Katharina Ernst: Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 154), Stuttgart: W. Kohlhammer 2003, XXVI + 258 S., ISBN 978-3-17-018103-8, EUR 22,50
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Peter Claus Hartmann (Hg.): Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Annette Reese, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Holger Zaunstöck / Markus Meumann (Hgg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen: Niemeyer 2003
Die Untersuchung von Katharina Ernst, 2001/02 als Dissertation an der Philosophisch-Historischen Fakultät in Heidelberg entstanden, verbindet Medizin- und Körpergeschichte mit Religionsgeschichte. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Art und Weise, wie Menschen Krankheiten wahrnehmen und damit umgehen, nicht anthropologisch konstant, sondern kulturell geprägt ist. Bei der Frage nach den maßgeblichen Faktoren dieser Prägung kommt in der Frühen Neuzeit der Religion besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund widmet sich die Studie von Katharina Ernst der "medikalen Kultur" [1] den württembergischen Pietisten im 18. Jahrhundert. Untersuchungsgegenstand ist die Führungsschicht des württembergischen Pietismus, ein überschaubarer Personenkreis, für den umfangreiches und weitgehend gut erschlossenes Quellenmaterial vorliegt (Tagebücher, Briefwechsel und Autobiografien).
Nach zwei einleitenden Kapiteln, in denen Forschungssituation, Methoden und Quellen dargelegt werden (1-42) und ein Überblick über den württembergischen Pietismus gegeben wird (43-60), widmet sich Ernst zunächst der Frage, wie "Krankheit in normativen pietistischen Schriften", und zwar bei Philipp Jakob Spener, Samuel Urlsperger und Magnus Friedrich Roos, thematisiert wird (61-84). Drei Aspekte stellt sie dabei heraus: Übereinstimmend wird in den pietistischen Abhandlungen erstens betont, dass die Ursache von Krankheit die menschliche Sünde ist; selbst wenn eine natürliche Ursache für den Ausbruch einer Krankheit gegeben ist, so ist es doch die Sünde, die den menschlichen Körper geschwächt und für die Krankheit disponiert hat. Das richtige Verhalten in der Krankheit kann daher zweitens nur sein, die Sünden zu erkennen und vor Gott Buße zu tun. Drittens soll Heilung von Krankheit als ein Geschenk verstanden werden, das auf Buße und Gebet hin von Gott gewährt wird; Ärzte hinzuzuziehen und Medikamente zu nutzen, um den Heilungsprozess zu befördern, ist durchaus gestattet, sofern dies der "göttlichen Ordnung" entspricht (82), jedoch wird betont, dass es letztlich Gott ist, dem die Heilung zu danken ist.
Die Auffassung, dass Krankheit durch Sünde verursacht wird, ist, wie Ernst zu Recht feststellt, allerdings keine pietistische Besonderheit, sondern findet sich auch in der lutherischen Orthodoxie. [2] Als spezifisch pietistisch wertet Ernst jedoch die grundlegende Unterscheidung zwischen "Weltkindern", gemeint sind damit jene Menschen, die (noch) nicht zum Pietismus bekehrt sind, und "Gotteskindern", das heißt den Pietisten selbst, und daran anschließend die Unterscheidung zwischen Krankheit als Sündenstrafe bei den "Weltkindern" und Krankheit als väterliche Züchtigung, aber auch "Heiligung" bei den "Gotteskindern" (84). Oder anders ausgedrückt: "Gott schickt dem Sünder eine Krankheit, entweder um ein Weltkind zur Bekehrung zu veranlassen, oder um ein Gotteskind noch weiter von der Welt abzuziehen" (84).
Die zentrale Frage ist nun, wie sich diese normativen Vorstellungen von Krankheit in den individuellen Krankheitserfahrungen, von denen die Selbstzeugnisse berichten, widerspiegeln. Im Hauptteil der Untersuchung gehen die Kapitel III bis VII ("Ursachen von Krankheit", "Verhalten in Krankheit", "Heilung von Krankheit", "Krankheit als Lektion", "das selige Sterben") dieser Frage systematisch nach; ausgewertet werden dazu vor allem die Korrespondenz Johann Albrecht Bengels und seiner Familie, das Tagebuch Philipp David Burks, die so genannte "Zirkularkorrespondenz" (der schriftliche Erfahrungsaustausch von zwölf pietistischen Pfarrern), das Tagebuch Philipp Matthäus Hahns und das Tagebuch Israel Hartmanns. Zwei weitere Kapitel sind dem pietistischen Naturverständnis gewidmet sowie dem "spätbekehrten" Publizisten Christian Friedrich Daniel Schubart, in dessen Autobiografie sehr deutlich erkennbar wird, welch prägende Kraft der Pietismus auf seine Krankheitswahrnehmung ausübte.
