Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973 (= Bayern im Bund, Band 1. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 52), München: Oldenbourg 2001, VI + 458 S., ISBN 978-3-486-56576-8, EUR 39,80
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Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973 (= Bayern im Bund, Band 2. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 53), München: Oldenbourg 2002, VI + 485 S., ISBN 978-3-486-56595-9, EUR 39,80
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Johannes Hürter / Hans Woller (Hgg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München: Oldenbourg 2005
Jaromír Balcar / Thomas Schlemmer (Hgg.): An der Spitze der CSU. Die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union 1946 bis 1955, München: Oldenbourg 2007
Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hgg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000, Berlin: Duncker & Humblot 2006
Die Jahrzehnte zwischen der Währungsreform 1948 und der Ölkrise 1973 umschreiben eine Zeit fundamentalen Wandels. Entwicklungen, die sich bis dahin erst ansatzweise und vor allem in den USA abgezeichnet hatten, erfassten nun große Teile Europas und lösten einen rasanten und allumfassenden sozioökonomischen Strukturwandel aus. In (West-) Deutschland, und hier besonders im noch immer stark agrarisch geprägten Bayern, hatte dieser Entwicklungs- und Modernisierungsschub besonders augenfällige Veränderungen zur Folge. Denn hier beschränkten sie sich nicht auf die allgemeinen Phänomene dieses Prozesses - die man mit den Schlagworten Massenkonsum, Massenkommunikation und Massenmobilität umschreiben kann -, sondern bewirkten darüber hinaus einen tief greifenden Wandel des sozialen Gefüges sowie des gesellschaftlichen Wertekanons. Die Frage nach den Ursachen und den treibenden Kräften, den Folgen und Wirkungen dieser Prozesse, in denen die Bundesrepublik jene Strukturen ausbildete, die sie bis heute maßgeblich prägen, beschäftigt die Geschichtswissenschaften zwar bereits seit geraumer Zeit, doch fand dabei die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nur geringere Beachtung.
Diese Lücke für Bayern zu schließen ist das Ziel des am Institut für Zeitgeschichte entwickelten Projekts "Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973". Mit diesem setzt das Institut seine bewährte Praxis fort, die zeitgeschichtliche Forschung auf bestimmte wichtige Komplexe zu konzentrieren, die so aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen methodischen Ansätzen untersucht werden. Gesteigert wird der Ertrag dieser konzertierten Forschungsarbeit durch die Synergieeffekte, welche die Zusammenarbeit mehrerer Forscherinnen und Forscher im Rahmen eines solchen Projekts mit sich bringt. Beispielhaft belegt die Fruchtbarkeit dieses Vorgehens das erste dieser Projekte, "Bayern in der NS-Zeit", und ähnliche Erfolge zeitigte das Anschlussprojekt "Politik und Gesellschaft in der US-Zone 1945 bis 1949". Um es gleich vorweg zu sagen: Auch die Beiträge des aktuellen Forschungsvorhabens werden den Vorgaben gerecht, welche die bisherigen vom Institut für Zeitgeschichte initiierten und unterstützten Projekte darstellen.
Dass sich dieses Projekt wieder auf Bayern konzentriert, hat neben eher praktischen Gründen auch solche sachlicher Natur. In Bayern war der sozioökonomische Wandel besonders rasant, der bayerische Staat versuchte zudem schon sehr bald und energisch in diesen einzugreifen. Auch lässt sich gerade in Bayern die Auflösung regionaler und gesellschaftlicher Trennlinien, sowie die Hegemonialisierung des politischen Systems durch eine Partei besonders deutlich beobachten. Trotz dieses Bezugs auf Bayern geht man nicht unbegründet davon aus, dass die so gewonnenen Erkenntnisse für die gesamte Bundesrepublik relevant sein werden.
