Jörg Jarnut / Matthias Wemhoff (Hgg.): Erinnerungskultur im Bestattungsritual. Archäologisch-Historisches Forum. Unter Mitarbeit von Alexandra Nusser (= MittelalterStudien; Bd. 3), München: Wilhelm Fink 2003, 246 S., ISBN 978-3-7705-3861-4, EUR 32,90
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Schon wieder Erinnerung und Ritual im Mittelalter? Ist dazu nicht längst alles Wesentliche gesagt? Nein, ist es nicht! Denn mittlerweile haben die Forschungen zur Erinnerungs- wie zur Ritualkultur des Mittelalters die Grenzen zu zahlreichen Nachbarwissenschaften überwunden. Und dort werden sie nicht nur rezipiert, sondern auch weiterentwickelt und auf andere Quellen transponiert.
Was herauskommt, wenn vornehmlich Archäologen die aktuellen Konzepte von Erinnerung und Ritual an mittelalterliche Grabfunde herantragen, hat eine Tagung des Archäologisch-Historischen Forums im April 2001 in Paderborn ausgelotet. Während das Forum sonst ein annähernd paritätisches Verhältnis von Historikern und Archäologen anstrebt, stehen hier acht archäologischen drei historische Beiträge gegenüber. Die forschungsgeschichtlichen Untersuchungen von Bonnie Effros (75-96), wie im Zeitalter des Nationalismus frühmittelalterliche Objekte rezipiert und zu Projektionsflächen des Zeitgeistes wurden, mag man beiden Gruppen zurechnen.
In die Grundzüge der historischen Forschung zur mittelalterlichen Erinnerungskultur führt Dieter Geuenich (27-40) ein. Da sein Beitrag auf seiner Antrittsvorlesung von 1989 basiert, bleiben jüngere Ansätze am Rande, so vor allem wie memoria Identität von sozialen Gruppen stiftete. Ihm ist der mittelalterliche Mensch noch vor allem gläubiger Christ, "dem die Erlangung des ewigen Seelenheils wie nichts anderes am Herzen lag" (27).
Frederik Paxton (175-188) ist hier aktueller. Er gewinnt selbst dem vielfach untersuchten Totengedenken in Cluny neue Perspektiven ab, wenn er eine dreifache Erinnerungskultur im Sterbe- und Bestattungsritual nachweist: Nicht nur erinnert sich die Gemeinschaft an den verstorbenen Bruder, sondern der Moribunde und die Gemeinschaft erinnern sich an ihre gemeinsame Sterblichkeit, wie sie schließlich auch Gott an die wechselseitigen Treuepflichten gemahnen. Doch Paxton möchte hierin kein Modell des mittelalterlichen Sterbens sehen: Fast ausschließlich seien unsere Quellen schriftliche, und fast ausschließlich entstammten sie kirchlichem Kontext. Sie dokumentierten vor allem den ideologischen Druck der Kirche, den Tod als religiös-christlichen Übergang von einer Gemeinschaft der lebenden Christen in eine Gemeinschaft der selig Dahingegangenen zu betrachten. Selbstverständlich seien Bestattungen unter Laien weiterhin ein sozialer Wettkampf geblieben, aber bis ins Spätmittelalter bleibe dieser Aspekt (für die Nachwelt) stumm (186).
Diesem Verhältnis von kirchlicher und weltlicher Sphäre nähert sich Wilfried Hartmann (127-143) anhand des frühmittelalterlichen Bestattungsrechts vor allem im Kircheninnenraum. Er zeigt, dass die Kontinuitäten aus der Antike weitaus geringer sind als bislang angenommen. Denn während des Frühmittelalters fand das Thema kaum Interesse, weder von kirchlicher noch von weltlicher Seite. Es ist erst wieder die Karolingerzeit, die sich in auffallender Breite rigoros gegen die Kircheninnenbestattung ausspricht.
Der Wunsch Hartmanns, die Archäologie möge die Wirksamkeit dieser Regeln prüfen (143), wird von drei Beiträgen eingelöst. Zunächst stellt Christoph Grünewald (9-26) die Grabsitten Westfalens zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert dar und führt zugleich in die klassischen Interpretationen der Frühmittelalter-Archäologie ein. Vieles auf diesen Gräberfeldern - so die als Jenseitsausstattung interpretierten Beigaben, die vereinzelten Brandgräber oder die Grabhügel - gilt als unchristliches Brauchtum, gegen das sich die Verordnungen Karls des Großen gewandt hätten.
