Erhard Hirsch: Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen - Strukturen - Wirkungen (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 18), Tübingen: Niemeyer 2003, XI + 621 S., ISBN 978-3-484-81018-1, EUR 138,00
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Die Historiografie zur deutschen Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kennt von jeher drei geografische Schwerpunkte: Preußen, die Habsburger Lande und Sachsen-Weimar. Andere Territorien des Reiches finden zumindest in den großen, vielbändigen Gesamtdarstellungen der Geschichte Deutschlands bestenfalls marginale Erwähnung. Das trifft auch für das Fürstentum Anhalt-Dessau zu, das zwar politisch kaum ins Gewicht fiel, kulturell aber zeitweise sozusagen eine Großmacht bildete. Es ist die lange Regierungszeit von Leopold Friedrich Franz (1758-1817), in der sein Land in vielerlei Hinsicht zum Vorbild der Epoche geworden ist: Erziehungswesen, Landwirtschaft, Gartenkunst, Theater, um nur einige Stichworte zu nennen. Dass man über diese Jahrzehnte Dessauer Geschichte wenigstens in der Spezialliteratur weithin ausführlich und verlässlich unterrichtet ist, ist in erster Linie das Verdienst von Erhard Hirsch, der seit den Sechzigerjahren unermüdlich an diesem Thema, das ihm zur Lebensaufgabe geworden ist, arbeitet. Davon zeugen mehr als einhundert Publikationen zum Dessauer Kulturkreis. Sein Opus magnum jedoch, seine Dissertation von 1969, konnte in ungekürzter Fassung erst jetzt, mehr als dreißig Jahre nach dem Entstehen, im Druck vorgelegt werden. Dieser Schritt ist, das sei ausdrücklich betont, zu begrüßen. Kein Forscher der Gegenwart besitzt auch nur annähernd einen solchen Überblick über die Quellen und die Literatur zum Dessauer Kulturkreis wie Hirsch. In dem vorliegenden umfangreichen Band wird man über alle Themen, die in diesem Zusammenhang von Relevanz sind, informiert: die Biografie des Fürsten, die landwirtschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, das Medizinalwesen, die Situation der christlichen Konfessionen und des Judentums, der Philanthropinismus in Dessau, die Allgemeine Buchhandlung der Gelehrten, das Musik- und Theaterleben, das "Gartenreich". Schon der Blick auf die fast 2000 Fußnoten belegt die souveräne Beherrschung der Materie durch den Autor. Selbstredend ist die nach 1969 erschienene Literatur in den Band eingearbeitet worden. Wer sich künftighin mit dem Dessau-Wörlitzer Kreis beschäftigen wird, muss zuerst zu Hirschs Darstellung greifen, hier findet er die beste Hinführung zum Thema.
Trotz seines Charakters als Standardwerk wirft der Band dennoch Fragen auf. Die Publikation eines wissenschaftlichen Textes, der schon vor Jahrzehnten verfasst worden ist, bietet in der Regel Probleme. Er kann, wird er nicht ganz und gar umgeschrieben, die Prägung durch seine Entstehungszeit nicht verleugnen und besitzt schon bei seinem Erscheinen eine gewisse historische Patina. Bei Hirschs Buch ist dies in einem signifikanten Maße der Fall. Als Hirsch seine Dissertation erarbeitete, war in der DDR ein anerkennendes Hinweisen auf historische Verdienste von Fürsten oder Dynastien nicht opportun. Diese galten als parasitär und als Unterdrücker des werktätigen Volkes, dessen Leistungen im Übrigen alle Phänomene des kulturellen Lebens zugeschrieben wurden. Diesem Bild hat Hirsch, indem er das Wirken eines Fürsten würdigte, widersprochen; dazu gehörte in jenen Jahren Mut. Das offizielle Geschichtsbild der DDR hat dann freilich, in den Siebziger- und verstärkt in den Achtzigerjahren, eine bemerkenswerte Wandlung erfahren: Die Fürsten und ihre Höfe wurden nun Bestandteil des beschworenen kulturellen Erbes; Bücher, Ausstellungen und Konferenzen widmeten sich diesem Teil der Vergangenheit, zu dem nun auch Fürst Franz und sein Dessauer Kulturreich zählten. Es mutet daher schon als seltsam an, wenn der Autor im Jahre 2003 gegen die "vorgeblichen Marxisten" meint kämpfen zu müssen, die dem Fürsten Franz "heute noch" mit Ablehnung begegneten (522 f.). Wirkt das Werk in dieser