Viviane Rosen-Prest: L'historiographie des Huguenots en Prusse au temps des Lumières. Entre mémoire, histoire et légende: Jean Pierre Erman et Pierre Chrétien Frédéric Reclam, Mémoires pour servir à l'histoire des Réfugiés françois dans les États du Roi (17821799) (= Vie des Huguenots; 23), Paris: Editions Honoré Champion 2002, 831 S., ISBN 978-2-7453-0587-9, EUR 105,00
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Gegenstand dieser Straßburger thèse ist das (nach Ancillon) erste wichtige Geschichtswerk zum Berliner Hugenotten-Réfuge, die 1782-1799 in neun Bänden um das Jahrhundertjubiläum der Revokation des Edikts von Nantes herum erschienenen "Mémoires pour servir à l'histoire des Réfugiés françois dans les États du Roi". Rosen-Prest, von Haus aus Germanistin, schreibt nicht nur ein Buch über ein anderes, sondern die "Mémoires" fungieren als Sonde, um die Geschichte und die Gedächtniskonstitution der preußischen, vor allem aber der Berliner Hugenotten insgesamt auszuloten. Dieses Bild der hugenottisch-preußisch-Berliner "civilisation" Ende des 18. Jahrhunderts entsteht in vier großen Abschnitten:
(I) Entstehungsumfeld, Autorbiografien: Die nach der Revokation des Edikts von Nantes (1685) durch Ludwig XIV. vom "Großen" Kurfürsten Friedrich Wilhelm in Preußen aufgenommenen Hugenotten bildeten Kolonien, die mit etlichen Privilegien und hierauf basierenden Institutionen ausgestattet waren (französisches Oberkonsistorium, partikular anwendbares französisches Recht, karitative und Bildungs-Einrichtungen et cetera). 1690 stellten die Hugenotten noch ein Viertel der Berliner Bevölkerung, 1780 waren es aufgrund des rapiden Stadtwachstums bei weitgehend stagnierender Größe von 5-6000 Personen noch knapp fünf Prozent. Jean-Pierre Erman (1735-1814) war in Berlin geboren und prägte über ein halbes Jahrhundert die Kolonie und das Berliner Milieu als Pfarrer, Konsistoriums- und Akademiemitglied. Pierre Chrétien Frédéric Reclam (1741-1789), geboren in Magdeburg, Schüler Ermans, war wohl komplett zweisprachig und wurde ein sehr erfolgreicher Prediger in Berlin. Ermans und Reclams "Mémoires"-Projekt, angeregt durch Vorarbeiten eines Juristen der Kolonie, entstand als eigenständiges Geschichtswerk im Geist der Aufklärung. Es wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als die kulturell-sprachliche Assimilation, insbesondere innerhalb der sozial niedrigeren Schichten der Kolonie, schon so weit fortgeschritten war, dass das Werk auf Französisch sich notwendigerweise fast nur noch an die adlig-bürgerliche Elite der Kolonie richtete.
(II) Prägung durch die Aufklärung: Erman und Reclam sind nach Rosen-Prest eher vor dem Hintergrund der deutschen Methodendiskussion zur Historiografie (Chladenius, Schlözer) zu begreifen als in einer französischen Tradition stehend. In einem aufwändigen Briefwechsel und sozusagen in einer "oral history" sammeln sie Informationen von den preußischen Kolonie-Familien. Sie distanzieren sich von einer Ereignisgeschichte und bemühen sich um eine Art "Universalgeschichte". Neben der Erfassung der verschiedenen immigrierten Personen und Gruppen kommt es ihnen auf den strukturellen Effekt an, weshalb sie vergleichend arbeiten: Dem Zustand Brandenburgs vor der Ankunft der Hugenotten wird immer wieder abwägend die Situation danach gegenübergestellt. Erman und Reclam heben die technisch-kulturelle Überlegenheit Frankreichs unter Ludwig XIV. gegenüber Brandenburg-Preußen hervor. Während sie das Frankreich ihrer Gegenwart nur aus Büchern kannten - Erman verließ Preußen nie -, wird an das Frankreich des Sonnenkönigs als "Modell" Europas erinnert. Umso eher gerät die Revokation des Edikts von Nantes durch den sonst so verherrlichten König zu einem traumatischen Erinnerungsort, der das Thema der Toleranz als ein Leitfaden des Werkes heraufzwingt. Das Konfessionsverständnis der hugenottischen Pfarrer ist im höchsten Maße "aufgeklärt" und dogmatisch indifferent. Überreste einer klaren Prädestinationskosmologie sind nirgends erkennbar, der Blick ist nur auf die menschlichen Verdienste gerichtet (228-231). Die hugenottisch-bürgerliche Religion ist also gleichsam mit jener "Toleranz" identisch, die als ideologisch erinnerter "brandenburgisch-preußischer" Wert (Hagiografie der Hohenzollern) dem unvernünftigen Handeln Ludwigs gegenübergestellt wird. Sie ist das letzte inhaltlich-weltanschauliche Merkmal, das für die Gruppenidentität, die sich im Schreiben ausdrückt und erinnert, noch infrage kommt. Das Dilemma, dass sich in dieser allumfassenden Toleranz die Distinktionsmöglichkeit der Gruppe gerade verliert, scheint Erman und Reclam nicht bewusst gewesen zu sein; es ist der blinde Fleck ihrer Gedächtnisarbeit, von dem doch gerade auch der Impuls für dieselbe ausgeht.
