Manfred Hettling (Hg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 372 S., ISBN 978-3-525-36273-0, EUR 28,90
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In gewisser Weise dokumentiert dieses Buch eine allmähliche Verschiebung der Perspektive in der deutschen Geschichtswissenschaft. Auf der einen Seite setzt der Herausgeber Manfred Hettling bei der Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der europäischen Volksgeschichten nach wie vor die deutsche Entwicklung als Maßstab, um auf diese Weise doch noch herauszubekommen, ob es nun einen deutschen "Sonderweg" gab oder nicht. Auf der anderen Seite werden unter "Europa" nicht mehr die "üblichen Verdächtigen" Deutschland, Großbritannien und Frankreich verstanden, sondern der Band umfasst neben Deutschland auch Polen, Italien, das Baltikum, Schweden, Tschechien und Serbien. Durch diesen erweiterten Blick zeichnet sich tendenziell eine neue Konzeption ab, die europäische Geschichte der Zwischenkriegszeit zu schreiben.
Den Ausgangspunkt des Bandes bildet eine Setzung des Herausgebers. "Volk als historisches Phänomen" (7) wurde nicht nur in Deutschland als Gemeinschaft konstruiert, sondern auch in anderen Ländern. Und so wie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit eine historiografische Konzeption populär wurde, die "das Volk" als Einheit konstruierte und legitimierte, so seien auch in anderen Ländern Volksgeschichten "zum Teil äußerst populär" gewesen. Der Vergleich könne "die Forschung zur Volksgeschichte in Deutschland anregen", es trete "sowohl das Gemeinsame hervor, das die Attraktion von Volksgeschichte [nun im Singular] ausmachte, als auch das Besondere, das die Volksgeschichte in Deutschland von den entsprechenden Ausprägungen anderswo unterschied" (alle Zitate 25). Nicht in der Volksgeschichte an sich liege die deutsche Besonderheit, sondern in deren spezifischer Ausprägung.
Dieser Ansatz benötigt natürlich eine Definition, was das Gemeinsame einer europaweiten Volksgeschichte ausgemacht haben könnte. Hettling nennt als Erstes die kulturelle Konstruktion von "Volk", die allen Volksgeschichten zu Grunde liege, als Zweites die Tatsache, dass sie historische Legitimationen für Ansprüche des je eigenen Volkes gegenüber Nachbarvölkern liefere. Die Verbindung von Volk und Territorium ist schon kein gemeinsames Charakteristikum mehr, religiöse Faktoren spielen nur am Rande eine Rolle, eine tief verwurzelte Staatlichkeit wirkte sich hemmend auf die Genese einer Volksgeschichte aus, und die Biologisierung sozialer Begrifflichkeiten dekliniert Hettling nur für den deutschen Fall durch.
Damit bleibt in der Einleitung unklar, ob wir es nun mit einer grundlegenden Struktur europäischer Volksgeschichte, nationalen Volksgeschichten oder einfach nur mit dem Volk in der Geschichtsschreibung zu tun haben. Die Frage wird auch durch die übrigen Beiträge nicht geklärt. Die rassische Radikalisierung kann Hettling jedenfalls nur für Deutschland und Serbien / Jugoslawien ausmachen; und die Behauptung, dass es "vor allem politische Neugründungen [waren], die Volksgeschichte hervorgebracht haben", wirkt zumindest für das Beispiel Schweden doch recht befremdlich. Dort hat zwar die politische Linke den "Konflikt um die Deutungskonkurrenz der Volkstradition" gewonnen (beide Zitate 35), aber das hat nicht einmal ansatzweise zu politischen und sozialen Verwerfungen, wie wir sie aus Deutschland kennen, geführt. Die "Volkstradition" - was Hettling auch darunter verstehen mag - war nämlich derart tief in der schwedischen Gesellschaft verwurzelt, dass deren durchaus konfliktträchtige Transformation in einen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat letztlich kaum auf Widerstand der alten Eliten stieß.
Die Autoren des Sammelbandes setzen denn auch eigene Akzente. Zu Beginn analysiert Jörg Fisch die Probleme des Volksbegriffs im Völkerrecht, "Volk" erscheint als eine irrationale Kategorie, die sich immer wieder zwischen das Verhältnis von Staat und Individuen schiebt und für Konflikte sorgt. Willi Oberkrome skizziert dann, als Grundlage für die folgenden Vergleichsfälle, Genese, Spezifika und wirkungsgeschichtliche Aspekte der deutschen Volksgeschichte (bei letzteren reduziert er allerdings die nach dem Kriege wichtige und methodisch-ideell durchaus interessante Arbeit der Dortmunder Sozialforschungsstelle unzulässig auf das vergleichsweise randständige Wirken Gunther Ipsens und Wilhelm Brepohls).