Die Ergebnisse dieser Forschungen werden in vier Monografien und drei Sammelbänden publiziert. Die erste der Monografien hat die Wirtschafts- und Strukturpolitik Bayerns zum Gegenstand, die zweite untersucht am Beispiel der Region Ingolstadt, Bayerns "Ruhrgebiet" der 1960er-Jahre, die "Innenseite" des Strukturwandels der Zeit von 1949 bis 1973. Diese beiden Bände sollen 2004/5 erscheinen. Die dritte Arbeit hat den Wandel der ländlichen Gesellschaft in dieser Zeit zum Gegenstand; sie wurde von Jaromir Balcar unter dem Titel "Politik auf dem Lande. Studien zur bayerischen Provinz 1949-1972" Anfang 2004 veröffentlicht. 2003 erschien bereits die vierte Monografie dieser Reihe, welche die Geschichte der Arbeiterschaft zum Gegenstand hat; sie stammt von Dietmar Süß und hat den Titel "Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945-1976". [1]
Drei Sammelbände sollen diese vier grundlegenden Darstellungen ergänzen. In ihnen sind Beiträge aufgenommen, die im Umfeld des Instituts für Zeitgeschichte entstanden sind und teilweise auch erst durch das genannte Projekt angeregt wurden. Die ersten beiden Sammelbände sind 2001 und 2002 erschienen und werden nachfolgend vorgestellt; der dritte Band - sein Titel soll "Politik und Kultur im föderativen Staat" lauten - ist für 2004 geplant.
Den ersten Band, "Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973", eröffnen die beiden Herausgeber mit einer ausführlichen Einleitung, in der sie zunächst das gesamte Projekt vorstellen. Daran schließt sich eine Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Bayerns in der unmittelbaren Nachkriegszeit an, die im Wesentlichen die bisher bekannten Befunde - die relative wirtschaftliche Rückständigkeit Bayerns dank einer "geminderten Industrialisierung" und die Belastung durch die Aufnahme von rund 2 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen - bestätigt. Mit der Darstellung der Reaktion der sich neu formierenden politischen Kräfte auf diese Herausforderungen wenden sich die Herausgeber dann dem eigentlichen Forschungsfeld des Projektes zu. Auch hierbei greifen sie zunächst auf bisherige Forschungsergebnisse zurück, ergänzen diese aber sehr bald mit Erkenntnissen, die im Rahmen des Projekts gewonnen wurden. Dadurch werden die Konturen der Industrialisierungs- und Erschließungspolitik Bayerns wesentlich deutlicher sichtbar als bisher, aber auch die Rahmenbedingungen, in denen sich die bayerische Politik zu bewegen hatte. Ähnliches gilt für die anschließenden Ausführungen über Wirkungen und Folgen dieser Politik, auch wenn hier aufgrund des unzureichenden Forschungsstands und der Quellenlage oft noch keine endgültigen Aussagen möglich sind.
Der erste der Beiträge, verfasst von Stephan Deutinger, beschäftigt sich mit der Energiepolitik sowie der regionalen Energieversorgung von 1945 bis 1980, die für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Bayerns von grundlegender Bedeutung war. Dass es in Bayern keine Steinkohle- und nur geringe Braunkohlelager gab, war eine der Hauptursachen der "geminderten Industrialisierung" Bayerns. Auch nach 1945 stellte die unzureichende, mit hohen Transportkosten verbundene Kohleversorgung das größte Hindernis für den Ausbau von Gewerbe und Industrie dar. Dieser war jedoch unbedingt notwendig, um der stark gewachsenen Bevölkerung Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu können. Angesichts dieser Problematik musste der Energiepolitik oberste Priorität zukommen. Wie Deutinger zeigt, fand die bayerische Energiepolitik jedoch lange zu keinem Konzept, wie man die Kohle wenigstens langfristig ersetzen könnte. Diese wurde dann zunächst durch Erdöl und Erdgas und schließlich auch durch die Atomenergie abgelöst. Aber weder beim Bau der Pipelines nach Ingolstadt noch bei der Errichtung der Atomkraftwerke gingen, nach Deutingers Erkenntnissen, die entscheidenden Impulse von der bayerischen Regierung aus. Die Bereitstellung hinreichender Mengen Energie zu günstigen Preisen ermöglichte und verursachte jedenfalls einen enormen Anstieg des Energieverbrauchs; von 1950 bis 1973 wuchs dieser von 14,1 auf 48,5 Millionen Steinkohleeinheiten.
