Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-1953. Mit einem Vorwort von Otfried Pustejovsky, München: Herbig Verlag 2003, 480 S., 44 Tabellen, Dokumente, Karten, ISBN 978-3-7766-2291-1, EUR 39,90
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Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-1953. Mit einem Vorwort von Otfried Pustejovsky, München: Herbig Verlag 2003
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"Haben die Tschechen den Mut, in den Spiegel ihrer eigenen Geschichte zu blicken?", ist auf dem Buchrücken als fette Überschrift zu lesen.[1] Da haben wir ihn wieder, den unbequemen Moralisierer aus dem Hinterhalt (sprich: aus der Slowakei), der sich im Laufe der Zeit gar sehr an seine "missionarische" Außenseiterrolle in den Grabenkämpfen mit seinen verbitterten Gegnern gewöhnt hat. Die Rede ist von Danubius, bürgerlich Professor Jan Mlynarik, dessen Name seit den "Thesen zur Aussiedlung der tschechoslowakischen Deutschen" Ende der Siebzigerjahre in den böhmischen Ländern viel Unmut und böses Gezänk ausgelöst hat. Vor wenigen Jahren legte der streitbare Gelehrte mit dem Generalvorwurf nach, die tschechische Wissenschaft drehe der Beschäftigung mit der Aussiedlung der Deutschen gezielt den Rücken zu, von Einzelausnahmen abgesehen.
Doch Jan Mlynarik hat seit November 1989 nicht nur polemisiert oder politisiert. Fast zehn Jahre recherchierte und schrieb er an einem Buch, das den Versuch unternimmt, anhand der Geschichte eines Gebiets von weniger als 20 Dörfern und einigen tausend Bewohnern "im ganz Kleinen das Große [zu] erahnen oder gar stellvertretend dar[zu]stellen" (so heißt es im Vorwort von Otfrid Pustejovsky, 8). Das "Große", damit ist das "Phänomen der Vertreibung von Menschen aus ihren Heimstätten und dem daraus folgenden Verleugnen des Rechts auf Heimat und Vaterland" gemeint (15) - Mlynariks Leitmotiv in unzähligen engagierten Stellungnahmen der letzten 25 Jahre.
Das "Kleine", dies ist der nördliche, nach dem Ersten Weltkrieg tschechoslowakisch, nach 1938 größtenteils österreichisch-reichsdeutsch und 1945 wiederum tschechoslowakisch (südböhmisch) gewordene Teil des jahrhundertelang niederösterreichischen Weitrauer Gebiets (Vitorazsko) mit seiner traditionell national indifferenten Bevölkerung, für deren Selbstwahrnehmung die Attribute "deutsch" oder "tschechisch" lange irrelevant gewesen sind. Obwohl die Mehrheit der alteingesessenen Weitraer 1938 die Rückkehr zu "Österreich" willkommen hieß, bedeutete dieser Schritt für sie innerlich noch nicht automatisch das Bekenntnis zur deutschen Nationalität, auch wenn sie sich amtlich alsbald wieder - wie vor dem Ersten Weltkrieg - als Deutsche registrieren lassen sollten. Nur wenige Familien im Gebiet behielten zwischen 1938 und 1945 die tschechische Nationalität bei. 4500 bis 5000 zum Deutschtum "übergelaufene" Personen wurden am 24. Mai 1945 durch eine tschechische Partisaneneinheit nach Österreich vertrieben. Am selben Tag wurden Dutzende Weitraer von spontan eingesetzten "Volksgerichten" zum Tode verurteilt, und 22 von ihnen umgehend hingerichtet. Die tschechischstämmigen, österreichisch fühlenden Vertriebenen kehrten jedoch zum großen Teil bis zum Frühling des folgenden Jahres wieder halblegal zurück. Besitzstreitigkeiten setzten ein, vor allem mit zugezogenen Neusiedlern, die sich damit nicht abfinden mochten. 1952/53 wurde die Mehrheit der Weitraer, formal im Rahmen der "Grenzsicherung", nochmals vertrieben und diesmal in mehrere Bezirke im Landesinnern verstreut. Das Bemerkenswerte dabei: Die Pläne dazu stammen bereits aus den Jahren 1945-1948, einschließlich genauer Namenslisten der zu Vertreibenden. Diese Kontinuität der Vertreibungsabsicht - so die Hauptthese Mlynariks - ist durch Dokumente auf Gemeinde-, Bezirks- und höchster Staatsebene nachweisbar.
