Christiane Schwarz: Studien zur Stammbuchpraxis der Frühen Neuzeit. Gestaltung und Nutzung des Album amicorum am Beispiel eines Hofbeamten und Dichters, eines Politikers und eines Goldschmieds (etwa 1550 bis 1650) (= Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung; Bd. 66), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 379 S., ISBN 978-3-631-39720-6, EUR 50,10
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Seit der bis heute nachwirkenden Entdeckung des Stammbuchs als genealogische Quelle durch die antiquarisch-historische Forschung des 19. Jahrhunderts scheint den "Alba amicorum" im Bewusstsein mehrerer deutschsprachiger Historikergenerationen der Makel mangelnder Seriosität als Untersuchungsgegenstand anzuhaften. Abgesehen von einigen über die Jahrzehnte hinweg erschienenen kleineren Aufsätzen haben erst Veranstaltungen und Publikationen im Umfeld der Wolfenbütteler Forschungen zu Anfang der 1980er-Jahre für eine Neubelebung der Forschung gesorgt. Als individuenbezogene Quellen erschließen sich Stammbücher nur schwer einer generellen Analyse, weshalb naturgemäß Untersuchungen über einzelne Exemplare überwiegen.
Drei Stammbücher mit Einträgen hauptsächlich aus den zwei Jahrhundertvierteln vor beziehungsweise nach 1600 untersucht Christiane Schwarz in der Druckfassung ihrer Münchener Dissertation von 1999. Die unpublizierten Handschriften gehörten Personen, die aus dem nordosteuropäischen Raum (Herzogtum Preußen, Livland und das Baltikum allgemein) stammten oder dorthin berufliche Verbindungen hatten und die wenigstens zeitweise mehr oder weniger enge Beziehungen zum Hof Rudolfs II. in Prag unterhielten.
Die Arbeit informiert zunächst über den Stand der historischen und philologischen Stammbuchforschung, analysiert anschließend im Hauptteil ihre Quellen und schließt mit einer allgemeinen Darstellung der Stammbuchführung als Phänomen frühneuzeitlicher Kulturgeschichte. Ergänzend finden sich im Anhang tabellarische Übersichten zu den einzelnen Einträgen.
Etwa ein Drittel des Hauptteils besteht aus der buchstabengetreuen Wiedergabe ausgewählter Einträge, in der Mehrzahl metrische lateinische Texte, die unübersetzt und meistens unkommentiert bleiben. Die Anordnung dieser Einträge erfolgt nach gewissen Interpretationslinien. Leider vermittelt die Darstellung dadurch keinen Einblick in Aufbau und Struktur der Stammbücher, wozu eine ergänzende Handschriftenbeschreibung wünschenswert gewesen wäre.
Während die beiden ersten Besitzer einem gemeinsamen sozialen Umfeld, dem humanistisch gebildeten gehobenen Beamtentum, entstammten oder verpflichtet waren, ist eine intellektuelle Differenz zum dritten Stammbuchhalter, dem Kunsthandwerker eines Luxusgewerbes, spürbar. In der Gegenüberstellung der drei Stammbücher zeigt sich, dass die an den Studienorten des als neulateinischer Dichter bekannten Beamten Daniel Hermann erfolgten Einträge stärkere literarische Ambitionen haben, während im Stammbuch des niederadeligen Truchsessen und Bergrats Rudolfs II., Nikolaus von Vicken (Schwarz verwendet für ihn den modernen Begriff "Politiker"), beziehungsweise generell bei den in Wien und Prag im Umfeld des Hofes erfolgten Einträgen Wappengaben und kurze Eintragungen mit Wortdevisen und Sentenzen häufiger vertreten sind. Dem Zeitgeschmack entsprechend finden sich auch immer wieder allegorische und emblematische Interpretationen der Wappenbilder der Besitzer. Anders als im Stammbuch Hermanns, dessen Einträge um den humanistischen amicitia-Begriff kreisen, stellen die Inskribenten im Stammbuch Vickens die Konfliktfelder Geburts- beziehungsweise Tugendadel ausführlich in den Mittelpunkt ihrer Beiträge. Neben einer ganz offensichtlichen Bemühung um reicheren bildlichen Schmuck zeichnet die Einträge im Stammbuch des Breslauer Goldschmieds Hans Strich dagegen unter anderem ein größerer Anteil an deutschsprachigen Einträgen aus.
Dass sich vielfach das Interesse mehr an den literarischen Gehalt der Einträge als an den Autografcharakter knüpfte, zeigt die Tatsache, dass auf Einzelblättern erhaltene Widmungen vom Besitzer später in Reinschrift in das Stammbuch neu eingetragen wurden. In anderen Fällen wiederum suchte man deutlich das berühmte Autograf, an dessen Stelle auch ein Kupferstichporträt bedeutender Personen die realiter nicht zu erhaltende Widmung vertrat.
