Alessandro Nova / Anna Schreurs (Hgg.): Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, 413 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-412-11002-4, EUR 64,00
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"Das Hauptziel der Frankfurter kunsthistorischen Tagung über Benvenuto Cellini (2.-5. November 2000) war es, die Verschmelzung sowie die Spannung zwischen der historischen Gestalt des Künstlers im Zusammenhang mit seinem Werk und dem fiktiven 'Cellini' der Autobiographie zu hinterfragen (...)", so die Herausgeber des hier anzuzeigenden Tagungsbandes in ihrem Vorwort. Man wird konstatieren können, dass dieses Ziel eindrucksvoll erreicht wurde. Insgesamt 19 Beiträge ausgewiesener Experten widmen sich Cellinis Leben, Werk und Rezeption aus verschiedenen Blickrichtungen. Gegliedert wurden Tagung und Buch nach einer Einführung des kürzlich verstorbenen John Shearman ("Art or politics in the Piazza?") in fünf Sektionen: 1. Cellinis Wappen und Entwürfe für die Akademie, 2. Cellini als Zeichner und seine Technik, 3. Die Paragone-Debatte, 4. Die Rezeption der Antike in der Zeit Cellinis, 5. Benvenuto Cellini zwischen Biografie und Autobiografie, und mit dem Aufsatz von Klaus Herding über "Cellini als Wunschbild des Künstlers seit Goethe" abgeschlossen. Die Beiträge bieten ein durchgängig hohes Niveau. Da sie im Vorwort der Herausgeber in knapper und präziser Form zusammengefasst sind und eine notwendigerweise knappe Inhaltsangabe an dieser Stelle den Leser lediglich ermüden würde, sei auf das Vorwort verwiesen und im folgenden das Augenmerk auf den Beitrag von Alexander Perrig, "Cellini als Zeichner oder: Die Wiederkehr seiner in Paris hinterlassenen Blätter" gerichtet - das Glanzlicht eines, dies sei nochmals betont, durch die Bank gelungenen Sammelbandes.
Bei seiner Abreise aus Paris im Sommer 1545 hatte Cellini nach fast fünfjähriger intensiver Tätigkeit in Frankreich einen Großteil seines Besitzes, darunter nicht zuletzt seine Zeichnungen zurückgelassen. Von dieser Hinterlassenschaft scheint sich nicht mehr erhalten zu haben als gerade einmal zwei Blätter. Doch der Schein trügt, wie Perrig mit Hilfe detektivischen Spürsinns nachweist. Ausgangspunkt seiner Argumentation sind eben die beiden seit längerer Zeit eindeutig als Cellini-Zeichnungen akzeptierten Blätter, deren stilistische Charakteristika in höchst auffälliger Weise mit denjenigen einer Vielzahl von bisher Michelangelo zugeschriebenen Zeichnungen übereinstimmen. Ausgehend von der Beobachtung, dass in französischen Sammlungsinventaren und Versteigerungskatalogen des 17. und 18. Jahrhunderts "für italienische Cinquecentozeichnungen, aus denen so etwas wie Geist von Michelangelo zu sprechen schien, anscheinend nur ein Karteikasten zur Verfügung [stand] und der war mit 'Michelangelo' etikettiert" (131) entwickelt Perrig zunächst die Hypothese, dass zur Wiederauffindung der in Paris verbliebenen Cellini-Blätter eine gründliche Durchsicht des michelangelesken Zeichnungs-Corpus von Nutzen sein könnte.
Mit unübersehbarer Freude an der Polemik werden dann einzelne Zeichnungen "Michelangelos" unter die Lupe genommen. Der Befund ist erstaunlich: die zweifellos in ihren Motiven auf Michelangelo rekurrierenden Skizzen weisen ein erhebliches "Defizit an zeichnerischer Routine beziehungsweise künstlerischer Reife (unterentwickeltes Augenmaß, mangelhafte anatomische Kenntnisse)" (137) auf. Nicht weniger bemerkenswert wirkt das irritierende Nebeneinander von Körperdetails, unverbunden und sich teilweise sogar überlappend. Zweifellos: "Kein Künstler, der ein eigenes Werk einstudiert, kann so einfältig sein, sich selber der Zusammenschau des Zusammengehörigen zu berauben" (138), was denn auch bei den gesicherten Michelangelo-Zeichnungen in keinem einzigen Fall vorkommt.
