Barbara Dienst: Der Kosmos des Peter Flötner. Eine Bildwelt der Renaissance in Deutschland (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 90), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 623 S., 288 Abb., ISBN 978-3-422-06330-3
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Die altdeutsche Kunst hat in den letzten Jahren eine erfreuliche Renaissance in der Kunstgeschichtsforschung erlebt. Dank neuer Methoden und Fragestellungen, die vor allem von amerikanischen Wissenschaftlern eingebracht wurden [1], ist es gelungen, frischen Wind in ein Forschungsgebiet zu bringen, das seit den nationalistischen Vereinnahmungen im letzten Jahrhundert nicht immer die gebührende Beachtung fand. Auch die Dissertation von Barbara Dienst über den Nürnberger Bildschnitzer Peter Flötner (tätig 1522-1546) ist diesem neuen Forschungsfeld zuzurechnen. Sie rückt mit Flötner einen Nürnberger Kleinmeister der immer noch sträflich vernachlässigten nachdürerischen Renaissance ins Zentrum, der, einem weit verbreiteten Vorurteil zu Folge, dass in dieser Phase nur wenig qualitätvolle und am ehesten dekorative Kunst entstanden sei, bisher vor allem für seine ornamentalen Arbeiten bekannt war. Entgegen dieser Einschätzung lenkt die Autorin nun den Blick auf die von Flötner dargestellten Sujets, die sie erstmals einer eingehenden inhaltlichen Analyse unterzieht, mit dem Ziel, Einblicke in den persönlichen "Kosmos" des Künstlers, sein "geistige(s) Universum" und seine "Bild- und Ideenwelt" zu erhalten (10).
Im ersten, biografischen Teil des Buches dekonstruiert sie die Mythen, die sich auf Grund nur spärlicher Informationen um die Person Flötners ranken. Sie weist alle Überlegungen zu einer Schweizer Herkunft, einer Verpflichtung als Landsknecht oder einer Italienreise als Spekulationen zurück, sodass nur wenig bleibt: ein "Peter Flattner, Schnitzer" tritt zuerst 1523 in den Nürnberger Quellen in Erscheinung, ist möglicherweise mit einem 1522 als Bürger aufgenommenen Bildschnitzer aus Ansbach identisch und starb 1546 in Nürnberg. Ebenso kritisch sichtet sie sein etwa 500 Werke umfassendes Œuvre und konzentriert sich, ohne eine stilkritische Neubewertung vorzunehmen, allein auf die durch Signatur oder zeitgenössische Quellen als gesichert geltenden Arbeiten, 60 bis 70 an der Zahl. Obwohl Flötner sich selbst als Bildschnitzer bezeichnete und Klöppel und Balleisen als seine persönlichen Insignien verwendete, ist sein Œuvre äußerst vielgestaltig: es umfasst Entwürfe für Goldschmiedeobjekte und reformatorische Flugblätter sowie Plaketten und Medaillen bis hin zu Skulpturen und der Mitarbeit an Großprojekten wie dem Nürnberger Hirsvogelsaal oder dem Krakauer Silberaltar.
Der zweite, umfangreichere Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der inhaltlichen Deutung einzelner Werke und gliedert sich in vier Blöcke: erotische Sujets, religiöse und profane Historien, reformatorische Bildpropaganda und schließlich Flötners Stellung zwischen Spätgotik und Antikenrezeption. Gesondert wird dann noch einmal sein Verhältnis zur deutschen und italienischen Renaissance und seine Beteiligung an den erwähnten Großunternehmen untersucht. Flötners sinnlich-erotische Darstellungen, mit denen Dienst die Erkundung seiner Bildwelt beginnt, zählen in der Tat zu den interessantesten und eigenständigsten Werken im Œuvre dieses Künstlers. Beim Figurenalphabet, den Venusstücken, einem Entwurf für einen Grottenbrunnen oder dem sogenannten Holzschuherpokal bediente sich Flötner traditioneller Motive, deren erotisch-sexuellen Konnotationen er verstärkte und ironisierte. Im Vergleich zu den oft eindeutig pornografischen Arbeiten anderer Nürnberger Kleinmeister wie etwa Hans Sebald Beham hebt die Autorin bei Flötner zu Recht seinen ironisch-witzigen Umgang mit dem körperlichen Begehren hervor. Einen moralisierenden Unterton kann sie jedoch nicht erkennen, eine Einschätzung, der man nicht recht folgen mag, da zum Beispiel die auf dem Holzschuherpokal gezeigten sexuellen Praktiken keineswegs nur den Eindruck vermitteln, dass hier "den physischen Vergnügungen des Menschen [...] Wert zuerkannt" (154) wird, sondern die Beteiligten vielmehr den Folgen ihres ausschweifenden Verhaltens hilflos ausgeliefert zu sein scheinen.