In der Regel werden im deskriptiven Teil zwar den Einträgern der Stammbücher, nicht aber den Autoren der zitierten Texte biografische Angaben beigegeben. Zu den gewiss nicht unbedeutenden Persönlichkeiten Theodor Beza, Johannes Kepler, Tycho de Brahe oder Michael Praetorius etwa werden nur in Anmerkungen spärliche Verweise angeführt. Dagegen tendiert die Verfasserin dazu, die Wichtigkeit der Stammbuchbesitzer zu überschätzen: so wird Nikolaus von Vicken als kaiserlicher Truchsess, also Inhaber eines niedrigen, unter Rudolf II. dutzendfach besetzten Hofamtes sowie als Bergrat kaum "in wichtigen Beraterfunktionen" (25) gewirkt haben. Ebenso wird man es wohl weniger der Bescheidenheit Daniel Hermanns, der zeitweise an einer der Hofkanzleien Rudolfs II. und dem Kriegszahlmeisteramt beschäftigt war, zuschreiben, dass er "hinsichtlich der Herkunft der Einträger nicht wählerisch" gewesen sei. Auch überzeugt nicht, dass man "die Präsenz politisch wichtiger Personen" deshalb vermisst, weil Daniel Hermann sich "offenkundig nicht über die Prominenz dieser Personen" definiert habe, sondern "vielmehr [...] auf positive Bezugnahmen auf die eigene Person" bedacht gewesen sei (75). Viel eher dürfte dem subalternen Beamten der Zugang zu einflussreicheren Kreisen bei Hof in der Regel gefehlt haben.
Gewicht legt Schwarz auf den Nachweis der zitierten Stellen antiker und zeitgenössischer Schriftsteller, wobei im Unterschied zu denen klassischer Autoren mehrere Zitate aus neulateinischer Literatur unaufgelöst bleiben. Eine Reihe an Fehlern und Inkonsequenzen hätte durch eine gründlichere Korrektur vermieden werden können, wie die häufig falsche Schreibung der Namen auch bekannterer Adeliger, die durch eine Konsultation der einschlägigen genealogischen Nachschlagewerke zu vermeiden gewesen wäre. Bei "Otto Cesarz Rzymski" handelt es sich nicht um den Namen eines Beiträgers, sondern um die Überschrift (Otto, römischer Kaiser) der folgenden (nicht abgedruckten) polnischen Zeilen (136 f.). Zwei vermeintlich italienische Verse über die Unbeständigkeit des Glücks und die tröstliche Funktion der Hoffnung sind in Wahrheit französisch (148). Die Abkürzung "M.S." steht nicht für "manuscriptum", sondern für "Memoriae Sacrum" (185). Auch darf man bezweifeln, ob ein Breslauer Gastwirt, der an den Beginn seines zwischen 1622 und 1656 geführten Stammbuchs ein koloriertes Wappen Kaiser Rudolfs II. setzt, wirklich "eine entweder tatsächlich vorhandene enge Verbundenheit zum kaiserlichen Hof oder aber den Wunsch nach einer solchen zum Ausdruck" bringt (175). Unseriös sind die anhand älterer Literatur ohne regionalen Bezugsrahmen angestellten Preis- und Lohnvergleiche im Zusammenhang mit den Kosten der Stammbucheinträge (199).
Hinter der Entscheidung, ein Stammbuch führen zu wollen, ortet Schwarz zu Recht ein zugrunde liegendes "ausgeprägtes Repräsentations- und Reputationsbedürfnis [...], das sogar Züge von Selbststilisierung annehmen kann" (263). In der Analyse der Stammbücher berücksichtigt die Autorin die aktuellen Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Forschungsfelder Memoria, Repräsentation von Gruppen und (wenn auch nur implizit) pragmatische Schriftlichkeit. Schwarz bemüht sich um eine differenzierte Bewertung von Stammbüchern im Gesamtkanon frühneuzeitlicher memorativer Handschriften und unterscheidet zwischen so genannten "freien", das heißt anfangs idealiter aus leeren Seiten bestehenden Stammbüchern gegenüber den zur Benützung als "Alba amicorum" vorgesehenen durchschossenen Emblem- oder Wappenbüchern. Bedauerlicherweise nimmt Schwarz zur umstrittenen Etymologie des Begriffes "Stammbuch" keine Stellung (18). Dabei scheint es doch wichtig, neben den tatsächlich in den reformatorisch-humanistischen Kreis verweisenden "Alba amicorum" auf die "Stammenbücher" des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Adels hinzuweisen, die mit ihrer meist in chronikalisch-genealogischer Grundstruktur vermittelten Familiengeschichte wenigstens an der Wiege der Bezeichnung jener Handschriften standen, die traditionell mit dem unreflektierten Forschungsbegriff "Stammbuch" belegt werden. Wie offen schließlich auch noch Stammbücher des 17. Jahrhunderts als "Ego-Dokumente" im weiteren Sinn für die Aufnahme familialer Notizen wie "Geburtenbücher", Reisenotizen und Ähnliches waren, demonstriert die Verfasserin selbst im letzten Teil der Arbeit. Im Versuch einer Abgrenzung der literarischen Gattung "Album amicorum" von anderen Textsorten werden die verwandten Genres Tagebuch, Autobiografie und Brief mit einbezogen.
Wichtig ist der Hinweis auf den Charakter der Stammbücher als vom Besitzer in ganz unterschiedlicher Weise (Vorreden, eingeschobene Kommentare, Gruppierung von mehreren Einträgen auf einem Blatt, Neubindungen) gestaltete, also keineswegs spontan zu Stande gekommene Gedächtniswerke, sowie auf die Benutzung zahlreicher Sentenzensammlungen und der reichen Florilegienliteratur des 16. Jahrhunderts, die nicht nur die einfacheren Beiträge prägt. Im Sinne humanistischer Forderungen nach reflektierter eklektizistischer Lektüre stellt sich das Stammbuch selbst als Florileg und Exzerpt des gelehrten Besitzers dar.
Trotz der angeführten Mängel ist der Beitrag zur Stammbuchforschung durch die an sich gediegene Präsentation neuen Quellenmaterials, die Fülle biografischer und prosopografischer Angaben sowie die gelungene synthetische Darstellung eines bedeutenden Teilbereichs frühneuzeitlicher (handschriftlicher) Buchkultur zu begrüßen.
Andreas Zajic