(III) Die Konstruktion des Mythos (?): Die "Mémoires" verfolgen das Ziel, den großen Beitrag der immigrierten Hugenotten zum Aufschwung Brandenburg-Preußens zu belegen, dem aufklärerischen Fortschrittsparadigma folgend und den eigenen, an der Dynastie orientierten Patriotismus belegend. Trotz des offensichtlichen Skopos, die eigene privilegierte Kolonie so zu legitimieren, ist bemerkenswert, mit welcher Akribie und welchem Forscherehrgeiz Erman und Reclam versuchen, eine "echte Wirtschaftsgeschichte" Brandenburg-Preußens im Vergleich vorher / nachher zu schreiben. Indem sie, nach grob merkantilistischer Heuristik, zeigen wollen, dass die Hugenotten durch den Aufbau von Woll- und Tuchmanufakturen sowie durch etliche andere vorher nicht präsente Handwerke das Land autarker und exportstärker machten, sehen sie sich zugleich vor einem Quellenproblem: Frühere Geschichtsschreibung dieser Art hatte kaum existiert, und es geht ihnen daher flächendeckend-repräsentatives Material ab. Einmal mehr zeigt sich an manchen Aussagen Ermans und Reclams, dass die Kapitalismus / Protestantismus-These Webers auf einem uralten Sockel protestantischer Selbstdeutung aufruht. Die Kupferstiche, die der berühmte, ins Berliner Kolonieleben stark eingebundene Daniel Chodowiecki zur Illustration der "Mémoires" beisteuerte, und in denen die Beziehung der Réfugiés zu ihrem König als die von Bürgern zu einem väterlichen primus inter pares in gemeinsamer Verfolgung "bürgerlicher Werte" verherrlicht wird, unterstützen diese Geschichtsinterpretation.
(IV) Druck, Diffusion und Rezeption: Zwar sind keine Subskriptionslisten vorhanden, aber durch Parallelpublikationen kann Rosen-Prest doch gerade in der Bildungsoberschicht der Kolonie den unmittelbaren und engsten Adressatenkreis der Bücher ausmachen: Da eben diese selbst in stetem Briefwechsel mit Erman zum Quellenfundus des Werkes beigetragen hatten, ist der ganze Produktions- und Distributionsprozess tatsächlich als ein großes Stück Erinnerungsarbeit und Vergewisserung der Gruppenidentität im Zusammenhang der gerade schwindenden institutionell gesicherten Unterscheidbarkeit hugenottischen von nicht-hugenottischen preußischen Bürgern zu verstehen. 65 erhaltene Exemplare aller oder einzelner Bände kann Rosen-Prest in den Bibliotheken der Welt nachweisen. Schließlich zeigt sie, wie das Buch lange Zeit das Referenzwerk für die folgende Hugenottenhistoriografie blieb. Bis 1850 herrschte die vergleichsweise nuancierte französisch-deutsche Kulturaustauschheuristik für die Rolle der Hugenotten vor, während dann im entstehenden deutsch-nationalistischen Paradigma die Hugenotten paradoxerweise als "beste Deutsche", als Agenten der Germanisierung der "Ostkolonien" Preußens interpretiert wurden (Max Beheim-Schwarzbach, 1874), eine bis zu Alfred Rosenberg fortwirkende Deutung. Ein 130-seitiger Quellen- und Materialanhang (unter anderem mit einem höchst wertvollen, ausführlichen Namens- und Sachregister zu den "Mémoires" selbst) rundet die Studie ab.
Rosen-Prest hat eine sehr aspektreiche, durch die Berliner Archivstudien sorgsam abgesicherte Fallstudie zur französisch-deutschen "métissage" in der Frühen Neuzeit geschrieben. Der Wechsel zwischen eher themenorientierten Partien (Erfassung von Adel, Kunst- und Bildungsakteuren des Réfuge, die Wirtschaftsstimulation) und eher auf die Mittel der Konstruktion abstellenden Teilen (Sprache und Bebilderung der "Mémoires") stehen im dritten Teil etwas unverbunden nebeneinander. Die auf den Seiten 271-276 eingeschaltete Anlehnung an die Theorie (politischer) Mythen (Mircéa Eliade, Christian Amalvi, Raoul Girardet) dient zwar zur Titelgebung dieses Teils, es ist aber nicht recht ersichtlich, wie hieraus im Folgenden interpretativer Mehrwert geschlagen worden wäre. Demgegenüber ist es erstaunlich, dass Rosen-Prest der Sache nach laufend über Erinnerung, kollektive Gedächtnisbildung, (Gruppen-)Identitätsformierung und -abgrenzung schreibt, auch das Verhältnis zum Textgenre der "Mémoires" reflektiert, nirgends aber Fühlung mit der einschlägigen konzeptuellen Literatur nimmt, sei es von Maurice Halbwachs, sei es mit dem Namen Jan Assmanns verknüpften Boom der Gedächtnis-Thematik oder mit soziologischen Ansätzen zur Gruppenidentität.
Nichtsdestoweniger ist das durch Index und detailliertes Inhaltsverzeichnis trotz seines Umfangs leicht erschließbare Buch ein wichtiger Beitrag nicht nur im Sinne einer Text- oder Literaturgeschichte, sondern im Sinne der Kultur- und sogar der Sozialgeschichte des brandenburgisch-preußischen, insbesondere des Berliner Réfuge.
Cornel Zwierlein