Hier schließt der Beitrag Matthias Wemhoffs (97-105) über die kirchlichen Bestattungsverhältnisse in Westfalen im 9. Jahrhundert an: Tatsächlich scheinen die Vorschriften der karolingischen Reformsynoden beachtet worden zu sein, denn an bedeutenden Plätzen (Paderborn, Herford, Herzfeld, Werden) fehlen eben Kircheninnenbestattungen. Die Oberschicht repräsentierte ihre Stellung nun etwa durch ein Grab außen am Chor oder inmitten der Klausur. Doch schon in Enger, wo Karls Widersacher Widukind begraben lag, fanden sich mehrere karolingische Gräber im Kircheninneren; ganz zu schweigen von den Gräberfeldern, die entgegen dem Willen Karls oft noch bis um die Mitte des 9. Jahrhunderts belegt wurden. So fragt sich der Leser, ob die kaiserlichen Anordnungen nur in den Zentren der karolingischen Macht durchsetzbar waren, während sie schon ein wenig abseits noch ein halbes Jahrhundert lang nicht zu interessieren brauchten?
Anders in Südwestdeutschland, wohin Barbara Scholkmann (189-218) den Fokus richtet. Hier existierten bereits im 7./8. Jahrhundert zahlreiche Kirchen. Sie waren dicht mit Gräbern gefüllt. Wenn nun um 800 das Begräbnis in Kirchen flächendeckend abbricht, dürften dahinter tatsächlich die karolingischen Reformbemühungen stecken. Doch diese eine, rechtliche Interpretation ist nur eine Facette. Scholkmann geht es vielmehr um eine umfassende interdisziplinäre Analyse mittelalterlicher Gräber im Kontext des Kirchenbaus (besonders 191). So reflektiert schon die Entstehung des Kirchengrabs im Frühmittelalter einen Wandel der religiösen Bedürfnisse, die nun ein Grab ad sanctos erstrebten. Dem Wunsch nach sozialer Separierung und Repräsentation einer entstehenden Adelsschicht räumt sie nur nachgeordnete Bedeutung ein (211). Zudem weist sie auf den fundamentalen Mentalitätswandel hin, der es erst ermöglicht habe, die Toten - ganz anders als in der Antike - in die Siedlungen zu holen und mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen.
Die Fülle der Interpretationsmöglichkeiten ist auch das Anliegen von Heinrich Härke (107-125). Ihm ist das Grab ein materieller Text, der aktiv und bewusst von Menschen gestaltet wurde. Sie legten die Bedeutungen, Ansprüche und Sichtweisen hinein. Es ist nicht passiver Spiegel des Lebens, sondern Grab und Bestattungsritual gestalteten den gesellschaftlichen Diskurs. Härke konzentriert sich hier auf die Beigabenausstattung, für deren Deutung er gleichermaßen Archäologie, Ethnologie / Volkskunde, Religionswissenschaft und Psychologie heranzieht. Heraus kommen elf Versuche von Jenseitsausstattung über Statussymbol bis hin zum Vergraben zwecks Vergessen. Teils überlappen die Deutungen, und Härke sieht die Beigabenausstattung in der Regel als ein Komposit verschiedener Motive. Auch für ihn sind verschiedene Erinnerungsebenen verwoben: eine in die Vergangenheit gerichtete Erinnerung an den Toten, die durch die Beigaben bei der Bestattung geweckt wird, und eine in die Zukunft gerichtete Erinnerung an die Bestattung selber, die durch die Feier erst geschaffen wird.
Drei weitere, methodisch nahe stehende Autoren führen hierzu Fallbeispiele vor. Zunächst Guy Halsall (61-74), der eigene Arbeiten zur Text-Metapher frühmittelalterlicher Gräber vertieft: Die Kombination aller erreichbaren Kontext-Informationen erlaubt es, die Grammatik dieser symbolischen Kommunikation und ihre Veränderungen zu erfassen. Halsall demonstriert dies am frühmittelalterlichen Nordgallien. Aus den umfangreich und sehr differenziert ausgestatteten Gräbern des 6. Jahrhunderts folgert er soziale Unsicherheit: Der Bestattungsprunk deute darauf hin, dass durch den jeweiligen Todesfall das Sozialgefüge in besonderer Weise erschüttert worden sei. Dementsprechend weisen die stark normierten Grabausstattungen nach 600 auf eine weitgehend stabilisierte Gesellschaftsstruktur hin. Zugleich breitet sich im 7. Jahrhundert die obertägige, schriftliche Grabkennzeichnung aus. Damit ändert sich die zeitliche Perspektive, denn während die rituelle Inszenierung bei der Anlage des Grabes im Wesentlichen auf die Gegenwart bezogen ist, sind Texte als fertige Produkte von vornherein in die Zukunft gerichtet. Daher zeigen die Grabinschriften, dass sich die Familien ihrer Identität in der Gegenwart sicher waren und ihren sozialen Status in die Zukunft verlängern wollten.