Des Rätsels Lösung erschließt sich, wenn man die bewussten Zeichnungen in Beziehung zu den Arbeiten setzt, mit denen sich Cellini in Frankreich beschäftigte. Zu den anspruchsvollsten Aufgaben gehörte die Anfertigung von zwölf Silberstatuen, sechs Götter und sechs Göttinnen darstellend, mit der ihn Franz I. beauftragt hatte. Bei seinen Entwürfen bediente sich nun Cellini einiger Vorbilder aus dem Werk Michelangelos, um aus ihnen in oftmals das Komische streifender Unbeholfenheit und unübersehbar beschränktem Formenrepertoire neue Figuren zu "klonen": "Anscheinend legte der Zeichner Wert darauf, das Zitat [...] zu verfremden. [...] Dabei ersetzte er die ausgerenkte Schulter durch eine gepolsterte. [...] Die linke Schulter, die in der Pause nicht weiß, was die rechte tut, wurde tiefer gesetzt, die rechte etwas verbreitert und der anatomischen Realität entsprechend profiliert. Der vormalige Pfropfarm wurde unterhalb des Stummels wieder amputiert und in stärker gebeugter Form an die linke Schulter verpflanzt. [...] Schließlich wurde das Spielbein [...] dergestalt verkürzt, dass der Eindruck entsteht, es eile dem Standbein irgendwie hinterher. Das Produkt der Klonung aber ist jetzt - aus der Haartracht zu schließen - Apollo. Anstelle einer Viola hält er man weiß nicht was" (142).
Nicht weniger bemerkenswert sind die Befunde, wenn man die Technik untersucht, in der die Blätter ausgeführt wurden. "Genauso konservativ wie im Motivischen verhielt sich Cellini als Zeichner" (160). Im Gegensatz zu Michelangelo, der sich spätestens ab 1508 der "einfacher und effizienter zu handhabenden Kreide bediente, tat Cellini so, als müsste er ständig und selbst beim Kopieren einer michelangelesken Kartonfigur die Schärfe und Präzision seiner umständlichen Federkunst unter Beweis stellen"(160). Mit einem Wort: es spricht nicht nur einiges, es spricht schlechterdings alles dafür, eine ganz Reihe von bisher - und nur mit gedanklichen Konstruktionen von erheblicher Unwahrscheinlichkeit - Michelangelo zugeschriebenen Zeichnungen als das zu akzeptieren, was sie augenscheinlich sind: Jene Skizzen, die Cellini in der Zeit seines Frankreichsaufenthaltes angefertigt und später in Paris zurückgelassen hat.
Perrigs Aufsatz betrifft nicht nur einen zentralen Punkt im Werk Cellinis und eröffnet der Forschung damit neue Perspektiven im Hinblick auf nicht mehr und nicht weniger als die Wiedergewinnung seines zeichnerischen Œuvres. Er zeichnet sich darüber hinaus durch gedankliche Brillanz, eine herausragende sprachliche Form und nicht zuletzt erfrischende Polemik in der Auseinandersetzung mit den Gralshütern des "michelangelesken" Zeichnungs-Corpus aus. Auf diese Weise gelingt es Perrig, das Handwerk des Kunsthistorikers, hochgetrieben wie es ist, durchaus unauffällig zu machen und alle Schwere des Wissensstoffes und Mühe der erzählerischen Gestaltung verschwinden und verschmelzen zu lassen zu einer intellektuell federnden Schlichtheit, die seinen Essay zu einer ebenso interessanten wie unterhaltsamen Lektüre macht. Gäbe es mehr Arbeiten dieser Art, die allgegenwärtige Diskussion um die "Krise der Geisteswissenschaften" würde sich bald erübrigen.
Arne Karsten