Günther Berger / Franziska Sick (Hgg.): Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Régime (= Cahiers lendemains; Bd. 3), Tübingen: Stauffenburg Verlag 2002, 261 S., ISBN 978-3-86057-692-2, EUR 45,00
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Der im Kontext des 2. Kongresses der Frankoromanisten "FRANCOPHONIE - Kulturelle Vielfalt. Unité - Pluralité - Diversité" (2000) entstandene Sammelband umfasst elf Beiträge, die das junge und anschlussfähige Paradigma des Kulturtransfers sowohl reflektieren als auch für den Bereich der Romanistik erschließen wollen. Dem interdisziplinären Anspruch der Kulturtransferforschung folgend, stammen die Arbeiten aus verschiedenen Fachbereichen wie der Geschichte, den Literatur-, Sprach- und Landeswissenschaften. Den zeitlichen Rahmen des Bandes bildet das Jahrhundert der Aufklärung. Ausgehend von der europaweiten kulturellen Vorbildfunktion Frankreichs stellen die Beiträger jeweils diejenigen 'Transfers' in den Vordergrund, bei denen Frankreich als Ausgangskultur fungiert.
Im Zentrum des Interesses steht die sachliche und personelle Materialität des Austausches, seine Medialität in Form von Institutionen, Büchern oder Einzelpersonen, die im Zuge des 18. Jahrhunderts ihren Weg in den deutschen 'Kulturraum' finden und vor Ort auf vielseitige Art und Weise assimiliert werden. Die Produktivität der Vorgänge liegt dementsprechend jeweils im Bereich der Aufnahmekultur, die sich das Fremde zu Eigen macht, indem sie es im Sinne ihrer internen Logik reinterpretiert und refunktionalisiert. Die aus den zentralen Arbeiten Michel Espagnes und Michel Werners resultierende Valorisierung der Aufnahmekultur ist Gegenstand von Joseph Kurts einleitendem Aufsatz "Das wissenschaftliche Paradigma des Kulturtransfers". Über den orientierungsstiftenden Abriss zur Kulturtransferforschung hinaus unternimmt Kurt den Versuch, Letztere mit Pierre Bourdieus Feldtheorie zu koppeln, die er als ein attraktiveres, weil offeneres theoretisches Instrumentarium zur Erfassung der historischen Formen und Interessen des Ideenimports auffasst.
Im Anschluss an die methodische Standortbestimmung erkunden elf Beiträge ein breites Spektrum an Transferprozessen. Den Ausgangspunkt bilden unter anderem die 'großen' Korrespondenzen, wie zwischen d'Alembert und Friedrich II. von Preußen (Brunhilde Wehinger), Konversationsbücher (Martina Drescher / Robert Dion) oder die Erzählungen Denis Diderots (Kathrin Ackermann). Neben den prominenten Instanzen des Kulturtransfers finden jedoch auch scheinbar marginale Dokumente, wie das 1747 anonym verfasste "Projet pour l'établissement d'un Bureau Général de la République des Lettres" (Gisela Schlüter) Beachtung. Als besonders fruchtbar erweisen sich dabei diejenigen Arbeiten, denen es gelingt, die potenzielle Vielfalt und Unberechenbarkeit von Aufnahmeprozessen anhand ihres Untersuchungsgegenstandes aufzuzeigen. Ein Beispiel hierfür liefert der von Gudrun Gersmann verfasste Beitrag: "Von Paris nach London und Kleve: Exilierte Schriftsteller und europäische Untergrundnetzwerke im 18. Jahrhundert".
Anhand von Lebenswegen einzelner Exilliteraten unternimmt Gersmann den Versuch einer "Rekonstruktion der Art und Weise, wie die Betroffenen mit den existenziellen Erfahrungen des Exils 'umgingen' und was der Aufenthalt im einem fremden Land ohne Einkünfte und Netzwerke und einer ihnen häufig fremden Sprache für sie bedeutete"(60). Zwar stellt die Flucht vor der rigiden Zensurmaschinerie im vorrevolutionären Frankreich den womöglich zentralen Aspekt für ihre Wahrnehmung im Ausland dar. Der Blick auf die individuellen Verfolgungsbiografien zeigt jedoch, dass der Status als Verfasser verbotener Schriften vor Ort ganz unterschiedlich interpretiert wird. So gerät das Exil des prominenten Abbé Raynal zu einem europäischen Triumphzug. Als Vehikel des Kulturtransfers transportiert er das Bild der 'verfolgten Tugend'. Die nachrichtentechnische Verarbeitung seines Schicksals zielt auf die öffentliche Diskreditierung der politischen Verhältnisse in Frankreich.
Dass es sich in dem oben geschilderten Fall jedoch um eine Ausnahme handelt, belegt Gersmann im Anschluss anhand der Person des Abbé Dulaurens, eines ebenso glück- wie bedeutungslosen Vertreters der Gelehrtenrepublik, dessen Exil nach Stationen in Amsterdam, Kleve und Lüttich in die Buchhandelskapitale Frankfurt mündet, wo er sich zusammen mit weiteren Exilanten als Auftragschreiber verdingt. Vor Ort hat er nicht nur die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen seines profitorientierten Verlegers zu akzeptieren. Auch die kaiserliche Bücherkommission wird schließlich auf seine Person aufmerksam. Somit ereilt Dulaurens im Ausland nunmehr das Schicksal, vor dem er aus Paris geflohen war. Im Gegensatz zu Raynal transportiert Dulaurens den so genannten "low life of literature". Während Ersterer sich öffentlicher Ehrerbietungen erfreut, beendet Letzterer sein gescheitertes Leben im Mainzer Stadtgefängnis.
Aus der exemplarischen Gegenüberstellung der beiden Lebenswege lassen sich nunmehr Rückschlüsse auf die Heterogenität der Gruppe der Exilliteraten und deren Aufnahme im europäischen Ausland ziehen. Die Verweise auf die Biografien von Louis de Fontanes, Jacques-Pierre Brissot, Charles Théveneau und anderen deuten an, wie vielfältig die ideologisch motivierten Transferprozesse sind, die sich an einem Personenkreis vollziehen, der durch die gemeinsame Hoffnung auf Besserung der politischen Verhältnisse im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts zusammengehalten wird. In diesem Sinne ließe sich der Beitrag sicherlich als Grundlage für eine zukünftige systematische Untersuchung der Schriftstellergeschichte im Ancien Régime heranziehen.
Eine vergleichbare Einladung zur vertiefenden Ausweitung der Thematik liegt der Mehrheit der locker gefügten Beiträge des Bandes zu Grunde, der so seinem Anspruch gerecht wird, auf das Potenzial der Kulturtransferforschung für die Frankoromanistik hinzuweisen. Im Hinblick auf den experimentellen Charakter des Buches sowie auf die wie immer notwendige Umfangsbeschränkung der Arbeiten eignet es sich in erster Linie als eine Einführung in einen zweifelsohne komplexen Forschungsbereich. Im Zusammenhang mit der nationalkulturellen Grenzüberschreitung von Transferprozessen wäre es unter Umständen jedoch eine Bereicherung gewesen, die Perspektive auch umzukehren und die Vorbildstellung Frankreichs auf Transferprozesse aus dem Deutschen Raum hin zu untersuchen, etwa am Beispiel von Parisreisenden Literaten et cetera. Auch hier gäbe es sicherlich viel 'Fremdes im Eigenen' zu entdecken. Das theoretische Rüstzeug hierfür ist auf der Grundlage der Arbeiten Espagnes und Werners allemal vorhanden.
Lars Schneider