Als Ergebnis lässt sich festhalten: Krankheit wurde nach Ausweis der Selbstzeugnisse sowohl religiös, als Abkehr von Gott, als auch humoralpathologisch, als Ungleichgewicht der Körpersäfte, begründet. So oder so bedeutete Krankheit für die Pietisten "väterliche Züchtigung" durch Gott, auf die man mit Ergebung in Gottes Willen reagieren sollte. Trotzdem nahmen sie die üblichen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten gerne in Anspruch. Geistig-seelischen Gewinn konnte der Einzelne allerdings nur dann aus seiner Krankheit ziehen, wenn er sie als "Schule" betrachtete und seine "Lektionen" lernte, nämlich Geduld, Askese, Abkehr vom weltlichen Leben. Wem dies gelang, der konnte "einen Fortschritt auf dem Weg der Heiligung verbuchen" (247). In die gleiche Richtung weisen die Vorstellungen von einem "seligen Sterben", das am Rezitieren von Gebeten und frommen Sprüchen und an einer inneren Gefasstheit erkennbar sein sollte.
Ernst bietet eine solide Untersuchung, die jedoch in mancher Hinsicht hinter ihrer spannenden Fragestellung zurückbleibt. Der gleichförmige Aufbau der einzelnen Kapitel ist nicht sonderlich anregend, und die inhaltliche Auseinandersetzung mit den pietistischen Selbstzeugnissen birgt keine großen Überraschungen. Das trostlos-pessimistische, um die Sündhaftigkeit des Menschen zentrierte Menschen- und Weltbild der frühneuzeitlichen Pietisten scheint mit der sich anbahnenden Moderne nichts gemeinsam zu haben. So betont Ernst denn auch mehrfach, von einer "Entzauberung der Welt" im späten 17. und 18. Jahrhundert könne bei den württembergischen Pietisten keine Rede sein; vielmehr sei für sie der Bezug auf Gott, seine Präsenz und seine unmittelbare Wirksamkeit im menschlichen Leben (und Sterben) selbstverständlich gewesen (251, 255). Gerade hier zeigt sich jedoch, wie aufschlussreich es sein könnte, die Quellen deutlicher "gegen den Strich" zu lesen. Denn selbst in Ernsts zurückhaltender Analyse scheint durch, dass die württembergischen Pietisten keineswegs so gottergeben gewesen waren, wie es der fromme Jargon der Selbstzeugnisse glauben machen möchte. Vielmehr konstatiert Ernst eine Entwicklung "von größerer Unsicherheit und größerem Sündenbewusstsein" zu Beginn des 18. Jahrhunderts hin zu "größerer Selbstzufriedenheit und Konventionalität" in den späteren Generationen (249). Zu fragen wäre, wie weit dies auf eine wachsende Autonomie, ein größeres Selbstbewusstsein in religiösen Dingen verweist und damit auf die für die "entzauberte" Moderne charakteristische Emanzipation des Menschen von den vorgegebenen religiösen und geistigen Autoritäten - ein Aspekt, der von Ernst allerdings nicht weiterverfolgt wird.
Einen weiteren neuralgischen Punkt der Arbeit spricht Ernst in der Einleitung selbst an: "Wünschenswert wäre es, eine Kontrollgruppe von orthodoxen württembergischen Lutheranern hinzuzunehmen, um sicherzustellen, dass die Untersuchungsergebnisse tatsächlich auf den Faktor 'Pietismus' zurückzuführen sind" (4f.). Mangels vergleichbarer Selbstzeugnisse aus dem orthodoxen Lager unterbleibt dieser Vergleich - das heißt aber auch, dass die Frage nach dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen "Pietismus" und einer speziellen Krankheitswahrnehmung letztlich nicht so sicher zu beantworten ist, wie es die Arbeit intendiert.
Trotz dieser Einschränkungen hat Ernst die allgemeineren (ebenfalls in der Einleitung, 6f., formulierten) Ziele ihrer Untersuchung durchaus erreicht: Ihre Studie ist ein Beitrag zu einer Kulturgeschichte, welche die Deutungen und Sinnstiftungen von Individuen mit überindividuellen Strukturen verknüpft und kulturell verortet; sie ist ein Beitrag zu einer Religionsgeschichte, die die Verknüpfung von Religion mit anderen zentralen Lebensbereichen in den Blick nimmt; und nicht zuletzt ist sie ein Beitrag zu einer Medizingeschichte, die die Kranken selbst in den Mittelpunkt stellt.
Anmerkungen:
[1] Der Begriff "medikale Kultur" zur Umschreibung dieses kulturellen Kontextes schließt ausdrücklich an entsprechende Untersuchungen von Lachmund und Stollberg zum 19. Jahrhundert an. Jens Lachmund / Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiografien, Opladen 1995; dies.: Zur medikalen Kultur des Bildungsbürgertums um 1800, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987), 163-184.
[2] Dazu Sabine Holtz: Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie, in: Hartmut Lehmann / Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, 135-157.
Anne Conrad