Ausrichtung anachronistisch, so ist dies in der abschließenden Bewertung der historischen Bedeutung der von Dessau-Wörlitz ausgegangenen Reformbewegung noch deutlicher der Fall. Hirsch bringt dem Fürsten Franz durchaus Sympathie entgegen, und über die immer wieder als progressiv apostrophierten Wirkungen von Dessau-Wörlitz wird in großer Breite berichtet. Dennoch ist das Fazit, das mehrfach an verschiedenen Punkten der Erzählung gezogen wird, negativ. Der "Nimbus" des Fürsten sei "nicht unmaßgeblich dafür verantwortlich, dass in Deutschland eine revolutionäre Entwicklung gegen das längst überlebte Feudalsystem verhindert wurde" (224). Das damalige Bürgertum habe "die historischen Aufgaben" der Zeit "noch gar nicht begriffen", nämlich den Sturz des Feudalismus und die Errichtung der Klassenherrschaft des Bürgertums. Grund dafür sei die "gesellschaftliche Unreife des deutschen Bürgertums" (36) im zurückgebliebenen Deutschland gewesen. Aus Schwäche und dann (nach 1789) aus Furcht vor der doch geschichtsnotwendigen Revolution habe es den Kompromiss mit dem Feudaladel gesucht. Der aufgeklärte Absolutismus des Dessauer Reformkreises habe die Illusion eines dritten Weges suggeriert, habe den Feudalstaat "noch einmal schmackhaft" gemacht (267). So hätten "'Vater Franz' und sein ganzes Dessauer Reformwerk" letztendlich eine "hemmende Rolle" gespielt. Was in diesen Ausführungen vertreten wird, das ist unverkennbar die ungebrochene marxistische Geschichtsscholastik, deren dogmatische Vorgaben die historischen Forschungen in der DDR bis zu ihrem Ende so sehr beeinträchtigt haben. Die heutige Diskussion um den aufgeklärten Absolutismus, die Spätaufklärung, die Sattelzeit, oder unter welche Überschrift man das ausgehende 18. Jahrhundert auch immer stellen will, ist glücklicherweise nicht mehr in jenes Prokrustesbett eingespannt, und Hirschs zusammenfassende Thesen können daher kaum einen aktuellen Beitrag zur Bewertung des Phänomens Dessau-Wörlitzer-Kulturkreis beisteuern.
Das Werk weist eine ganze Reihe handwerklicher Schwächen auf, die schon vor gut dreißig Jahren die Entscheidung erschwert haben mögen, es so dem Druck zu übergeben. So hätte die Lesbarkeit des Buches durch eine Straffung der Ausführungen nur gewinnen können. Weitschweifigkeiten und Wiederholungen oder additives Aneinanderreihen von Zitaten machen die Lektüre nicht selten zum ermüdenden Erlebnis (zum Beispiel mehrfache Zusammenfassungen des Wirkens des "Vaters Franz"). Bei der Diskussion mancher historischer Sachverhalte operiert der Autor erkennbar auf einem ihm kaum bekannten Terrain, gleichgültig ob man den Erkenntnisstand von 1969 oder 2003 berücksichtigt. Die Behauptung zum Beispiel, die wichtigste Ursache für die Entstehung der Armut liege in der seit dem Mittelalter andauernden Enteignung der Bauern durch "die grundbesitzende Klasse" (66), wird nur schwer mit Zustimmung rechnen können. Die Feststellung, dass im 18. Jahrhundert aufgrund "der mangelnden Kodifizierung des materiellen Rechts [...] der Untertan der Willkür der Richter ausgeliefert" gewesen sei (114), zeugt von einer ziemlichen Unkenntnis des Rechtslebens jener Zeit. Ärgerlich ist auch die ganz unangebrachte Verwendung mancher Begriffe oder Redewendungen, zum Beispiel "internationales Judentum", "Spießer" als Bezeichnung einer sozialen Schicht, "mittelalterliche Polizei" im 18. Jahrhundert (eine in doppelter Hinsicht falsche Bezeichnung) und so weiter. Was der Verfasser mit der mehrfach bemühten "deutschen Ideologie" (zum Beispiel 523) meint, bleibt sein Geheimnis.
Im Fazit lässt sich feststellen, dass hier, leider mit großer Verspätung, der Forschung ein wichtiges Kompendium zur Verfügung gestellt worden ist. Man kann jedoch dem Autor und den Bearbeitern des Textes den Einwand nicht ersparen, das Werk nicht eingreifend genug umgearbeitet zu haben. In der vorliegenden Form gleicht er, bei allen für die aktuelle Forschung wichtigen Informationen und Mitteilungen, einem erratischen Block, der an längst verschwundene Zeiten erinnert.
Detlef Döring