A. I. Solženicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995), Bd. 1. [Dt. Ausgabe: "Zweihundert Jahre zusammen". Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916, München: Buchverlage Langen Müller Herbig 2002, 560 S., ISBN 3-7766-2287-3, EUR 34,90.], Moskau: Russkij put´ 2001, 512 S., ISBN 978-5-85887-110-1
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A. I. Solženicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995), Bd. 2. [Dt. Ausgabe: "Zweihundert Jahre zusammen". Die Juden in der Sowjetunion, München: Buchverlage Langen Müller Herbig 2003, 608 S., ISBN 3-7766-2356-x, EUR 39,90.], München: Herbig Verlag 2002, 552 S., ISBN 978-5-85887-151-4
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Richard Overy: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. 24. August bis 3. September 1939. Aus dem Englischen von Klaus Binder, München: Pantheon 2009
Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München: Oldenbourg 2006
Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941-1953, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008
Die Identifizierung der russischen Revolution und des Bolschewismus mit dem Judentum gehört zu den Lieblingsthesen der russischen Rechten. Auf diese Weise versuchen sie, das Jahr 1917 zu "entrussifizieren". Die Zerstörung der Zarenmonarchie wird als Werk der so genannten "Russlandhasser", in erster Linie der Juden, gedeutet. Sie hätten das zarentreue und gottesfürchtige russische Volk durch revolutionäre Propaganda vergiftet und gegen die Obrigkeit aufgewiegelt. Gut und Böse werden auf diese Weise säuberlich, nämlich nach Rassen, voneinander getrennt.
Welche Rolle spielten die Juden aber wirklich in der russischen Revolution? Wie stark trugen sie zur Auflösung des Zarenregimes bei? Wie eng war die Beziehung zwischen dem Judentum und dem Bolschewismus? All diese Fragen stehen im Mittelpunkt der vorliegenden zweibändigen Monografie Aleksandr Solženicyns.
Das Buch stellt eine Art Synthese aus Apologie und Anklage dar. Im ersten Band verteidigt der Autor leidenschaftlich das "beleidigte und erniedrigte" Zarenreich gegen seine "voreingenommenen" Kritiker, wobei mit besonderer Vehemenz die Kritik von jüdischer Seite angeprangert wird. Im zweiten Band befasst sich der Verfasser in erster Linie mit der jüdischen Schuld an der russischen Katastrophe und klagt leidenschaftlich an.
Im apologetischen Teil des Buches neigt der Autor fortwährend zur Relativierung und Verharmlosung der restriktiven Politik der zarischen Regierungen in Bezug auf die jüdische Bevölkerung des Reiches. Diese relativierende Tendenz erstreckt sich auch auf die Darstellung der Judenpogrome. So wendet sich Solženicyn vehement gegen die in der Literatur oft vertretene These, die Judenpogrome seien von manchen zarischen Behörden mitinitiiert worden, um die Unzufriedenheit der sozial benachteiligten Unterschichten auf den altbewährten "Sündenbock" abzulenken. Diese These habe mit der Realität nichts zu tun, so der Autor. Sie sei von "Russlandhassern" unterschiedlicher Couleur, in erster Linie von Juden, erfunden worden. In Wirklichkeit seien Judenpogrome Ausdruck eines spontanen Volkszorns gewesen. Die erste große Pogromwelle, die nach der Ermordung des liberalen Zaren Alexanders II. stattfand - der Zar wurde von der Terrororganisation "Narodnaja Volja" ermordet, in der die Juden keine nennenswerte Rolle spielten -, sei durch die Wut der Bauern in den westlichen russischen Gouvernements ausgelöst worden, die seit langem durch jüdische Pächter ausgebeutet worden seien. Kommentarlos zitiert Solženicyn in diesem Zusammenhang die Aussage des Schriftstellers Gleb Uspenskij: "Die Juden wurden gerade deshalb geschlagen, weil sie aus der Not und aus der Arbeit der anderen Kapital schlugen, weil sie nicht mit der eigenen Hände Arbeit für das tägliche Brot sorgten" (Band 1, Seite 193).
Auch der verheerende Pogrom von Kišinev im Jahre 1903 sei die Folge eines spontanen Ausbruchs des Volkszorns gewesen, so der Autor. Hier habe das Gerücht über einen "jüdischen Ritualmord" die Rolle eines Auslösers gespielt.