In engem Zusammenhang mit der Energiepolitik steht die Verkehrspolitik, deren Entwicklung und Folgen Alexander Gall untersucht. Der Eiserne Vorhang schnitt Bayern von seinen traditionell wichtigsten Verbindungen ab, die nach Norden und Nordosten führten. Andere Verbindungen, vor allem solche in das Rhein- und Ruhrgebiet, gewannen an Bedeutung und mussten entsprechend ausgebaut werden; das galt sowohl für den Schienen- wie den Straßenverkehr. Große Erwartungen verband man in Bayern noch immer mit dem Bau einer leistungsfähigen Wasserstraße zwischen Donau und Main, in der man bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Schlüssel zur Industrialisierung Bayerns gesehen hatte. Nach Galls Erkenntnissen trug die bayerische Regierung, sowohl was diese Anbindung Bayerns nach Westdeutschland als auch den Ausbau des innerbayerischen Straßennetzes anbelangte, im Wesentlichen nur offen zu Tage liegenden Erfordernissen Rechnung; es sei nicht zu erkennen, dass von ihr wesentliche Impulse ausgegangen wären, zumal die Eisenbahn und die Fernstraßen in den Kompetenzbereich des Bundes fielen. Eine Ausnahme bildete der Rhein-Main-Donaukanal, der sicherlich nicht fertig gestellt worden wäre, hätte die bayerische Staatsregierung nicht darauf bestanden, dass der Bund seinen Verpflichtungen nachkam. Aber gerade diese Wasserstraße spielt für die wirtschaftliche Entwicklung Bayerns eine nur sehr untergeordnete Rolle.
Einen wichtigen Teil des Modernisierungsprozesses, der dennoch kaum beachtet wird, bildet die medizinische Versorgung. Den Zustand des Gesundheitswesens im Nachkriegsbayern und dessen Entwicklung stellt Ulrike Lindner dar, wobei auch sie nicht bei der Beschreibung der Verhältnisse und Entwicklungen stehen bleibt. Sie schreitet vielmehr weiter zu einer höchst aufschlussreichen Analyse der Gesundheitspolitik und deren praktischen Auswirkungen. Wie sie zeigen kann, war das bayerische Gesundheitswesen allen politischen Bemühungen zum Trotz bis in die 70er-Jahre hinein durch einen großen Qualitätsunterschied zwischen Stadt und Land gekennzeichnet; erst die Einführung der Krankenversicherung für Landwirte und die Zunahme des allgemeinen Wohlstands der Landbevölkerung bewirkten eine durchgreifende Verbesserung der medizinischen Versorgung auf dem Land, um die sich die Politik bis dahin vergeblich bemüht hatte.
Mit dem Bildungswesen haben sich die Autoren des nächsten Beitrags - Winfried Müller, Ingo Schröder und Markus Mößling - einen Politikbereich ausgewählt, der auch heute wieder größte Aufmerksamkeit findet. Wie bereits der Untertitel des Beitrags - "Umbau und Expansion - das bayerische Bildungssystem 1950 bis 1975" - zu erkennen gibt, stellen sie den tief greifenden Wandel dar, der in der Mitte der 50er-Jahre einsetzte, in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre seinen Höhepunkt erlebte und zu Beginn der 70er-Jahre weitgehend abgeschlossen war. Vor Beginn dieses Prozesses beschränkte sich die Bildungspolitik im Wesentlichen auf eine Rekonstruktion der Verhältnisse, wie sie vor dem 'Dritten Reich' bestanden, wobei auch deren Mängel und Unzulänglichkeiten wiedererstanden. Erst als die Defizite dieses obsoleten Bildungssystems von größeren Teilen der Öffentlichkeit, vor allem aber von Seiten der Wirtschaft heftig kritisiert wurde, und sich auch bei den, die bayerische Regierung stützenden, konservativen Kräften die Erkenntnis durchsetzte, dass eine gute Bildung breiterer Bevölkerungsschichten die unabdingbare Voraussetzung der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft eines modernen Staates sei, und sich auch Bayern zu einem solchen entwickeln müsse, war der Weg zu einer Modernisierung des Bildungswesens frei. Wie die Autoren betonen, lag der nun einsetzenden "Bildungsoffensive" also nicht etwa ein aufklärerisches Bildungsideal zu Grunde; sie war vielmehr eine Reaktion auf die oft so bezeichnete "Bildungskatastrophe", die Maßnahmen erzwang, mit denen das Bildungswesen auf internationalen Standard angehoben werden konnte. Trotz beachtlicher Anstrengungen und Erfolge sei dies aber nicht gelungen. Auch das erklärte Ziel der bayerischen Bildungspolitik, die starken sozialen und regionalen Unterschiede zu beseitigen, welche das Bildungswesen in Bayern seit jeher kennzeichneten, sei letztlich verfehlt worden.