Von den übrigen Autoren können nur drei eine Volksgeschichte ausmachen, die sich am deutschen Vorbild orientiert. Moshe Zimmermann legt dar, wie im deutschen Zionismus die Konstruktion einer Einheit des Volkes über Zeit und ohne Raum dazu dienen konnte, politische Forderungen nach einem Staat Israel zu untermauern. Dabei brauchte paradoxerweise zumindest in Simon Dubnows "Weltgeschichte des jüdischen Volkes" (1925-29) das jüdische Volk gar kein eigenes Territorium mehr, weil es als Volk die höchste Stufe nationaler Entwicklung erreicht habe. Inhaltlich wie psychologisch habe es trotz solcher Sonderfälle Ähnlichkeiten zwischen der zionistischen und der revisionistischen Volksgeschichte gegeben. Zwar könne man persönliche Beziehungen von "in Deutschland ausgebildeten jüdischen Historikern zu den Historikern und Institutionen der Volksgeschichte" nachweisen (119), doch die relevanten Elemente sowie Methoden und Inhalte der Volksgeschichte fungieren offenbar - letztlich bleibt Zimmermann in seinem Urteil vorsichtig - "als Hintergrund für eine national-jüdische Volksgeschichte" (119).
Jan Piskorski arbeitet Ähnlichkeiten zwischen der deutschen Ost- und der polnischen Westforschung heraus, unter anderem die Verbindung von methodischer Innovation, politischer Propaganda und Antisemitismus, einer Fixierung auf das "Volk" und die Wertschätzung autoritärer Regierungsformen. Allerdings schränkt er den Befund mehrfach ein: Die Hauptströmung der Westforschung muss man als eher traditionellen Nationalismus mit antideutscher Stoßrichtung verstehen, nur ein kleiner radikaler Flügel näherte sich der deutschen Volksgeschichte in ihrer völkischen und rassistischen Form an, zudem blühte die Westforschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig auf, hatte dann aber seine völkischen Elemente weitgehend verloren. Allein Holm Sundhausen macht in seinem Beitrag für Serbien eine Volksgeschichte aus, die der deutschen entspricht.
Für Italien und Frankreich konstatieren Christian Jansen und Lutz Raphael aus unterschiedlichen Gründen eindeutig negative Befunde. Der italienische Faschismus konnte mit Rassismus und völkischem Denken nichts anfangen, zum einen, weil der Staat, nicht das Volk, als autonome und geschichtsprägende Kraft begriffen wurde, zum andern lief "die imperiale Zielvorstellung des Faschismus [auf] ein multiethnisches Weltreich nach dem Vorbild des antiken Rom" hinaus (146). In Frankreich blieb der Staat eine starke Kategorie, die französische Kultur wurde als eine Art plastisches Gebilde verstanden, das andere Kulturen kraft seiner Überlegenheit mühelos assimilieren konnte, und das Vichy-Regime erwies sich als zu schwach, eine rassistisch-völkisch ausgerichtete Geschichtsschreibung zu etablieren. Weitgehend negativ fällt der Befund auch für das Baltikum (Anna Veronika Wendland) und für Tschechien (Peter Haslinger) aus.
Bo Stråths Aufsatz über Schweden eignet sich hervorragend als komprimierte Einführung in die spezifisch schwedische Gesellschaftsverfassung, deren Konturen in Deutschland nach wie vor recht unbekannt sind. Darüber hinaus zeigt Stråth, dass das, was man in Schweden Volksgeschichte nennen könnte, im Grunde mit der Gesellschaftsverfassung zusammenfällt, der Vorstellung, dass man bereits seit dem Mittelalter eine Gemeinschaft aus Volk und Königen bilde. Zwar ging es in den 1930er-Jahren darum, die sozialdemokratische Version des Sozialstaates zu legitimieren, und dazu eignete sich gut die idealisierte Vorstellung einer tief verwurzelten Volksgemeinschaft, doch der "Zusammenschluß von König und Volk stellte als historische Schicksalsgemeinschaft ein anderes Sozialmodell dar als die Volksgemeinschaft in Deutschland" (193). Und so sind auch - trotz gewisser äußerlicher Ähnlichkeiten - die deutsche Volksgeschichte und die schwedische Historiografie, die das folk in den Mittelpunkt stellte, in Zielen und Wirkungen grundsätzlich verschieden.
Letztlich scheint mir die Anlage des Bandes - den eine Analyse von Otto Brunners Werk schließt (Reinhard Blänkner) - verfehlt. Ihm liegt das Prinzip der klassischen deutschen Nationalgeschichte zu Grunde, wenn nun auch in der Form eines europäischen Vergleichs. Statt aber den deutschen Fall zum Vergleichsmaßstab zu erheben, wäre es sinnvoller gewesen, gleich eine europäische Perspektive einzunehmen. Dann hätte die Fragestellung gelautet: Wie wurde in verschiedenen Nationen oder Regionen historiografisch auf die fundamentalen Verwerfungen und Herausforderungen der Moderne reagiert? Auf diese Weise hätten transnational strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden können, und es wäre deutlicher geworden, inwieweit die europäischen Geschichtswissenschaften Teil des europäischen Weges in die Moderne gewesen sind - ohne dass die nationalen Besonderheiten dadurch nivelliert worden wären. Der Weg dorthin wird von diesem Band immerhin geebnet.
Thomas Etzemüller