Jan Mlynarik hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass der Strudel der Vertreibungs-, ja Liquidierungswut in den Jahren der "Dritten Tschechoslowakischen Republik" und darüber hinaus nicht nur Deutsche, sondern auch "Tschechen" erfasste (freilich im Weitraer Fall "Tschechen", bei denen die nationale Etikettierung eigentlich unsinnig ist). In einer stellenweise peinlich genauen kriminalistisch-rekonstruktiven Schilderung der Vorgänge stellt er zwar langatmig, jedoch überzeugend die Gedanken- und Planungskontinuität zwischen 1945 und 1953 dar, wofür er etwa die Hälfte der relevanten Archivakten hinzuzieht.
Es ist sein großes Verdienst, gerade einer deutschen Leserschaft zu verdeutlichen, dass Vertreibung und Heimatverlust kein exklusiv (sudeten-)deutsches Schicksal waren - weder im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts, noch in der Tschechoslowakei nach 1945. Doch dieses Buch hätte bei gleichem oder höherem Aussagewert wesentlich kürzer ausfallen können: Rund 400 Seiten widmet Mlynarik seiner Lokalgeschichte mit universellem Geltungsanspruch. Die zahlreichen lamentierenden beziehungsweise scharf anklagenden Einschübe auf der Meta-Ebene, jeweils durch Ausrufezeichen gekrönt (so zum Beispiel über die Notwendigkeit der Rückgabe des von den Sudetendeutschen konfiszierten Besitzes nach 1989 oder andere Versäumnisse in der politisch-gesellschaftlichen Verarbeitung der Nachkriegsereignisse) stören den Textfluss erheblich und geben ohnehin nur Mlynariks seit vielen Jahren bekanntes Credo wieder. Abschweifungen auf außenstehende Ereignisse, so auf die Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen im Landskroner Gebiet 1945 (120-128), in denen der Autor eigentlich nur ein anderes Werk referiert [2], machen den Text zusätzlich inkohärent. Mehr Disziplin beim Schildern einerseits und theoretischen Ordnen andererseits hätte sich bei der grundsätzlich chronologisch aufgerollten Darstellung sicherlich ausbezahlt.
Vor allem verpasst Mlynarik aber eines: Den Hinweis auf ähnlich gelagerte Fälle von Minoritätengruppen in Mitteleuropa oder zumindest der Nachkriegstschechoslowakei, die im Zeitraum von 1945 bis 1949 ebenso entweder ins Landesinnere zwangsumgesiedelt wurden oder deren "Zerstreuung" zumindest ernsthaft drohte. Den "ansteckenden" Flächenbrand-Charakter von Vertreibungen hätte er viel überzeugender dokumentieren können, wenn er das Los der Weitraer Bevölkerung mit dem Schicksal anderer Gruppen in Beziehung gesetzt hätte: etwa mit dem der kollektiv vertriebenen südmährischen Kroaten, der mindestens 55000 in die böhmischen Länder deportierten südslowakischen Ungarn, der rund 30000 in den Jahren 1947/48 zum Zweck der Assimilation ins Landesinnere "überführten" Sudetendeutschen sowie der Hultschiner und Teschener Schlonzaken, denen seitens der Staatsbürokratie jahrelang Ähnliches drohte. Bei einigen dieser Gruppen handelte es sich wie bei den Weitraern um autochthone Entitäten an der infrastrukturarmen Peripherie, die ethnisch in keine Schublade passen.
Durch diesen Zuschnitt bleibt die Aussagekraft der Mikrostudie weitgehend auf einige böhmische Grenzdörfer beschränkt. Den Forschungsstand zur Vertreibung als europäischem Nachkriegsphänomen bringt sie dagegen kaum voran. Trotz aller Kritik: Was soll man eigentlich davon halten, dass Mlynariks Manuskript zunächst nur auf Deutsch erschienen ist? Ist sein Stand in Tschechien denn schon so problematisch, dass er dort nur noch im Eigenverlag veröffentlichen kann? Dies wäre zu bedauern.
Anmerkungen:
[1] Diese Rezension erscheint auch in: Bohemia 44 (2003), Bd. 2.
[2] Emil Trojan: Tak přísahali... Partyzánský odboj v Orlických horách v letech 1939-1945 [So schwörten sie... Der Partisanen-Widerstand im Adlergebirge in den Jahren 1939-1945], Ústí nad Orlicí 2002.
Adrian von Arburg