Ähnlich Falko Daim (41-60). Auch er sieht einzelne reiche Grabausstattungen als Zeichen für unsichere Zeiten, während die recht gleichförmige Beigabensitte frühmittelalterlicher Gräberfelder "ein deutliches Zeichen ruhiger Zeiten ohne große Flügelkämpfe und interne Auseinandersetzungen" sei (43). Dann gibt Daim einen knappen Überblick über die awarische Gräberarchäologie und versucht, Veränderungen in der Begräbnissitte vor einem - freilich nur sehr lückenhaft bekannten - historischen Hintergrund zu beleuchten. Er schlägt vor, das Einsetzen von Prunkgräbern um die Mitte des 7. Jahrhunderts sowie den annähernd gleichzeitigen Umbruch in Tracht und Teilen der materiellen Kultur mit dem gescheiterten Vorstoß der Awaren auf Byzanz eine Generation zuvor zu verbinden, nach dem sich nun die awarische Oberschicht zu konsolidieren versucht habe (59).
Anne Pedersens (145-174) betrachtet die Grabsitten des 10. Jahrhunderts in Dänemark. Es war eine Zeit, in der die alten Sozialstrukturen durch den Kontakt mit dem ottonischen Reich und den Einfluss des Christentums unter großen Druck gerieten. Gerade jetzt entstanden überaus reich ausgestattete und mit teilweise monumentalen Grabhügeln überwölbte Gräber (Jelling und andere). Pedersen schlägt ähnlich wie Daim vor, sie "können Ausdruck der Unsicherheit alter Familien dem Neuen gegenüber sein - eine panikartige Manifestation des Status Quo" (172). Doch hier fallen reiche Beigabenausstattung und markante obertägige Grabkennzeichnung zusammen und stellen das Zeit-Konzept Halsalls infrage: Die gewaltigen Grabhügel sind zunächst weniger in die Zukunft gerichtete Memorien, als dass sie die Landschaft aktuell besetzen. Zugleich verdeutlicht etwa der Bericht über die Bestattung König Hakes in der Ynglinga-Saga Snorri Sturlusons, wie zunächst oral tradierte nordische Sagas vermeintlich ephemere Begräbnisse und die königliche Ausstattung der Toten über Jahrhunderte in die Zukunft überliefern konnten (166).
Ohne rechten Bezug zum Thema des Sammelbandes bleibt der Beitrag von Irene Mittermeier (219-235), die sich gegen die unkritische Übernahme überkommener Interpretationsmuster aus der Volkskunde wendet.
Alles in allem hält der Band zahlreiche Anregungen und manche Überraschung bereit. Das gilt zunächst einmal für die Anordnung der Beiträge, deren Reihenfolge sich in keiner Weise erschließt - auch nicht durch ein Resumée seitens der Herausgeber. Leider haben sie auf ein solches verzichtet. Ist ihnen der Band hierfür zu heterogen? Tatsächlich pendeln die Beiträge zwischen sehr konventionellen und höchst progressiven Ansätzen: Sie reichen von antiquarischer Beschreibung bis zu gänzlich theoretischer Erörterung. Beide Pole haben ihre Berechtigung, fruchtbringend werden sie aber vor allem durch jene Beiträge, die auf Basis einer theoretischen Reflexion konkretes Material und seine historische Interpretation vorführen. Konnte man noch vor wenigen Jahren die theoretischen Beiträge der angelsächsisch-skandinavischen Forschung, die antiquarischen der deutschen Forschung zuweisen, wird nun eine gegenseitige Befruchtung sichtbar. Das zeigt nicht nur die Kombination beider Traditionen in einer gemeinsamen Tagung, sondern auch das Bemühen einiger Autoren, theoretische Konzepte an konkreten Quellen zu testen. Die Ergebnisse sind vielversprechend und haben das Potenzial, auch an die Schriftquellen neue Fragen zur Erinnerungskultur und Permanenz / Veränderbarkeit von Ritualen heranzutragen.
Thomas Meier