Beschlossen wird dieser erste Band mit einer Untersuchung Wolfgang Schmids über den Stellenwert, der den Garnisonen der Bundeswehr als Faktor des wirtschaftlichen und sozialen Wandels Bayerns einzuräumen ist. Wie er zeigt, waren die Wirkungen, die von einer Garnison auf die nähere und weitere Umgebung ausgingen, höchst unterschiedlich und hingen nicht nur von Art und Umfang der Garnison, sondern auch und vielfach sogar maßgeblich von der Umgebung ab. Entgegen der allgemeinen Ansicht - die einen entsprechenden Einsatz der regionalen und kommunalen Politik zur Folge hatte - waren diese Wirkungen keineswegs immer positiv. Die Frage, welche Bedeutung man den Garnisonen einzuräumen hat, kann man daher nur im Einzelfall beantworten, eine allgemeine Bewertung, so Schmid, ist zumindest beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht möglich.
Der zweite Sammelband trägt den Titel "Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973". Auch ihm ist eine von Thomas Schlemmer und Hans Woller verfasste Einleitung vorangestellt, in der diesmal zunächst die Grundzüge des gesellschaftlichen Wandels im genannten Zeitraum dargestellt werden. Diesem Abriss schließt sich dann eine kurze Präsentation der nachfolgenden fünf Beiträge an.
Den Anfang macht eine von Eva Moser verfasste Studie über den 1949 gegründeten Landesverband der Bayerischen Industrie. Nach einem Rückblick auf die Vorgeschichte dieses Verbandes, die bis zu Jahrhundertwende zurückreicht, und einer Darstellung des langwierigen Gründungsvorgangs stellt sie die weitere Entwicklung bis 1978 dar. Sie gliedert ihre Darstellung nach der Amtszeit der jeweiligen Präsidenten, bei denen es sich stets um herausragende Unternehmerpersönlichkeiten handelte. Denn dieser Verband verstand sich als Sprachrohr der gesamten bayerischen Industrie, die mit allen Branchen entsprechend ihrer Bedeutung im Präsidium vertreten war, und übte einen zwar nicht exakt messbaren, aber unzweifelhaft erheblichen Einfluss auf die bayerische Politik aus. Wie Moser zeigt, stand der Verband der CSU nahe, betonte aber stets seine Autonomie und ließ sich daher weder von der Partei noch von der bayerischen Staatsregierung vereinnahmen.
Mit dem tief greifenden Wandel, den das Handwerk in diesem Zeitraum durchlief, beschäftigen sich Christoph Boyer und Thomas Schlemmer. Sie umreißen zunächst den Wandel dieses Wirtschaftszweiges, in dem zu Beginn des Untersuchungszeitraumes noch der am Bedarf der Nachbarschaft orientierte, familienwirtschaftliche Kleinbetrieb vorherrschte, während in den 70er-Jahren bereits leistungsfähige, mittelständische Unternehmen das Bild bestimmten, die vielfach der Industrie zuarbeiteten und einen internationalen Markt bedienten. Aber nicht nur diesen Wandel, sondern vor allem auch dessen soziale und politische Auswirkungen unterziehen die Autoren einer gründlichen Analyse, womit sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Strukturen Bayerns leisten.
Zu den Besonderheiten, welche die bayerische Gesellschaft von der in anderen Teilen Deutschlands unterscheidet, zählt der große Anteil von Nebenerwerbslandwirten. Dieses Bevölkerungs- und Wirtschaftssegment steht im Mittelpunkt von Andreas Eichmüllers Beitrag über die "Arbeiterbauern in Bayern nach 1945". Anders als die Bundespolitik, die den Betrieb von Landwirtschaft im Nebenerwerb als unwirtschaftlich ablehnte, hat sich die bayerische Politik sehr früh zum Ziel gesetzt, neben den landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieben auch Zu- und Nebenerwerbsbetriebe zu erhalten. Das hatte zur Folge, dass Anfang der 70er-Jahre rund ein Drittel aller bayerischen Höfe dieser Kategorie zuzurechen war. Eichmüller zeichnet die bayerische Politik in diesem Bereich nach und schildert anschaulich die besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieses großen Teils der ländlichen Bevölkerung. Was den besonderen Wert seiner Studie ausmacht, ist aber seine scharfsinnige Analyse der sozialen und politischen Folgen dieser Symbiose von selbstständiger, landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit und abhängiger, gewerblich-industrieller Beschäftigung. Wie die Studie über das Handwerk so liefert auch Eichmüllers Abhandlung über die "Arbeiterbauern" einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen und sozialen Landschaft Bayerns.