Was die Pogrome von Kiev und Odessa (1905) anbetrifft, sei die Volksseele zum Kochen gebracht worden, weil revolutionär gesinnte Juden die für die Massen heiligen religiösen und politischen Symbole geschmäht hätten. Für jeden Pogrom hat Solženicyn also eine Erklärung parat.
Und er hält es sogar für nötig hervorzuheben, dass nach der Ermordung des russischen Ministerpräsidenten Petr Stolypin (September 1911) kein Judenpogrom stattgefunden hat. Dass die jüdische Presse dieses Faktum nicht gebührend würdigte, hält der Verfasser für ein unverzeihliches Versäumnis.
Die zarischen Ordnungskräfte werden vom Autor sehr milde bewertet. Er wirft ihnen gelegentlich Unfähigkeit, aber keineswegs bösen Willen vor. Und alle, die dies tun, werden von ihm in die Kategorie der "Russlandhasser" eingeordnet.
Allmählich wechselt Solženicyn aber den Ton. In den Kapiteln, in denen er die Vorgeschichte der russischen Revolution schildert, verwandelt sich die Apologie in eine flammende Anklage. Den Opferstatus der Juden im Zarenreich stellt Solženicyn wiederholt in Frage. Um so deutlicher hebt er aber ihre Rolle als "Täter" hervor, als Zerstörer der Grundlagen, auf denen das alte Russland basierte.
Schon bei seiner Analyse der Pogrome in Kiev und in Odessa entwirft der Autor das Bild von zarentreuen und gottesfürchtigen russischen Volksschichten, die mit Empörung auf die Verspottung ihrer sakrosankten politisch-religiösen Vorstellungen durch jüdische Revolutionäre reagierten. Stimmt aber dieses Bild mit der Wirklichkeit überein? Wohl kaum. Die Revolution von 1905 zeigte, dass die Romanov-Dynastie ihre Verwurzelung in den Unterschichten weitgehend verloren hatte. Diese gingen nun den Weg, den radikale Teile der russischen Bildungsschicht bereits einige Generationen zuvor beschritten hatten. Auch beim einfachen Volk fand eine Erosion des Glaubens an den Zaren statt, und das nun entstandene Vakuum wurde durch den beinahe religiösen Glauben an die heilende Kraft der Revolution gefüllt. Von der Revolution und nicht vom Zaren erwartete nun die Mehrheit der russischen Bauern die Beseitigung aller sozialen Ungerechtigkeiten, vor allem aber die Lösung der Agrarfrage. Bei den Wahlen zur ersten, vor allem aber zur zweiten Staatsduma (1906 und 1907) wählten die angeblich zarentreuen Bauern fast geschlossen revolutionäre und nicht konservative Parteien. So befanden sich große Teile der russischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem revolutionären Taumel. Die bewahrenden Kräfte verfügten nur über wenige Stützen und standen praktisch auf verlorenem Posten.
Warum konzentriert dann Solženicyn seine Aufmerksamkeit, ungeachtet all dieser Tatsachen, in erster Linie auf die jüdische Komponente der russischen Revolution? Warum werden ihre innerrussischen Ursachen nur en passant erwähnt? Die Antwort auf diese Frage gibt der Autor selbst. So beklagt er sich über den maßlosen Idealismus der naiven russischen Intelligenzija, über ihr allzu übertriebenes Solidaritätsgefühl mit den Juden des Zarenreiches: "Die Juden hatten unter [den Zaren] keine Gleichberechtigung erhalten [...] und gerade deshalb kam es [zum Schulterschluß] der russischen Intelligenzija mit ihnen. Ihre Durchsetzungskraft [...] und ihre Begabung haben sich in das russische soziale Bewußtsein eingenistet [...] Wir haben ihre Sicht der russischen Geschichte übernommen" (Band 1, 475).
Mit anderen Worten, Solženicyn spricht nicht von der Russifizierung der jüdischen Intelligenz, von ihrer Anknüpfung an die Ideen Černyševskijs, Pisarevs, Nečaevs und Željabovs, sondern von der Judaisierung der russischen Intelligenzija. Zugleich hält er eine vollkommene Identifizierung der Juden mit dem Russentum wohl nicht für möglich: "Konnten sie sich im geistigen Sinne gänzlich und restlos als Russen fühlen?" fragt er rhetorisch, und fügt noch hinzu: "Konnten die Staatsinteressen Rußlands in ihrem ganzen Umfang und vollen Tiefe zu ihrer Herzensangelegenheit werden? (Band 1, 454)
Zwar weicht der Autor gelegentlich von seinen Postulaten ab. So weist er darauf hin, dass drei der sieben Autoren des Sammelbandes "Vechi" von 1909, der in der russischen Geistesgeschichte eine Schlüsselrolle spielt, Juden waren (460). Dennoch bleibt die Grundtendenz des Buches - die Betrachtung der russischen Juden als eines kaum integrierbaren Fremdkörpers - durch solche Aussagen kaum tangiert. Nicht zuletzt deshalb stellt für den Autor die angebliche Identifizierung der russischen Intelligenzija mit den Juden eine Art Verrat an den nationalen Interessen Russlands dar.
