) auch Adelige die Welt des modernen Kapitalismus wahrnehmen und erklären ließ.

Freilich war dieser adelige Antisemitismus, eben weil er nicht spezifisch adelig war, vielfach anschlussfähig. Er schuf Brücken zwischen Adelsverbänden wie der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) und jenen völkischen Verbänden und Gruppierungen der Neuen Rechten, die seit den 1880er-Jahren in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen, und in denen sich nicht wenige Adelige engagierten. Das gilt primär, wenn auch nicht ausschließlich, für den Adel im ostelbischen Preußen, der indes zahlenmäßig den deutschen Adel dominierte. Für den Adel des Südens und Südwestens hingegen ist eine völkisch-antisemitische Radikalisierung ostelbischen Musters flächendeckend nicht nachzuweisen. Am ehesten hier, wo auch die alten standesherrlichen Familien das Bild des Adels mitbestimmten, bildeten sich Ansätze eines politisch-ideologischen Adelskonservatismus heraus, die vom Gedankengut der Neuen Rechten - den widersinnigen Begriff der "Konservativen Revolution" verwirft Malinowski zum Glück - weit entfernt waren. Wer dies allerdings einfach mit dem Katholizismus erklären will, den belehrt der Blick auf den katholischen Adel Westfalens eines Besseren. Starke Teile dieses Adels, unter anderem im Verband katholischer Edelleute, radikalisierten sich auf eine Weise, die der Entwicklung in der protestantischen Deutschen Adelsgenossenschaft in nichts nachstand. Die Gründe dafür bleiben vorerst unklar. Womöglich führen hier nicht konfessionsgeschichtliche Analysen weiter, sondern Fragen nach der Bedeutung von Nationalismus und Partikularismus.

Die zweifelsohne schon im Kaiserreich angelegte und bis zum Ersten Weltkrieg weit fortgeschrittene Radikalisierung wurde durch Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung entscheidend dynamisiert und verschärft. Die sozialen Fundamente adeliger Macht lösten sich endgültig auf, aus kleinadeligem Niedergang wurde vieltausendfach freier Fall. Es ist wenig überraschend - und schließt an die Entwicklung vor 1914 an -, dass dem sozialen Absturz nicht eine Redimensionierung politisch-ideologischer Ansprüche folgte, sondern ein militantes Jetzt-erst-recht-Bekenntnis zu adeligem Führertum. Damit aber wurden - zunächst kommunikativ - Brückenschläge möglich zum allgemeinen Führer-Diskurs der 20er-Jahre. Und auch die Rede vom "Neuen Adel", die das rechte bis rechtsradikale Denken dieser Zeit durchzog, bot der alten Aristokratie vielfältige Anschlussmöglichkeiten. So mühte sich - am Ende umsonst - beispielsweise die Ring-Bewegung um adelig-bürgerliche Elitenbildung im Zeichen autoritärer Ordnungskonzepte. Um einen neuen Adel ging es jedoch auch jenen Adeligen, die lange vor 1933 in der Deutschen Adelsgenossenschaft einen Arierparagrafen und eine rassistisch-antisemitische Adelsmatrikel einführten. Aus dem "Semi-Gotha", der 1912 das Ausmaß der "Verjudung" des Adels anprangern sollte, wurde nach dem Krieg das "Eiserne Buch des deutschen Adels deutscher Art" (EDDA), ein Projekt, das wie kein Zweites die völkische Zerstörung des traditionellen Adelsbegriffs und -verständnisses zeigt. Als Nationalsozialisten wie der spätere Bauernführer Darré begannen, von einem "Neuadel aus Blut und Boden" zu sprechen, da war das Denken und Handeln in diesen Kategorien dem alten Adel in Deutschland schon längst nicht mehr fremd, und es bedurfte nur geringer intellektueller Anstrengung, konstitutive Elemente traditioneller Adeligkeit, insbesondere die Bindung an das Land und das ausgeprägte Familienbewusstsein, als gelebte "Blut-und-Boden"-Ideologie avant la lettre hinzustellen.

Und auch der anti-bürgerliche Habitus verband den Kleinadel und das Adelsproletariat, wie es die Adelsgenossenschaft repräsentierte, mit dem Nationalsozialismus. Der schien diesem herabgesunkenen Adel überdies konkrete Karriere- und Zukunftschancen zu bieten und damit eine Möglichkeit, den sozialen Absturz zu stoppen und wieder ein standesgemäßes Leben führen zu können. Eine solche Einschätzung erklärt das "Bündnis der Eliten", das Hitler den Weg politisch bahnen half. Mehr noch aber erklärt sie die massenhafte Annäherung von Adeligen an den Nationalsozialismus, welche die braune Macht sozial etablieren und stabilisieren half. Mit solchen Ergebnissen, ohne skandalisierende oder gar denunziatorische Absicht in klarer Sprache und schönem Stil präsentiert, kann sich Adelsgeschichte mit vollem Recht im Zentrum zeitgeschichtlicher Forschung positionieren und - hoffentlich - etablieren. Malinowskis Untersuchung demonstriert, dass Adelsgeschichte einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung von Kernfragen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts leisten kann. Wer bislang noch an der Relevanz von Adelsgeschichte als Zeitgeschichte zweifelte, der wird durch diese glänzende Studie eines Besseren belehrt.

Eckart Conze