Barbara Dienst erkennt in Flötner vor allem den "innovativen Bildautor", der im Sinne einer "typisch neuzeitlichen Individuation" gängige Bildmuster hinter sich lässt und künstlerisches "Neuland" entdeckt (262). So auch bei seinen Illustrationen profaner und religiöser Historien. Dabei beachtet sie nicht, dass es wie etwa für seine Illustrationen zu Texten von Hans Sachs entweder kaum ikonographische Vorlagen gab oder wie im Falle der Bibelillustrationen aus der Sicht eines Künstlers oder Auftraggebers, der der Reformation zugewandt war, ein künstlerischer Neuanfang geradezu notwendig war. Da Dienst an einer stilistischen Einordnung von Flötners Darstellungen nicht interessiert ist, bemerkt sie auch nicht, dass er sich bei seinen Zeichnungen für das Alte Testament an den Stil der gedruckten Bibel-Illustrationen von Georg Lemberger anlehnt. Stattdessen attestiert sie Flötners Zeichnungen, die den typisch lebhaften Stil der "Donauschule" aufweisen, ein besonderes humoristisches Element.
Mit Zeichnungen, Druckgrafiken und Plaketten beteiligte sich Flötner auch an der protestantischen Bildpropaganda. Dabei konnte er, wie der satirische Triumphbogen für den papsttreuen Ingolstädter Theologen Johannes Eck zeigt, die Polemik intellektuell anspruchsvoll führen oder aber im Fall der Puttenzüge, die das Abendmahl in beiderlei Gestalt triumphal feiern, die neue Lehre sehr volkstümlich vermitteln. Anstatt gerade diese Phase des Religionskonfliktes, in der die streitenden Parteien heftig mit Bildern fochten, als lukratives Umfeld für einen Künstler zu betrachten, fragt die Autorin, "ob Flötner als jemand zu entlarven ist, der sich mit diesen Inhalten identifizierte oder gar dafür stritt" (306), und kommt zu dem Schluss, dass er sicherlich den reformatorischen Ideen gegenüber aufgeschlossen gewesen sei, sich aber durch die ironische Distanz in seinen Darstellungen eine geistige Autonomie bewahrt habe. Wie Flötner seine eigene Situation und die zahlreicher anderer Kleinmeister selbst sah, brachte er in einem allegorischen Flugblatt zum Ausdruck: Der verarmte Kunsthandwerker als Sinnbild einer insgesamt in die Krise geratenen Gesellschaft. Aber dieses Urteil und die Frage nach den Ursachen kommt ambivalent daher, indem der Künstler zwar als Opfer, aber auch als nicht ganz unschuldig an dieser Situation gezeigt wird.
Es ist das Verdienst dieser Studie, durch die inhaltliche Analyse neue Dimensionen im Werk Flötners aufgedeckt zu haben, wodurch unser Bild von der Kunstproduktion nach Dürer deutlich profitiert. Als ein wichtiges Ergebnis ist festzuhalten, dass Flötner sich offensichtlich sehr bewusst in einem Feld zwischen populärer und humanistisch-intellektueller Kultur positionierte. Im Sinne von Jeffrey C. Smith, der in seiner großen Untersuchung der nachreformatorischen Skulptur in Deutschland gezeigt hat, wie flexibel die Künstler sich auf die veränderte Auftragslage nach der Reformation einstellten und eine Spezialisierung im Hinblick auf eine bestimmte Klientel entwickelten [2], versteht auch Barbara Dienst Flötners Balanceakt als Reaktion auf den Paradigmenwechsel in Nürnberg. Beim Versuch, seine künstlerische Leistung zwischen den Polen Individualität und Zeitphänomen einzuordnen, hebt die Autorin jedoch immer wieder auf die Person des Künstlers ab, wenn sie etwa resümiert: "Flötner kann [...] als überdurchschnittlich intelligente und außergewöhnlich phantasiebegabte Persönlichkeit gewürdigt werden, als 'Tüftler' und 'Spieler', geistreicher Lustmensch". (488). Ihre Fokussierung auf den persönlichen "Kosmos" des Künstlers und seine Weltanschauung erweist sich angesichts der von ihr selbst herausgestellten Tatsache, dass kaum etwas über die Person Flötners bekannt ist, als problematisch für die Gesamtbewertung.
Anmerkungen:
[1] Michael Baxandall: The Limewood Sculptors of Renaissance Germany, New Haven 1980; Christopher S. Wood: Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, London 1993; Joseph Leo Koerner: The Moment of Self-Portraiture in German Renaissance Art, Chicago 1996; Pia F. Cuneo: Art and Politics in Early Modern Germany: Jörg Breu the Elder and the Fashioning of Political Identity c. 1475 - 1536, Leiden 1998; Andrew Morrall: Jörg Breu the Elder: Art, Culture and Belief in Reformation Augsburg, Histories of Vision, Aldershot 2001.
[2] J. C. Smith: German Sculpture of the Late Renaissance, c. 1520-1580. Art in an Age of Uncertainty, Princeton/NJ 1994; die entsprechenden Kapitel bei D. Landau, P. Parshall: The Renaissance Print 1470-1550, New Haven/London 1994.
Elke Anna Werner