Die Tatsache, dass sich das eigentliche Drama der russischen Revolution nach Ansicht solcher russischer Denker wie Berdjaev, Fedotov, Stepun wie auch der überwältigenden Mehrheit der westlichen Historiker im wesentlichen innerhalb des russischen Staatsvolkes abspielte, bekümmert Solženicyn kaum. Das Buch stellt ohnehin nicht in erster Linie eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern vielmehr ein ideologisches Plädoyer dar, das wohl vor allem der geistigen Erbauung dienen soll. Durch eine partielle "Entrussifizierung" der russischen Tragödie, durch die Verladung der Hauptschuld auf die "Fremden" will der Autor anscheinend das erschütterte Selbstbewusstsein der Nation stärken. Ob die von ihm unternommene Geschichtsklitterung dazu beitragen kann, ist fraglich.
Im zweiten Band der Monografie bemüht sich Solženicyn noch intensiver um die "Entrussifizierung" der russischen Revolution. Nur die demokratische Phase der 1917 begonnenen Umwälzung - die Februarrevolution - ist er bereit, als "russisch" zu bezeichnen. Aber schon in dieser Phase konstatiert er eine verhängnisvolle Rolle der jüdischen Sozialisten, die angeblich das mächtige Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets (ZIK) dazu benutzten, um die Revolution in immer radikalere Bahnen zu lenken. Neben den Juden seien auch andere Nichtrussen - Kaukasier, Letten und Polen - im ZIK überproportional vertreten gewesen. Durch diesen vorwiegend nichtrussischen Charakter der Führung des Sowjets erklärt Solženicyn den für Russland schädlichen Radikalismus dieses Gremiums.
Die wahren Sachverhalte werden durch diese Behauptung des Autors im Grunde auf den Kopf gestellt. Denn gerade dieses angeblich "unrussische" ZIK bemühte sich in den ersten Monaten der Februarrevolution unentwegt um die Eindämmung der radikal-revolutionären Strömung, die damals die von Solženicyn derart verklärten russischen Volksschichten erfasst hatte. Um gemeinsam mit den bürgerlich-liberalen Kräften diese anarchische Woge zu kanalisieren, traten gemäßigte Führer des Sowjets Anfang Mai 1917 sogar in die Provisorische Regierung ein. Und gerade deshalb verlor der Sowjet bei den Massen an Popularität. Den Appellen der gemäßigten Sozialisten, die die Massen zum maßvollen Handeln aufriefen, wurde immer weniger Gehör geschenkt: "Es besteht bei den Massen eine Art instinktiver Furcht, dass die Revolution zu früh ende", sagt in diesem Zusammenhang der erste Außenminister der Provisorischen Regierung Pavel Miljukov: "Sie haben das Gefühl, die Revolution würde fehlschlagen, wenn der Sieg von den gemäßigten Elementen allein davongetragen werde" [1].
Nicht zuletzt deshalb erzielten solche Parolen Lenins wie "Raubt das Geraubte!" oder "Beendet sofort den imperialistischen Krieg!" bei den russischen Bauern und Soldaten eine viel größere Resonanz als Warnungen der gemäßigten Führung des Sowjets vor allzu radikalen Forderungen und Verhaltensweisen.
Die Offenheit Lenins gegenüber allen Stürmen der Revolution sei den dunklen Sehnsüchten der russischen Massen entgegengekommen, schreibt der Philosoph und Akteur der damaligen Ereignisse Fedor Stepun [2]. Und diese seine Beobachtung, die mit den Aussagen unzähliger anderer Zeitzeugen übereinstimmt, zeigt, dass nicht nur die Februarrevolution, sondern, im Gegensatz zur These Solženicyns, auch die Oktoberrevolution als "russisch" zu bezeichnen ist.