Die plakative Frage "Stiefkind der Gesellschaft" oder "Trägerin der Erneuerung"? wirft Christiane Kuller in der Überschrift ihres Beitrags auf, in dem sie die Entwicklung der Familie und der Familienpolitik in Bayern von 1945 bis 1974 nachzeichnet. 1974 markiert das Ende einer Ära insofern, als mit der Einkommenssteuerreform dieses Jahres das vom Einkommen der Eltern unabhängige Kindergeld eingeführt wurde; damit kam die seit 1945 währende Auseinandersetzung über die Art des Ausgleichs zum Abschluss, den man den Familien für die Minderung ihres Erwerbseinkommens und die Kosten für die Versorgung der Kinder gewähren wollte. Aber nicht nur diese, sondern alle wesentlichen politischen Auseinandersetzungen über die Rolle und Bedeutung der Familie zeichnet die Autorin nach, nachdem sie zuvor auf der Grundlage des umfangreichen statistischen Materials zur Bevölkerungsstruktur die Entwicklung der Familie in Bayern seit 1945 analysiert hat. Dabei präsentiert sie die ideologischen wie wirtschaftlichen Motive, vor allem aber auch die faktischen Wirkungen der Familienpolitik. Wie Kuller zeigt, stellten bereits in den 50er-Jahren Kinder das größte Armutsrisiko dar, lebten doch 1955 laut Statistik 45 Prozent alle Kinder Bayerns in der "Mangelzone". Und wie man der Studie weiter entnehmen kann, hat sich diese Situation bis 1974 nicht wesentlich geändert, was ein bezeichnendes Licht auf die "Erfolge" der Familienpolitik wirft, die freilich zu einem guten Teil auch von der Bundesregierung zu verantworten war.
Mit einem höchst heterogenen Bevölkerungsteil, dessen Zusammensetzung sich zudem ständig änderte, setzt sich Wilfried Rudloff in seinem ausführlichen Beitrag auseinander, den er unter das Thema "Soziale Probleme, Randgruppen und Subkulturen 1949 bis 1973" gestellt hat. In noch geringerem Maße als die anderen Autoren konnte Rudloff auf Vorstudien zurückgreifen; in vielen Bereichen hat er mit seiner Arbeit völliges Neuland betreten. Nach einführenden Erläuterungen, in denen die Themenstellung und die Problematik von Schlüsselbegriffen wie "Randgruppe", "Subkultur" und "Integration" erläutert werden, befasst er sich zunächst mit der "Kriegsfolgengesellschaft", in der sich der Staat mit dem Problem konfrontiert sah, das die zahlreichen Kriegbeschädigten und Kriegshinterblieben, aber auch zahlreiche arbeitslose Jugendlichen, die mit dem Zusammenbruch vielfach jeden Halt verloren hatten, darstellten. In den ausgehenden 50er-Jahren rückten die Verlierer des Wirtschaftswunders als neue Problemgruppe nach: Behinderte, Obdachlose, Nichtsesshafte, mittellose Alte und auch schon manche Gastarbeiter. Gastarbeiter und Drogenabhängige schließlich machten in den 60er und 70er-Jahren einen beträchtlichen Teil der Randgruppen aus, die nun das Objekt sozial- und ordnungspolitischen staatlichen Handelns waren. Rudloff zeichnet zum einen den Wandel dieses Bevölkerungssegments nach, wobei er auch die Besonderheiten und Probleme der einzelnen Gruppen markiert, zum anderen die politischen Leitlinien, denen der Staat beim Umgang mit diesen Menschen folgte. Wie der Autor zeigt, genoss der Schutz der Bevölkerung bis in die 60er-Jahre absoluten Vorrang. Erst zu diesem Zeitpunkt rückte die Integration in das Blickfeld der Politik. Dies galt auch für die Behindertenpolitik, in der sich Bayern in der Folge stark engagierte. Dagegen entfaltete die bayerische Regeierung hinsichtlich der Integration von Gastarbeitern bis zum Ende des Untersuchungszeitraums kaum Aktivitäten.
Mit den Beiträgen dieser Bände und den genannten Monografien wird begonnen, eine Forschungslücke zu schließen, die jeder, der sich mit der Nachkriegsgeschichte Bayerns beschäftigt, als äußerst nachteilig und bedauerlich empfinden muss. Den Initiatoren und Mitarbeitern des Projekts "Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973", die diese Arbeit übernommen und so zügig und kompetent durchgeführt haben, gebührt deshalb höchste Anerkennung.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu die Rezension von Julia Angster in dieser Ausgabe [http://www.sehepunkte.de/2004/03/3782.html].
Dirk Götschmann