Nach der bolschewistischen Machtübernahme schien sich die Situation grundlegend geändert zu haben. Die bolschewistische Führung, in der in der Tat sehr viele Juden, aber auch Letten, Georgier, Polen und andere Nichtrussen vertreten waren, errichtete im Namen des "proletarischen Internationalismus" ein brutales Terrorregiment, von dem sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Landes abwandte. Warum konnten dann die Bolschewiki den Bürgerkrieg letztendlich doch als überlegene Sieger gewinnen und ihre "weißen" Gegner, die im Namen Russlands die "rote" Diktatur bekämpften, bezwingen? Eine einleuchtende Erklärung hierfür gab der russische Sozialdemokrat Fedor Dan, einer der Führer der menschewistischen Partei. Unmittelbar nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges sagte er: Trotz ihrer Unzufriedenheit mit der Sowjetmacht hätten die Bauern um jeden Preis die Wiederherstellung des alten Regimes, das die "Weißen" verkörperten, verhindern wollen. Dies sei für den Sieg der Bolschewiki ausschlaggebend gewesen [3].
Aber nicht nur die Mehrheit der russischen Bauern betrachtete die Bolschewiki als das "kleinere Übel" im Vergleich zu den national-russisch gesinnten "Weißen", sondern auch die nationalen Minderheiten des Landes (sie stellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 56 Prozent der Bevölkerung des Zarenreiches), auch viele Juden. Die "Weißen", die sich für das "einige und unteilbare" Russland einsetzten, lehnten Konzessionen an die nationalen Minderheiten kategorisch ab. Sie waren auf diesem Gebiet wesentlich dogmatischer als die ansonsten doktrinären und intransigenten Bolschewiki. Für diese ihre Starrköpfigkeit mussten die "weißen" Kontrahenten der "roten" Diktatur teuer bezahlen. Aber nicht weniger tragisch war das Schicksal derjenigen Schichten, Nationalitäten und Gruppierungen, die sich für die Bolschewiki als das "kleinere Übel" entschieden. Nach der Niederlage der "Weißen" waren sie gänzlich der Willkür des bolschewistischen Regimes ausgesetzt, das sich jeglicher gesellschaftlicher Kontrolle entzogen hatte. Und auch der Partei, die im Oktober 1917 das bolschewistische Schreckensregiment errichtet hatte, wurde 1936 - 38 infolge des "Großen Terrors" das Rückgrat gebrochen. Zehn Jahre später - während der "antikosmopolitischen Kampagne" - wurden auch die Juden zu einer kollektiven "persona non grata" erklärt. So kannte Russland infolge der bolschewistischen Revolution nur Verlierer. Eine Schicht der Bevölkerung nach der anderen, eine Nationalität nach der anderen wurde vom Regime ausgenutzt und anschließend auf den "Kehrichthaufen der Geschichte" geschickt: arme Bauern, der bäuerliche Mittelstand, Industriearbeiter, Kronstädter Matrosen, zarische Offiziere, Juden, Letten, Georgier und so weiter.
Die Verantwortung für dieses wohl tragischste Kapitel der russischen Geschichte trugen mehr oder weniger alle maßgeblichen Schichten und Nationalitäten des russischen Imperiums, und der Versuch Solženicyns, diese Tragödie in erster Linie auf das Wirken der "nichtrussisch denkenden" Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Juden, zurückzuführen, hat mit einer nüchternen geschichtlichen Analyse wenig zu tun. Viel adäquater charakterisierte die Umwälzung von 1917 und ihre Folgen der Emigrant und Vordenker der ansonsten recht umstrittenen "Smena-Vech-Bewegung" Nikolaj Ustrjalov 1921 schrieb er: "Sie [die Revolution] ist ausgesprochen russisch, ganz in unserer Psychologie und Geschichte verwurzelt. Selbst wenn man mit mathematischer Genauigkeit beweisen würde, wie dies manche zurzeit ohne Erfolg zu tun versuchen, daß 90 % der Revolutionäre Nichtrussen, in erster Linie Juden sind, würde dies den ausgesprochen russischen Charakter der Bewegung nicht widerlegen" [4].
Anmerkungen:
[1] Pavel Miljukov: Rußlands Zusammenbruch, 2 Bde., Stuttgart 1925-26, hier Bd. 1, 25.
[2] Fedor Stepun: Sbyvšeesja i nesbyvšeesja, 2 Bde., New York 1956, hier Bd. 2, 104.
[3] S. Kulešov u. a.: Naše otečestvo, 2 Bde., Moskau 1991, hier Bd. 2, 67.
[4] Nikolaj Ustrjalov: Patriotika, in: Smena vech. Sbornik statej, Prag 1921, 46.
Leonid Luks